Der Impuls sich selbst zu zerstören ist etwas, was so gut wie alle, die sexuelle Gewalt erfahren haben kennen.
Bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung, bei Depressionen, einer bipolaren Störung oder einer Psychose im Sinne einer „Borderline“-Erkrankung sind selbstverletzendes Verhalten und/oder Suizidalität sogar Kernsymptome.
Aber auch Menschen, die Gewalterfahrungen therapeutisch bearbeitet haben, davon ausgehen, sie in ihre Biografie integriert zu haben und sich im Großen und Ganzen wieder als gesund ansehen, erleben immer wieder Phasen, die von Selbstzerstörungstendenzen geprägt sind.
Manchmal lässt sich sogar kein direkter Auslöser im Alltag dafür finden, diese Impulse brechen scheinbar unvermittelt in das Leben der Betroffenen hinein.
Eine interessante Erklärung hierfür, die die biologische, psychiatrische und psychologische Sichtweise miteinander verbindet gibt Prof. Joachim Bauer, Arzt für innere Medizin, Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie in seinem Buch „Warum ich fühle, was du fühlst“, Heyne Verlag, 12. Auflage, Taschenbucherstausgabe
Auszug, Seite 112 – 115 :
Zitat:
Spiegelneurone als soziale Orientierungssysteme
Das System der Spiegelneurone ist ein soziales Orientierungssystem. Es gibt uns, zumindest in Maßen, Sicherheit im sozialen Umfeld. Und nun wird klar, was es bedeutet, wenn das Orientierungssystem ausfällt, dem wir die Vorhersehbarkeit unseres Umfelds verdanken. Eine solche Situation bedeutet Unberechenbarkeit und Gefahr. In jeder Gefahrensituation aktiviert der Körper eine größere Zahl von Abwehrmechanismen, die zusammenfassend als biologische Stressreaktion bezeichnet werden. Systematischer sozialer Ausschluss ist somit chronischer biologischer Stress, und chronischer Stress ist ein Krankheits- und Selbstzerstörungsprogramm. Biologische Selbstzerstörungsprogramme, die unter bestimmten Bedingungen aktiviert werden, sind ein überall in der Natur anzutreffendes Phänomen. Selbst einzelne Zellen verfügen über die Option, Gene anzuschalten, um die eigene Selbstzerstörung, „Apoptose“ genannt, in die Wege zu leiten. Einen ganz ähnlichen Mechanismus gibt es bei Nervenzellen des menschlichen Gehirns. Überhöhte Konzentrationen körpereigener Alarmbotenstoffe wie Glutamat und Cortisol können den Tod von Nervenzellen bewirken.
Geradezu unheimlich muten psychologisch angebahnte Selbstzerstörungseffekte an, die nach Erfahrungen sozialer Zurückweisung auftreten. Die bekannteste Spielart solcher Programme ist der Suizid (1). Als Suizidauslöser sind seit langem – das wusste bereits Goethe – soziale Kränkungen und/oder der Verlust einer bedeutsamen Bezugsperson bekannt. Erst in den letzten Jahren hat man herausgefunden, dass auch Menschen mit schweren körperlichen
Gewalterfahrungen, bei denen die erlittene Tat zu einer Zerstörung der persönlichen Integrität und des Selbstwertgefühls geführt hat, intuitive (!) Impulse erleben, sich umbringen zu müssen. Bei Personen, die eine traumatische Erfahrung gemacht haben, ist das Risiko
(1) Der Suizid ist nicht das einzige Selbstzerstörungsprogramm, das psychologisch angebahnt wird. Andere Programme, beispielsweise die Sucht, realisieren einen „Suizid auf Raten“.
nachgewiesenermaßen objektiv erhöht, impulsiv Suizidhandlungen zu begehen. Weshalb Suizidalität ? Suizidhandlungen für eine „natürliche“ Folge schlimmer Erfahrungen zu halten, gehört zu jenen impliziten Gedankenlosigkeiten des Alltags, von denen bereits die Rede war, und ist alles andere als eine Erklärung, sondern schlicht eine Binsenweisheit, an die wir uns gewöhnt haben.
Warum also erhöhen Erlebnisse sozialer Enttäuschung, Zurückweisung, Verachtung und Gewalt das Risiko der Suizidalität? Die Antwort könnte darin liegen, dass die negative Erfahrung, die einer Person zugestoßen ist, in ihr ein Handlungsprogramm aktiviert hat und dass dieses Programm nun zu Ende führen möchte, was die erlittene Erfahrung nicht zu Ende gebracht hat: die Zerstörung der eigenen Person. Die Aktivierung eines Programms, das – in der eignen Vorstellung – den vollständigen Ablauf einer Sequenz aufscheinen lässt, die durch eine Erfahrung nur angedeutet bzw. in die Wege geleitet wurde, dies ist die geradezu typische Leistung der Spiegelsysteme.
Nehmen wir eine Extremerfahrung, um deutlich zu machen, worum es geht: Was bedeutet die Tat eines Menschen, der einem anderen schwere Gewalt zugefügt hat?
Welche Handlungsprogramme treten im Opfer nach einem erlittenen Gewaltakt in Resonanz? Eigenartigerweise werden bei Opfern überwältigender Gewalt meist keine Programme für Revanche oder Rache aktiviert (was Außenstehende oft nicht verstehen können). Das „Programm“ einer Gewalttat hat die Botschaft: Du bist nichts wert, ich kann dich behandeln wie eine wertlose Sache, man darf und sollte dich zerstören. Im Verlauf einer
Überwältigungstat geht das Handlungsprogramm des Täters, über die unvermeidliche spiegelnde Aktivierung neuronaler Handlungsprogramme im Opfer, vom Täter auf das Opfer über. Dieser Vorgang läuft komplett unbewusst ab. Auch seine Folgen sind unwillkürlich und dem Bewusstsein entzogen: Wie Traumatherapeuten immer wieder feststellen, spürt das Opfer nach der erlittenen Gewalt eine intuitive Tendenz, selbst das auszuführen bzw. zu Ende zu bringen, was die Tat suggerierte, nämlich eine Suizidhandlung. Erst im Rahmen einer tiefenpsychologisch orientierten Behandlung können wir bei diesen Opfern die unbewusste Identifizierung mit den Vernichtungsabsichten der Täter entdecken und therapeutisch bearbeiten.
Zitatende
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Angelika,
danke für diesen Beitrag. Jetzt kann ich endlich begreifen, was da vor 15 Jahren bei mir ablief. Ich konnte es nie wirklich einordnen, weil – wie du oben sehr gut beschreibst, die Suizid – sehnsucht völlig im Unterbewußtsein entsteht und mit der Jetzt – Situation zunächst nicht im Zusammenhang steht. Was mich interessieren würde, ob dieses Wissen, dass Opfer bei extremen Gewalterfahrungen später selbst ausführen wollen, was ihnen durch die damalige Tat suggeriert wurde, Betroffene helfen würde in genau solchen Phasen? Würde es Suizidgefährdete Betroffene helfen, wenn sie begreifen würden, was da in ihnen vorgeht? Könnten sie die Ursachen anders einordnen und die Projektion der Täter -botschaft zurücklenken auf den Täter???
Sexuelle Gewalt ist Folter und es geht dabei um Demütigung und Vernichtung (und nicht etwa um Triebabfuhr): Das Opfer begreift das intuitiv. Deswegen ist es auch in patriarchalen Kulturen so einfach durchzusetzen, dass sich Vergewaltigungsopfer umbringen (s.dazu das Buch von Mukhtar Mai, die Schuld eine Frau zu sein). Was aber dazu führt, dass sich Opfer dann tatsächlich umbringen, das Werk ihres Täters fortführen, ist die Ignoranz ihrer Umgebung, die das Geschehene leugnet oder verharmlost. Da gibt man dann auf: Und etwas anderes geschieht auch in unserer Gesellschaft nicht. Man kriegt zwar kein Insektengift zur Verfügung gestellt wie Mukhtar Mai, aber man ist mit einer Rechtsprechung und einer allgemeinen Mentaltität konfrontiert, die das Geschehene leugnet oder verharmlost. Auf den Punkt gebracht bedeutet das: Stirb und lass uns in Frieden. Klingt brutal? Ist es anders? Im Großen und Ganzen (noch) nicht.
Nur um das mit den Spiegelneuronen (so interessant es ist) zu relativieren: Es ist nicht bloß eine psychologische, es ist auch eine gesellschaftspolitische Geschichte, die da abläuft.
Hallo Angelika
Auch ich möchte ihnen danken für ihren so wichtigen und so wertvollen Beitrag
Das sind genau die Punkte die ich seid längern in meiner Trauma Therapie bespreche
Es gibt so viele Programmpunkte die bei mir gesetzt worden das es ganz schwer ist sie zu
Erkennen und zu löschen….. Ich habe auch das Gefühl mir immer zu schaden zu müssen
Z.B Schneiden, Verbrennen, Kopf an die Wand schlagen nix oder sehr wenig essen
Dinge machen die dem Körper nur schaden ich kann es nicht alles aufzählen
Aber wenn man das über Jahre reingeprügelt bekommt das man nur Dreck ist dann bleibt einen doch nix anderes übrig es zu glauben und zu den Tätern sagt ja ich habe schuld ich bin das scheiss Kind das keiner will außer zu Misshandeln Vergewaltigen und Quälen
Und da wir Multiple sind ist es so schwer alle innen Personen davon zu überzeugen das es nicht so ist.. Wenn dann noch keine Hilfe von der Mutter kommt und sie sagt immer noch das kann doch alles nicht sein das gibt es doch nicht sie hat nix mitbekommen und ich hätte ja mal was sagen können….Hallo geht’s noch wie denn *grummeln* grade das regt mich so auf
Und was uns noch so sehr beschäftigt es gibt von allem Filmaufnahmen was die mit uns gemacht haben das macht Angst wer das schon alles gesehen hat….
Muss nun Schluss machen für heute wird zuviel alles
Was noch loswerden muss an alle Täter Täterin Mitwisser – Helfer
Das geht auch an die Katholische Kirche und euren ober vertuscher in Rom
Fahrt alle zur Hölle
Jürgen Scherr
Liebe Angelika,
ich danke Dir sehr für diesen Beitrag.
Dieser Selbstzerstörungsimpuls (als immer vorhandenes Gefühl „ich darf nicht leben“) ist auch bei mir einfach nicht kleinzukriegen.
Trotz Therapie und rationalem Verständis habe ich immer, wenn ich mir etwas Gutes tun will (also einfach nur „normal“ zu leben, entspannt zu sein, nette Dinge zu machen), das Gefühl, ich verstoße gegen meine innere Programmierung.
Da half auch Tiefenpsychologie nicht.
Meine neueste Idee: ein schamanisches (?) Heilritual, um symbolisch diesen „Fluch“ aufzuheben. Das kann ruhig „Theater“ sein, ich habe das Gefühl, nur über ein starkes „symbolisches“ Erlebnis diese Sache auflösen zu können.
(Und nein, ansonsten bin ich nicht in der Esoterik-Szene unterwegs und zur Beruhigung: ich denke nicht an Suizid.)
Hat irgendjemand Erfahrung damit? Vielleicht auch im Rahmen einer normalen Therapie ein solches „Ritual“ gefunden, das auch unbewusste Tiefenschichten erreicht?
Oder überhaupt Erfolg mit der Auflösung dieses „Du sollst nicht leben“-Impulses?
Es wäre spannend, davon zu erfahren.
Liebe Grüße, Lena
Hallo,
mir hat dieser Abschnitt in dem Buch auch sehr zu denken gegeben. Erhellend! Und sehr einfühlsam und realistisch beschrieben.
Zu Sarahs Frage :
„Was mich interessieren würde, ob dieses Wissen, dass Opfer bei extremen Gewalterfahrungen später selbst ausführen wollen, was ihnen durch die damalige Tat suggeriert wurde, Betroffene helfen würde in genau solchen Phasen? Würde es Suizidgefährdete Betroffene helfen, wenn sie begreifen würden, was da in ihnen vorgeht? Könnten sie die Ursachen anders einordnen und die Projektion der Täter -botschaft zurücklenken auf den Täter???“
Genau diese Trennung zu vollziehen – hier „Emotionen und Absichten des Täters“ – dort „Meine Emotionen und Absichten als Opfer“ – ist das größte Kunststück in der Therapie.
Welche Methode man dafür nutzt, hängt vom Typ des Patienten und der Flexibilität und der Professionaliät des Therapeuten ab.
„Die“ Traumatherapiemethode gibt es nicht. Leute, die einseitig Therapiemethoden hochjubeln, sind entweder Nutznießer (Anwender oder Ausbilder), naiv oder ignorant, auf jeden Fall nicht professionell.
Manchem hilft „EMDR“ zusammen mit einer tiefen Reflektion des Erlebten, anderen ein kunsttherapeutischer, körpertherapeutischer, systemischer oder psychoanalytischer Ansatz.
Vielem eine Mischung aus allem mit dem Ziel, seine eigene Bewältigungsmethode zu entwickeln („Hilfe zur Selbsthilfe“).
Mir persönlich hat etwas sehr geholfen, was ich zusammen mit einer Patientin entwickelt habe, die ein ähnlicher Typ Mensch ist wie ich:
Negative „Glaubenssätze“ werden im O-Ton aufgeschrieben, das eigene Gefühl, das sie auslösen benannt und notiert, dann was der Täter wahrscheinlich gefühlt und gedacht hat und dann was er, der Täter, hätte besser machen können, um sich seine Absichten und Wünsche zu erfüllen.
Hier geht es darum, sich eine Veränderung im Verhalten des Täters vorzustellen, die seinen damaligen Bedürfnissen entspricht, aber nicht destruktiv ist.
Wenn keine Veränderung gefunden wird, die nicht gleichzeitig schädlich für andere ist, dann ist das auch eine wichtige Erkenntnis über den Täter, die ebenfalls notiert wird.
Diese Überlegung hilft einem Opfer, sich klar zu machen, worin die Schuld des Täters besteht (nämlich darin, seine Bedürfnisse destruktiv auf Kosten eines anderen Menschen auszuleben, anstatt sich eine andere Lösung zu suchen).
Durch diese Beschäftigung mit dem Thema entsteht eine gedankliche und gefühlsmäßige Trennung zwischen meinen Angelegenheiten und Empfindungen als Opfer und denen des Täters. Ich nehme als Opfer die Perspektive des Täters ein, aber aus dem Jetzt und unter den ethischen Grundsätzen, die jetzt für mich gelten. Es entsteht ein neues Bild und das ist auch beabsichtigt.
Das Ganze nutze ich auch bei manchen Patienten, die als Kind mißhandelt und gedemütigt wurden oder eben wie Jürgen Scherr es von sich beschreibt von den Eltern im Stich gelassen wurden.
Das Schlimme ist ja, daß ein Kind die Schuld daran bei sich sucht, aber bei sachlicher Betrachtung die Eltern natürlich versagt haben. Und von dieser Tatsache auf Kosten des Kindes ablenken wollten oder immer noch wollen.
Man kann mit den Sätzen auch allein arbeiten, also ohne Begleitung, dann sollte es einem aber einigermaßen gut gehen. Sonst ist es unter Umständen zu belastend.
Durch die Überlegungen von Prof. Bauer ist mir nochmal klarer geworden, warum es wichtig ist, sich lange und intensiv mit dem Thema „Schuld“ und „Selbstzerstörung“ auseinanderzusetzen.
Daß unser Kollektiv es Gewaltopfern schwer macht, weiterzuleben, so wie Astrid es oben anschaulich beschreibt, steht auf einem anderen Blatt.
Ich habe mir irgendwann vorgenommen, es meinerseits „der Gesellschaft“ nicht zu leicht zu machen, zu Verdrängen und die unliebsame Realität übergriffiger Sexualität auszublenden, wo sie doch so offensichtlich ist.
Das ist für mich eine starke Triebfeder.
Im Grunde habe ich es mit meinem Schweigen meiner Umgebung (Familie, Freunde, Partner, Kollegen) zu leicht gemacht.
Mittlerweile nehme ich auf deren Verdrängungsbedürfnisse keine Rücksicht mehr. Und das wird von denen gut akzeptiert.
Angelika Oetken, Berlin
Hallo Lena,
ich halte sehr viel von schamanischen und anderen traditionellen Ritualen. Sie wurden von unseren Vorfahren über einen sehr langen Zeitraum entwickelt, wahrscheinlich reichen die Ursprünge mehr als 250.OO0 Jahre zurück.
Es ist allerdings so, daß sie da am besten funktionieren, wo sie im ursprünglichen Kontext stattfinden und der, bei dem es angewandt wird diesen Kontext auch versteht. Alles andere ist tatsächlich schnell „Hokuspokus“.
In unserer Kultur sind „Waschen und Tauchen“, „Besprechen“, „Einreiben“, „Handauflegen“ und „Verbrennen“ traditionell verwurzelte Rituale. Einige „Heiler“ aus unserem Kulturkreis verwenden sie. Häufig in traditionellen Gegenden, z.B. Bayern, Ost- und Nordfriesland und in Thüringen.
Einer meiner Patienten hat einmal negative „Glaubenssätze“ rituell verbrannt und trägt die positiven immer bei sich (die hat er selbst formuliert). Es ging im danach besser.
Aber das sollte man nur dann machen, wenn man die Sachen wirklich „durch“ hat und mit ihnen abgeschlossen. Wenn man sie nur noch loswerden will. Andernfalls gibt es wieder neue Schuldgefühle.
Finde Deine Frage spannend und ich fühle mich angeregt, zu „Ritualen“ einmal intensiver zu recherchieren.
Melde mich dann.
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Angelika,
ich habe durch Deinen Beitrag begriffen, daß ich eigentlich jahrelang , Selbstmord auf Raten gemacht habe.
Als Kind wurde ich ( 55 Jahre) 8 Jahre durch meinen älteren Bruder sexuell missbraucht.
Als ich jetzt endlich über mein Erlebtes mit meinem Mann sprechen konnte, war er voll für mich da, stand mir zur Seite und unterstütze mich wo er nur konnte. Ich wollte nicht länger eine heile Welt vorgaukeln und habe dieses
auch meiner Mutter ( 83 Jahre voll fit) erzählt. Sie ist aus allen Wolken gefallen und hat mir auch jede Unterstützung zugesagt.
Meinem Bruder habe ich einen Brief geschrieben und ihm alles an den Kopf geworfen. Die Reaktion kam promt. Sein Rechtsanwalt teilte mir mit, daß alles nicht stimmen würde und dann kam eine Auflistung sämtlicher Strafandrohungen. Was für mich aber das Schlimmste war, ich bekam einen Androhung von Schmerzensgeld für meinen Bruder, wenn ich noch einmal was sagen sollte.
Ich habe meinen Bruder sofort angerufen und ihm gesagt, daß er mich so nicht aufhalten kann.
Dann habe ich umgehend meiner Mutter und meinem Mann den Brief vom Rechstanwalt gezeigt.
Die Reaktion von beiden war sehr schlimm für mich. Ich sollte doch jetzt alles genau überlegen was ich tue. Ich würde schließlich unsere Existens aufs Spiel setzten . Ich könne froh sein, wenn nichts weiter hinterher käme. Ein Buch zu schreiben, daß wäre wohl der bessere Weg. ( Als Mutter hätte ich sofort meinen Sohn angerufen und ihn aufs Schärfste zur Rede gestellt).
Seit dem ziehe ich mich immer mehr zurück und jeder vermeidet mit mir über dieses Thema zu sprechen. Das derzeitige Wetter oder andere Nachrichten sind wichtiger. ( Wahrscheinlich weiß auch keiner , wie er mit mir umgehen soll).
Ich denke, ich bin für meine Familie eine eingeschmuggelte Mogelpackung, die zur Last fällt. Keiner kann was dazu, das es mir so schlecht geht. Es ginge ihnen wohl besser, wenn sich mein Problem mal von alleine löst.
Um in irgendeiner Form was für meinen schlechten Gesundheitszustand zu machen, fehlt mir die Kraft.
Man kommt aus diesem Kreislauf nicht heraus.
Meine Familie ist damit total überfordert. Sie meinen, die hat doch darüber sprechen können und so müßte es ihr doch besser gehen.
Liebe Ursula,
moralisch ist die Reaktion deines Brudes ich sag mal Pfui, rechtlich gesehen ziehst du leider den Kürzeren, dank der bestehenden Verjährungsfrist. Denn, so hart wie das klingen mag, darfst du tatsächlich den Namen des „Täters“ nicht öffentlich nennen, da er dich sonst anzeigen kann, weil die Verjährugsfrist bereits eingetreten ist.
Dass deine Familie nach dem Eintreffen des Rechtsanwaltsschreibens so reagiert, ist sehr schade. Trotzdem würde ich sie immer wieder damit konfrontieren, was das mit dir gemacht hat.
Das ist so, als würde man den Liebsten erzählen, dass man Krebs hat, und damit ist dann die Sache gegessen? Nein!!! Der Krebs ist trotzdem noch real da, so wie die Schäden in dir, die der sex. Missbrauch durch deinen Bruder verursacht haben. Sprich mit ihnen darüber, und bitte sie, dir einfach mal zuzuhören, ohne dich zu unterbrechen. Erzähle ihnen von deinem Schmerz, von deinen Albträumen, von dem Ekel… und worunter du auch noch heute zu leiden hast.
Laß dich nicht in die Ecke drängen mit deinem Schmerz. Verlange von Ihnen, dass sie dich stützen in einer Zeit, in der du ihre Hilfe am Nötigsten hast. Du hast deinen Mann sicher auch die ganzen Jahre zur Seite gestanden, ihm eine „heile Welt“ um seinet Willen vorgekaugelt. Jetzt ist er dran!!! Viel Mut und Kraft wünscht
Sarah M.
Hallo Ursula,
erstmal – mutig, daß Du Dich getraut hast, Deinem Bruder einen Brief zu schreiben und Deinem Mann und Deiner Mutter zu erzählen, was passiert ist.
Die Reaktion Deines Bruders zeigt, wie sehr Du ins Schwarze getroffen hast und wieviel Angst er hat.
Nimm Dir am besten ebenfalls einen Anwalt oder laß Dich von einer Beratungsstelle für Opfer sexueller Misshandlung beraten. Was Du im privaten Rahmen anderen anvertraust ist nicht gleich eine „Verleumdung“ oder „üble Nachrede“.
Falls Dein Bruder irgendwelche Angehörigen hat, sind auch die gefährdet. Ob Ehefrau, Partnerin, Kinder, Stiefkinder, …
Du kannst mit allen private Gespräche über Deine Erlebnisse führen. Briefe würde ich nicht schreiben, da die ja z.B. in falsche Hände geraten könnten.
Wegen „Familie zur Last fallen“:
Sehr wahrscheinlich, daß ein Teil Deiner Familie das so sieht. Aber es ist doch tatsächlich anders herum.
In welcher normal und gut funktionierenden Familie misshandeln Brüder ihre Schwestern sexuell ?
Dein Bruder hat das sicherlich nicht „einfach so“ gemacht – wahrscheinlich ist, daß auch er seinerseits traumatisiert wurde, evtl. durch Eure Mutter, Euren Vater oder eine andere Person. Er hat mit großer Wahrscheinlichkeit nachgemacht, was er selbst erlebt hat.
Ein typisches „Täterprofil“.
Und – selbst wenn der ursprüngliche „Täter“ von außen kam – ist es nicht ein Zeichen von vollkommen unzulänglichem Vertrauen zur Mutter, wenn man ihr nichts erzählt von dem, was einem Schlimmes passiert ist?
Was ist das für eine Mutter, der man so etwas nicht erzählen kann?
Eine Familie, die so geartet ist, nennt man „dysfunktional“. Von Allen, die hier im Forum ihre Geschichten erzählen, haben wohl die Wenigsten „funktionale“ Herkunftsfamilien. „Funktionale“ Familien hätten ihre Kinder nämlich geschützt und ihnen geholfen.
Nicht aus Feigheit und Unfähigkeit im Stich gelassen und dann später alles noch abgestritten.
Mit großer Wahrscheinlichkeit muß Deine Mutter ihren eigenen Anteil und ihre eigene Schuld bei der ganzen Tragödie verdrängen. Deshalb reagiert sie so, wie sie reagiert hat.
Vielleicht ist es auch nötig, daß Du Dich von ihr distanzierst.
Hol Dir Hilfe, es lohnt sich.
Alles Gute wünscht Dir
Angelika Oetken, Berlin
Hallo Angelika,
Das mit der Familie meines Bruders ist eigentlich nicht ohne Bedeutung. Er ist geschieden, hat wieder geheiratet und hat mitlerweile Enkelkinder. Ich habe Sie immer in Gefahr gesehen. Auch hat mein Bruder einen Kinderchor geleitet. Als ich dieses gehört habe, hatte ich aufschreien können, weil ich davon überzeugt bin, daß ich nicht sein einziges Opfer war.
Nur mit seiner jetzigen Frau kann ich nicht sprechen. Sie auf mich total böse, weil ich so einen schlimmen Brief geschrieben habe und Ihren doch so lieben Mann beschuligt habe.
Ich kann mich an eine Situation erinnern. Da hat man erzählt, eine 17 jährige ist von Ihrem Vater sexuell mißbraucht worden und sie hatte ihn endlich angezeigt. Die Reaktion meines Bruders war, daß er gesagt hat, na sie wird es wohl gerne gehabt haben. Und alle haben darüber gelacht. Es ist undbeschreiblich wie ich mich damals gefühlt habe.
Meinen Bruder selber als Opfer , der Schlimmes mitgemacht hat, fällt mir schwer zu glauben. Kann ich aber auch nicht beurteilen, weil ich damals viel zu jung war.
Aber wie Du richtig schreibst, habe ich immer geglaubt, meine Mutter wüßte alles und hat immer nur dafür gesorgt, daß nichts an die Öffentlichkeit kommt. Ich habe imme Prügel bekommen, für mich ohne ersichtlichen Grund. Heute denke ich, sie wollte mich dafür bestrafen, daß mein Bruder sich wieder und wieder an mir vergangen hat.
Heute schwört sie bei Ihrem noch verbleibenden Leben , daß sie nichts gewußt hat. Sie will meinen Bruder, wenn sie ihn sieht mit Nichtachtung strafen. Toll, da habe ich auch was von.
Ich habe nur noch eine Frage. Wo finde ich denn die Beratungsstellen für sexuellen Mißbrauch. Wir wohnen in einem kleinen Dorf und jede größere Stadt ist mindestens 1 Stunde Autofahrt von uns entfernt?
Danke Ursula
Hallo Ursula,
ja, so wie es sich anhört, hat sich Dein Bruder ausreichend Gelegenheit geschaffen haben weiterhin Kinder zu missbrauchen.
Die Reaktion der anderen auf die Äußerung Deines Bruders läßt darauf schließen, daß Du in einem Milieu aufgewachsen bist, in dem Kindern wenig Würde zugestanden wird – Frauen wohl auch nicht.
So etwas ist menschenverachtend.
Deshalb ist es unnötig, Deiner Mutter auch nur ein Wort zu glauben. Ihr Leugnen ist ein Merkmal für eine erhebliche Charakterschwäche. Da nützen auch alle Schwüre nichts… Meist wird selbst erlebte sexuelle Demütigung so abgewehrt. Indem man das Leid des anderen negiert oder herunterspielt, soll das eigene kleiner werden. Was natürlich nicht funktioniert. Man verliert so nur noch das letzte bisschen Selbstwertgefühl.
Bei älteren Frauen mündet das nicht selten in die berühmt-berüchtigte „Jammer-Depression“. Wobei die Leute vor allem sich selbst leid tun.
Mit der jetzigen Frau Deines Bruders würde ich an Deiner Stelle auch nicht sprechen. Sie solidarisiert sich – wird aber den betroffenen Kindern und Enkeln keinerlei Schutz gewähren können. Sie ist selbst zu schwach.
Aber – wie sieht es mit der Exfrau Deines Bruders aus ? Die Ehe wird ja auch nicht einfach so geschieden worden sein.
Haben sie gemeinsame Kinder? Die sind evtl. weitaus aufgeschlossener für Deinen Bericht.
Manchmal ist ein Kind, meistens ein besonders unbeliebtes dabei, das so stark ist, daß es offen gegen den Missbraucher vorgeht. Und die anderen mitzieht.
Wer ist „das schwarze Schaf?“
Wegen einer Beratungsstelle – im Internet einen Suchlauf starten, „Wildwasser“ und „Zartbitter“ haben einige Ableger. Beim Gynäkologen nachfragen, die haben oft Flyer liegen oder in der nächsten psychiatrischen Klinik um Rat fragen. Auch die haben oft Infos da.
Eine zentrale „hotline“ gibt es leider noch nicht. Falls wir hier mal eine Förderung ergattern, werden wir die aber aufbauen. Das wäre ein großer Fortschritt, wie man hier merkt.
Alles Gute wünscht
Angelika Oetken, Berlin