Frankfurter Rundschau 25.08.2011

Autor:  Jörg Schindler

Als ein Erzieher aus Witten in Verdacht gerät, sich an Kleinkindern zu vergehen, ermitteln die Kriminalbeamten auf fragwürdige Weise. Und den Eltern wird geraten, die Anzeige zurückzunehmen. Sie sind entsetzt.

Witten –  Es ist der Nikolausabend des letzten Jahres, als Michael und Claudia Zimmer* den Boden unter den Füßen verlieren. Gerade will der Vater seiner Tochter Paula den Schlafanzug überstreifen, als diese auf einmal Herr F. zu ihm sagt. Aber Paula, sagt Michael Zimmer, ich bin doch der Papa. Was ist denn mit Herrn F.? Der steckt mir immer den Finger in die Mumu, das tut weh. Bejamin F. ist Erzieher in Paulas Kindergarten. Paula ist vier Jahre alt.

Die Zimmers sind geschockt. Dann greifen sie zum Telefon, informieren die Leiterin des Kindergartens und andere Eltern. Sie wollen wissen, was da los ist. Sie wollen Hilfe. Und wenn stimmt, was sie zu diesem Zeitpunkt selbst kaum glauben können, dann wollen sie, dass der Täter bestraft wird.

Acht Monate später sitzt Claudia Zimmer in der Küche und sagt: „Ich habe die Kapitulation des Rechtsstaates erlebt.“

Am Freitag wird vor dem Landgericht Bochum die Strafsache 36 Js 533/10 gegen Benjamin F. verhandelt. Es ist ein Fall, der beispielhaft zeigt, wie sexueller Missbrauch Behörden, Ermittler und sogenannte Experten überfordert. Ein Fall, wie er schon hundertfach vor deutschen Gerichten verhandelt wurde – wenn es denn überhaupt zum Prozess kam. Es ist ein Fall, der keine Aufmerksamkeit erregen wird, weil da kein Monster vor Gericht steht, sondern ein gewöhnlicher Päderast.

Selbstanzeige auf dem Revier

Im Advent 2010 überschlagen sich in Witten, wo Paula in den Waldorf-Kindergarten geht, die Ereignisse. Auch Karin Koch, eine Freundin der Zimmers, hat inzwischen von ihrer fünfjährigen Tochter Siri erfahren, dass Herr F. sie mehrfach ausgezogen und an der Scheide geküsst habe. Herr F., der unheimlich nett sei, mache das „bei jedem“, sagt das Kind. Andere Eltern fragen bei ihren Kindern ebenfalls nach. Sie bekommen beunruhigende Antworten.

Benjamin F., 25 Jahre alt, ist zu dieser Zeit bereits vom Dienst suspendiert. Für ihre Tochter sei es eine Horrorvorstellung, diesem Menschen je wieder zu begegnen, sagt Claudia Zimmer. Sie habe Paula versprochen, dass das niemals passieren wird. Am 10. Dezember erstatten sie und Karin Koch bei der Polizei in Witten Anzeige. Kurz darauf übernimmt den Fall das Bochumer Fachkommissariat für Sexualdelikte – kurz KK12.

Noch bevor die Ermittler die Kinder befragen können, eilt ihnen, wie es scheint, das Glück zur Hilfe. Am 14. Dezember erscheint Benjamin F. mit seinem Anwalt auf dem Revier, um Selbstanzeige zu erstatten. Ja, räumt er ein, er habe über einige Wochen Paula ausgezogen und an der Scheide gestreichelt. Vielleicht zehn Mal, vielleicht auch ein paar Mal mehr. Einmal sei dies „intensiver“ gewesen – da habe er dem Mädchen „an der Scheide Küsschen gegeben“. In sie eingedrungen aber sei er nie. Andere Kinder habe er auch nicht missbraucht, sich lediglich „Distanzlosigkeiten“ zuschulden kommen lassen.

Für die Beamten scheint der Fall damit klar. Es gibt ein Opfer. Es gibt einen geständigen Täter. Aber es gibt auch ein Problem. Die Berichte der Kinder nämlich, so weit sie von ihren Eltern wiedergegeben wurden, sprechen eine völlig andere Sprache. Demnach soll sich F. an jedem der neun Kinder in der betreffenden Gruppe zur Mittagsschlafstunde vergangen haben. Da sei mehr gewesen als Streicheln und Küssen. Und das bereits seit dem Jahr 2009. Dann aber handelte es sich hier nicht um einen minderschweren Fall von sexuellem Missbrauch, sondern um schweren sexuellen Missbrauch in unzähligen Fällen. Beim Strafmaß liegen dazwischen Welten. Es müsste der Beginn einer umfassenden, behutsamen Ermittlungstätigkeit sein.

Die Ermittlungen aber übernimmt in diesem Fall zunächst ein Beamter, der den Eltern leichthin mitteilt, dass er erst seit kurzem beim KK12 sei und vorher jahrelang in der Pressestelle der Polizei saß. Fortan häufen sich die Merkwürdigkeiten. Polizisten kündigen sich an, um mit den zum Teil schwer traumatisierten Kindern zu reden – und erscheinen dann nicht. Eine Hausdurchsuchung beim Täter, der noch bei seiner Mutter wohnt, lässt wochenlang auf sich warten, obwohl mehrere Kinder von zwei Handys berichten, die Herr F. immer zur Mittagsstunde repariert habe. Es wäre also durchaus denkbar, dass er Fotos angefertigt hat. Dem Hinweis eines Jungen, dass auch ein koreanisches Mädchen betroffen sei, das schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr den Kindergarten besucht, wird nie nachgegangen. Deshalb wird auch nie geklärt, wann genau Benjamin F. mit seinen Übergriffen begonnen hat.

Die Verwunderung der Eltern steigert sich noch, als im Kindergarten ein Informationsabend stattfindet, an dem auch eine Vertreterin des Jugendamtes, die Leiterin des KK12 und ein Kinderpsychologe aus Herdecke teilnehmen. Zu ihrer Verblüffung erfahren die Eltern dort, dass das Ermittlungsverfahren ihren Kindern schaden könne. Sie sollten sich daher überlegen, die Anzeige zurückzunehmen. Der Psychologe prophezeit, in einem halben Jahr hätten die Jungen und Mädchen das Ganze sicher vergessen. Mehrere Eltern erinnern sich zudem an eine Aussage der KK12-Leiterin, wonach sie im bevorstehenden Prozess ohnehin „keine Chance“ hätten. Von der Kommissariatsleiterin selbst kann man zu diesen Vorwürfen nichts erfahren. Bis zum Prozessende will sich im Polizeipräsidium Bochum niemand zu dem Fall äußern.

„Nach diesem Abend“, sagt Claudia Zimmer, „war mir klar, dass da nicht mehr viel passieren wird.“

Kurz darauf, es liegen mittlerweile mindestens vier Anzeigen gegen F. vor, werden einige Kinder zur Aussage aufs Revier bestellt. Was sich dort abspielt, hält Karin Koch bis heute für skandalös. Eine Beamtin habe ihre Tochter Siri belehrt, dass sie auf keinen Fall lügen dürfe, und gesagt: „Du sollst über Herrn F. nichts erzählen, was nicht stimmt.“ Dann habe man Siri in ein karges Zimmer geführt und sie als Mutter ausgesperrt. Siri sagt an diesem Tag nichts, was Benjamin F. belasten könnte. Nicht, dass sie an der Scheide angefasst und geküsst worden sei. Nicht, dass F. mit Drachen und dem Tod ihrer Mutter gedroht habe. Nicht, dass andere Kinder von ihm berührt wurden. Nichts.

Kein Tatnachweis möglich

Auch Paula, in deren Fall F. geständig ist, kann sich bei der Polizei an nichts mehr erinnern. Sie sei dort erstarrt, sagt ihre Mutter. Allen anderen Kindern geht es genauso. Dass die Eltern die Erinnerungen ihrer Kinder zum Teil per Videokamera aufgezeichnet haben, bringt ihnen nichts. Vor Gericht wären die Filmaufnahmen wertlos, weil ein Manipulationsverdacht nicht ausgeschlossen werden kann. Lediglich das Kindergartenkind Aaron, das etwas älter als die anderen ist, liefert den Beamten verwertbare Aussagen – darunter die, dass er mehrfach von F. am Penis gestreichelt worden sei und dass ihm das wehgetan habe, weil F. so „harte Hände“ habe. Allein dieser Schilderung und dem Geständnis des übergriffigen Erziehers ist es zu verdanken, dass es nun überhaupt noch zu einem Prozess in der Sache kommt. Allerdings, so die Staatsanwaltschaft, habe sich der Tatnachweis des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nicht führen lassen.

Mitte Februar 2011 schreiben sechs Elternpaare, verwirrt und frustriert durch die Ereignisse, dem Polizeipräsidium einen Beschwerdebrief. Zwei Monate später werden sie zu einem Gespräch geladen, dessen Ergebnisse der nun leitende Kriminaldirektor schriftlich festhält. Er räumt in dem neunseitigen Schreiben zwar unumwunden mehrere Ermittlungspannen ein. So habe die Schulung eines Vernehmungsbeamten länger zurückgelegen, ein Kindervernehmungszimmer gebe es nicht mehr, da im alten „weder Raumkonzept noch Technik zeitgemäß“ gewesen seien. Auch die zu späte Hausdurchsuchung rügt der Beamte, überrascht die Eltern aber mit der Auskunft, dass dadurch „vermutlich kein Beweismittelverlust“ entstanden sei. Zudem zeigt er sich überzeugt davon, dass von dem frei herumlaufenden Täter F. „nach polizeilicher Bewertung keine Gefahr ausgeht“. Die Betroffenheit der Eltern sei „verständlich, aber nicht unbedingt sachlich begründet“.

Die Eltern haben sich ihrerseits Notizen von diesem Gespräch gemacht. Sie sagen heute unabhängig voneinander, der Beamte habe sie mit den Worten abgespeist, ihre Kinder hätten „keine Opferwahrnehmung.“ Benjamin F. werde im Übrigen sicher nicht ins Gefängnis kommen. Und: „So ein schlechter Mensch scheint er ja nicht zu sein.“

Claudia Zimmer kann es bis heute nicht fassen. Was sie in acht Monaten erlebt habe, seien „tausende Missstände, Defizite, Verarschungen“. Sie habe den Eindruck, Täter würden hierzulande mehr geschützt als Opfer.

„Ich kenne solche Fälle noch und nöcher“, sagt Ursula Enders von der Beratungsstelle Zartbitter in Köln. Ahnungslose Ermittler, kaltschnäuzige Beamte, hartherzige Richter – das sei bundesdeutscher Alltag, sobald es um den sexuellen Missbrauch kleiner Kinder gehe. Die meisten Beratungsstellen rieten in solchen Fällen daher tatsächlich von Anzeigen ab – und zwar einzig und allein, um die Kinder zu schützen. Der Missbrauch der Allerjüngsten sei in der Praxis oft ein „straffreies Delikt“: Wer Drei-, Vier-, Fünfjährige missbrauche, müsse selten Konsequenzen fürchten.

Dabei wäre es gar nicht so schwer, Tätern auf die Schliche zu kommen, sagt Ursula Enders. Studien belegten schon lange, dass Kinder zwar nicht unbedingt chronologisch exakt von Taten berichten, das Kerngeschehen aber sehr wohl schlüssig schildern können. Dafür freilich bedürfe es geschulter Ermittler, die sich in einem kinderfreundlichen Umfeld behutsam an die Wahrheit herantasten müssten. So steht es auch in einer Handreichung des Bundesjustizministeriums, die bereits unter Ressortchefin Herta Däubler-Gmelin erarbeitet wurde. Den wenigsten Experten ist sie bis heute vertraut.

Lebenslänglich für die Opfer

„Bedrucktes Papier allein reicht nicht“, sagt Christine Bergmann, die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Es sei verblüffend, an wie vielen Stellen im System es hapere. Im vergangenen Jahr hatte die SPD-Politikerin einen ganzen Katalog mit Pleiten und Pannen zusammengestellt. Sie hofft noch immer, dass ihre Nachfolger in Regierungsämtern endlich vernünftige Schlüsse daraus ziehen: „Wir müssen doch Interesse daran haben, dass solche Fälle angezeigt werden“, sagt Christine Bergmann. „Das ist ja sonst fast eine Aufforderung an Täter weiterzumachen“. Den Opfern werde damit ein zweites Mal Gewalt angetan. „Die haben ohnehin schon lebenslänglich.“

In Witten hat sich die Wut daher bis heute nicht gelegt. Dort wissen die Eltern nicht, ob für ihre Kinder die Sache bereits ausgestanden ist. Claudia und Michael Zimmer haben für ihre Tochter Paula, heute fünf Jahre alt, eine Therapie organisiert. Andere betroffene Eltern sind mit ihren Kindern mehrfach in Beratungsstellen gewesen. Eine Mutter hat mit ihrer Tochter einen Heiler aufgesucht, der riet, sofort alle Verbindungen zum bisherigen Leben zu kappen. Aaron, der wichtigste Belastungszeuge im Prozess gegen Benjamin F., ist mit seiner Mutter nach Spanien gezogen. „Hier ist er endlich wieder so, wie er mal war“, sagt sie. Dem Prozess werden beide fernbleiben, es zieht sie nichts mehr zurück nach Witten.

Dort wird Benjamin F. am Freitag vermutlich eine Bewährungsstrafe bekommen. Dann darf er wieder nach Hause. Er lebt sieben Gehminuten vom Kindergarten entfernt.

*Namen von Eltern und Kindern geändert.

Quelle: Frankfurter Rundschau