Für manche Leute ist Gewaltfreiheit eine Taktik oder eine Methode, die man wählt, weil sie eine wirksame Waffe im politischen Kampf ist. Für andere ist Gewaltfreiheit eine Lebensweise, die nicht nur ihr politisches Wirken betrifft, sondern auf mancherlei Weise ihr ganzes Leben beeinflusst. Ob es sich nun um eine Taktik oder eine Lebensweise handelt, immer mehr Menschen sehen in der gewaltfreien direkten Aktion ein wirksames Mittel um Ungerechtigkeiten zu überwinden und für Frieden zu arbeiten. Die gewaltfreie direkte Aktion ist Bestandteil des politischen Selbstverständnisses der DFG-VK. Gewaltfreie direkte Aktionen haben dazu beigetragen, Kriege zu beenden, Gewerkschaften zu organisieren, nationale Unabhängigkeit zu erlangen und Rassismus zu überwinden. Das vorliegende Informationsblatt soll eine kurze Einführung in die gewaltfreie direkte Aktion geben. Der nachfolgende Text wurde im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA entwickelt und auf Veranlassung von Dr. Martin Luther King vom amerikanischen Versöhnungsbund aufgeschrieben und veröffentlicht.

Dieses Informationsblatt wurde mit freundlicher Genehmigung des Internationalen Versöhnungsbundes IFOR (Kuhlenstraße 5a-7, 25436 Uetersen) von der DFG-VK Baden-Württemberg herausgegeben.

Vier Grundsätze

  1. Definiere deine Ziele
    Ungerechtigkeit und Gewalt umgeben uns überall. Eine einzige Kampagne oder Aktion wird nicht alles beheben können. Wir müssen damit anfangen, ein ganz bestimmtes Unrecht ins Auge zu fassen. Wir sollten in einfacher und klarer Weise darüber diskutieren. Entscheidungen und Verhandlungen während einer Kampagne fallen viel leichter, wenn man klar definiert hat, was das Kurzzeit-Ziel ist (z. B. das Pflanzen eines symbolischen »Lebensbaumes« auf einem Militärstützpunkt) und wie das Langzeit-Ziel aussieht (z. B. die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in der Region).
  2. Sei ehrlich und höre gut zu
    Ein Teil deines Zieles ist die Achtung deines Gegners zu gewinnen. Verhalte dich so dass du diese Achtung verdienst, indem du es peinlich genau nimmst mit der Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein entscheidender Punkt bei der gewaltfreien direkten Aktion ist die Einsicht, dass niemand im Besitz der vollständigen Wahrheit über den Streitfall ist. Bereitwillig zu hören, was deine Gegner über deine Kampagne sagen, ist sehr wichtig, wenn du die wirkliche Wahrheit verfolgen willst. Ebenso wichtig ist es, die Meinung derer zu hören die dir zur Seite stehen. Es hilft dir zu vermeiden, dass die Ungerechtigkeit, die du bekämpfst, durch eine andere Ungerechtigkeit ersetzt wird.
  3. Liebe deine Feinde
    Ohne Rücksicht darauf, wie tief manche Leute in ungerechte und gewalttätige Systeme verwickelt sind, muss es doch dein Ziel sein, diese Systeme aufzulösen und nicht andere für das Unrecht das sie tun zu bestrafen. Wahre Gerechtigkeit entsteht dann, wenn die Menschen sich weigern, Unrechtssysteme aufrechtzuerhalten, und nicht, wenn die in diesen Systemen lebenden Menschen vernichtet werden. Die Geschichte hat uns immer wieder gelehrt dass es, wenn man sich auf eine kleine Gruppe als Ursache der Ungerechtigkeit konzentriert, zur Verachtung menschlichen Lebens kommt und sogar soweit fuhren kann dass man die Gründe der Ungerechtigkeit nicht mehr erkennt. Gewaltfreiheit erfordert eine stetige und bewusste Bereitschaft die Achtung vor allen menschlichen Wesen zu trennen von der Missachtung dessen was manche Menschen in einer gewissen Situation tun. Zum Beispiel sind gewaltfreie direkte Aktionen an Kernkraftwerken und in UBoot-Stützpunkten geplant und ausgeführt worden, um herauszufinden, wie verschieden Arbeiter und Anwohner auf diese Aktionen reagieren. Die Teilnehmer dieser Aktionen haben zu vermeiden versucht, Arbeiter und Ordnungskräfte zu verurteilen, lächerlich zu machen oder zu demütigen. Vielmehr sprachen sie mit ihnen in respektvoller Weise, indem sie ihnen ganz offen und direkt die Gründe auseinander setzten die sie bewogen, gegen die Erbauung von Kernkraftwerken oder der Anhäufung von Massenvernichtungsmitteln Widerstand zu leisten.
  4. Halte deinen Gegnern die Tür offen
    Wenn du dich der Gewaltfreiheit bedienst verwendest du eine Kraft, die die Ungerechtigkeit überwinden kann. Vermeide Selbstgerechtigkeit im Umgang mit Gegnern. Nimm Rücksicht auf ihre Schwäche, Verlegenheit und Furcht. Bei einer gegebenen Konfrontation und bei größeren Kampagnen ist es gut sie an der Losung des Konflikts teilnehmen zu lassen. Mach ihnen Vorschläge, auf die sie eingehen können nicht solche die für sie gar nicht in Frage kommen. Mach es ihnen so leicht wie möglich, zu einem Kompromiss mit dir zu kommen, ohne dass sie das Gefühl einer Niederlage haben.

Sechs strategische Schritte

  1. Untersuche die Lage
    Sammle die Fakten. Kläre gleich zu Beginn jedes mögliche Missverständnis. Wenn es klar ist, dass eine Ungerechtigkeit geschehen ist, untersuche genau wer oder was dafür verantwortlich ist. Die komplizierte Gesellschaft von heute erfordert eine geduldige Untersuchung, um genau festzustellen, wer Verantwortung für eine bestimmte Ungerechtigkeit trägt. Die Fähigkeit, eine Sache durch Fakten statt durch große Reden zu erklären, wird Unterstützer gewinnen und Missverständnisse ersparen.
  2. Verhandle
    Setze dich mit deinen Gegnern zusammen und lege ihnen den Fall vor. Vielleicht kann man in diesem Stadium schon zu einer Lösung kommen. Es ist möglich, dass deine Gegner eine Schwierigkeit haben, von der du nichts gewusst hast. Jetzt kannst du es herausfinden. Auch wenn noch keine Lösung möglich ist, lass deine Gegner wissen, dass du die feste Absicht hast, für Gerechtigkeit zu sorgen. Lass sie jedoch wissen, dass du immer verhandlungsbereit bleiben wirst.
  3. Informiere
    Halte Teilnehmer und Förderer der Kampagne stets auf dem laufenden über den Stand der Aktion und informiere auch die Öffentlichkeit. Zu diesem Zweck sollten vielleicht einfache, aber sorgfältig ausgearbeitete Flugblätter herausgegeben werden. Auch Straßentheater Werbeansprachen, Persönliche Besuche von Haus zu Haus, Telefongespräche und Presseerklärungen gehören dazu. Sprich mit dem Redakteur deiner lokalen Tageszeitung und erkläre ihm deine Einstellung. Veranlasse auch andere Briefe an Presse und Regierung zu schreiben. Halte dich immer an die Tatsachen, vermeide Übertreibungen, sei kurz in deiner Ausdrucksweise und zeige guten Willen. Denke daran, dass die Einstellung der örtlichen Bevölkerung zu deiner Kampagne wichtige Auswirkungen auf deren Erfolg haben kann.
  4. Demonstriere
    Mahnwachen, Massenversammlungen und das Verteilen von Flugblättern auf der Straße sind der nächste Schritt. Alle diese Maßnahmen, wenn sie gut organisiert sind, machen auf deine Gegner, auf die Öffentlichkeit, die Presse und die Ordnungsbeamten Eindruck. Diejenigen, die demonstrieren, sollten gut informiert sein und einen kühlen Kopf behalten. Sie sollten imstande sein, auf unangenehme Fragen zu antworten und eventuellen Gewalttätigkeiten ohne Panik und ohne Gegengewalt standzuhalten. In diesem Stadium ist es äußerst wichtig, Disziplin und ruhig Blut zu bewahren.
  5. Leiste Widerstand
    Gewaltfreier Widerstand ist der letzte Schritt der als äußerster Ausweg den vier ersten Schritten hinzuzufügen ist, wenn diese versagt haben. Das kann Boykott sein, ein Fasten, ein Streik, Steuerverweigerung, eine gewaltfreie Blockade oder andere Formen zivilen Ungehorsams. Sorgfältiges Planen und Einübung der Gewaltfreiheit sind Voraussetzungen. Es muss absolute Disziplin gehalten werden, damit dein Widerstand nicht durch gewalttätige Provokationen gefährdet wird. Auf jede Provokation muss ruhig und ohne Vergeltung reagiert werden. Die Öffentlichkeit und die Teilnehmer der direkten Aktion können günstig beeinflusst werden durch eine gut organisierte, ordentlich ausgearbeitete Art des Widerstandes. Ein wesentlicher Teil des gewaltfreien Widerstands ist die Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen. Du musst tatsächlich sagest: »Ich bin so sehr entschlossen, diese Ungerechtigkeit zurechtzurücken, dass ich auch bereit bin zu leiden, um eine Veränderung zu bewirken« statt der viel verbreiteten, aber wirkungslosen Argumentation: »Ich bin so entschlossen, diese Ungerechtigkeit zurechtzurücken, dass ich bereit bin, meinen Gegner dafür leiden zu lassen«. Die Bereitschaft, Gewalt und Leiden auf sich zu nehmen und zu erdulden, kann oft den Ausschlag geben für eine Veränderung. Wenn sich zum Beispiel deine Aktionen gegen Massenvernichtungsmittel wenden, denke daran, dass dein Widerstand sich nicht einfach gegen diese Waffen wendet, sondern auch – und das ist wichtiger – gegen die finanzielle Mithilfe der Bevölkerung zur Anschaffung dieser Waffen und gegen die Ängste, die diese auslösen. Wenn sie gut durchgeführt sind, zeigen Aktionen des Widerstands eindeutig ihre hohe Moral. Das wird auch deinen eigenen Mut stärken, und viele werden deine Kampagne gutheißen.
  6. Sei geduldig
    Eine eindeutige Veränderung kann nicht über Nacht vollzogen werden. Wie zum Bau einer Kathedrale benötigt man dazu Jahre mühsamer Arbeit. Macht man eine gründlichere Analyse der Situation des Unrechts und der Unterdrückung, so wird man gewahr, wie festgefahren die Strukturen sind, die diese hervorbringen. Solche Strukturen können aufgelöst werden; das erfordert jedoch ein langfristiges Engagement und eine wohlausgedachte Strategie. Aktionen von Einzelkämpfern sind viel wirkungsvoller, wenn sie Teil einer gewaltfreien Kampagne sind, die nicht nur einige Monate, sondern Jahre hindurch fortgesetzt wird. Während dieser Zeit wird man manchen Misserfolg erleben und manchmal versucht sein aufzugeben. Deine Arbeit kann unter Umständen nicht nur erfolglos sein, sondern sich sogar negativ auswirken. »Versteife dich nicht auf den Erfolg«, riet Thomas Mann, »sondern auf das, was an der Sache selbst wertvoll, recht, wahr ist«. Um Niederlagen zu überleben und doch weiterzuarbeiten brauchen wir unsere gegenseitige Unterstützung, Vergebung, Phantasie und gelegentliche Feste; dann bleibt unser Kampf eine Tat der Liebe.

Einige praktische Ratschläge

  1. Sei phantasievoll
    Gewaltfreie direkte Aktion ist nicht gleichbedeutend mit Passivität oder Inaktivität. Zeige Phantasie in allen Stufen deiner Kampagne.
  2. Bereite die Teilnehmer deiner Kampagne gut vor
    Gründliche Vorbereitung, besonders für Demonstrationen und Aktionen des Widerstands, wird dazu beitragen, dass eine zielstrebige Gemeinschaft entsteht und sich jeder Teilnehmer sicher fühlt, weil er genau weiß, was geschehen soll. Das wird auch dazu beitragen, mit eventuellen Schwierigkeiten fertig zu werden und Einzelheiten aufzuzeigen, an die man vorher nicht gedacht hat und die stärker beachtet werden müssen.
  3. Verhandle mit dem Gegner
    Viele, die direkte Aktionen unternehmen, vernachlässigen oft einen der wichtigsten Aspekte einer gewaltfreien Kampagne: Verbindung mit dem Gegner zu pflegen. Gewaltfreiheit sollte die Möglichkeit offen halten, den Gegner zu bekehren oder sich mit ihm zu versöhnen. Information und Verhandlung darf nicht aussetzen, nicht einmal in der angespannten und aufregenden Lage einer Demonstration oder einer Widerstandsaktion.
  4. Untersuche Zwischenfälle
    Der Erfolg von Demonstrationen wird immer gesteigert, wenn störende Zwischenfälle in ruhiger, wirksamer und sorgfältiger Weise behandelt werden.

Weiterführende Literatur:
Wolfgang Hertie, Larzac 1971-1981; Der gewaltfreie Widerstand gegen die Erweiterung eines Truppenübungsplatzes in Süd-Frankreich
April Carter; Direkte Aktion; Leitfaden für den Gewaltfreien Widerstand
Theodor Ebert; Gewaltfreier Aufstand Alternative zum Bürgerkrieg
Albert Schmelzer Die Arche; Experiment einer Gesellschaft ohne Gewalt
Günter Gugel/Horst Furtner: Gewaltfreie Aktion; Ein Arbeitsheft
Deutsche Friedensgesellschaft
Vereinigte Kriegsdienstgegner e.V.
Landesverband Baden-Württemberg
Postfach 2144 76009 Karlsruhe