In Bayern wird gerade über Verjährung nachgedacht
Ein Kommentar von Doro
Immerhin der bayerische Justizminister Winfried Bausback (CSU) strebt nach Auskunft verschiedener Medien ein Gesetz an, nach dem Besitzer/innen von NS-Raubkunst nicht mehr in jedem Fall Verjährung von Ansprüchen geltend machen können sollen. Er habe einen Gesetzesvorschlag erarbeiten lassen, wonach jemand, der beim Erwerb „bösgläubig“ war – also wusste, dass die Bilder oder andere Gegenstände, die er kauft oder erbt, ihrem Eigentümer abhandengekommen sind -, sich nicht auf Verjährung berufen kann, sagte Bausback u.a. gegenüber dem SPIEGEL. Dies solle dann auch rückwirkend gelten. „Es wäre für mich schwer erträglich“, sagte Bausback zu dieser möglichen „Lex Gurlitt“, „wenn man Rückgabeforderungen der Eigentümer nun entgegenhalten würde, dass ihre Ansprüche verjährt sind“. (Quelle: taz Online)
Interessant.
Als Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit lese ich diese Worte – nun, sagen wir mal – mit etwas Erstaunen. Kämpfen wir Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit doch schon lange gegen die Konsequenzen an, die die Verjährung der an uns verübten schweren Straftaten nach sich ziehen. Beispielsweise, dass sich Täter/innen und Täterorganisationen wie die Kirchen auf die Verjährung berufen können, wenn es um Aufarbeitung, Gerechtigkeit und Entschädigung geht. Bislang wurde uns mit schöner Regelmäßigkeit erklärt, dass es „im Sinne des Rechtsfriedens“ weder möglich sei, bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder (so genanntem „sexuellem Missbrauch“) auf Verjährung zu verzichten, noch und erst recht nicht, dass dies rückwirkend erfolgen könne. Die Sexualstraftäter in diesem Land sollen sich schließlich auf diesen Rechtsstaat verlassen können. Egal, mit welcher Perfidie sie bewusst das Gesetz gebrochen und ihr Umfeld getäuscht und manipuliert haben. Egal, welche schweren und oft lebenslangen Folgen die Taten für die einzelnen Opfer nach sich ziehen. Egal, welche Kosten diese Sexualstraftäter der Gesellschaft (also den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, Krankenkassenmitgliedern, Rentenversicherten, usw.), die die Traumafolgeschäden in den von ihr finanzierten Sozialsystemen auffangen muss, aufhalsen. Egal, ob selbst international anerkannte Menschenrechtsanwälte Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder einen „schwerwiegenden Makel des deutschen Rechts“ nennen.
Mit schöner Regelmäßigkeit und selbstverständlich dem politisch korrekten Ausdruck des Bedauerns wurden erwachsene Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit bisher seitens der Politik, seitens der Täterorganisationen (wie beispielsweise Kirchen, Heime, Internatsschulen usw.), seitens der Justiz und vieler anderer mehr darauf verwiesen, dass man aufgrund von Verjährung die Täter „leider“ nicht mehr belangen und die entstandenen Schäden „leider“ nicht mehr entschädigen könne. Egal, wie oft wir darauf hinwiesen, dass unser so spätes Erinnern und Schweigenbrechen eben genau mit den Taten und den daraus resultierenden Traumafolgen (wie beispielsweise Amnesien), aber auch (falschen) Schweigegeboten, Scham und mangelnder Bereitschaft der Gesellschaft/des Umfelds, von den Taten wirklich Kenntnis nehmen zu wollen (Beispiel: Odenwaldschule, Huckele, Frankfurter Rundschau 1999), zusammenhängt. Nichts konnte bisher die Verjährung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder einer grundsätzlichen Überarbeitung zuführen.
Lese ich nun die Ausführungen des bayerischen Justizministers zur „Lex Gurlitt“, dann frage ich mich natürlich, warum ist im Falle von Bildern etwas möglich, was anscheinend im Falle von Kindern nicht möglich ist? Warum es im Falle der Bilder auch nach teilweise mehr als sechzig Jahren möglich sein soll, Ansprüche geltend zu machen, bzw. Verjährung auszuhebeln, während das im Falle von Kindern, die als Erwachsene nach dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahren Ansprüche geltend machen wollen, nicht möglich sein soll? Wieso sollen sich Besitzer/innen von NS-Raubkunst in bestimmten Fällen nicht auf Verjährung von Rechts- und Ausgleichsansprüchen berufen können, Kindesmissbraucher/innen und ihre Mitwisser(organisationen) aber schon?
Doch wollen wir die Sache nicht bloß negativ sehen: Die Gedankengänge von Herrn Bausback zeigen uns ja auch, dass es durchaus möglich ist, über einmal beschlossene Verjährungsregelungen neu nachzudenken, um sie aktuellen Entwicklungen und Einsichten anzupassen. Und sie zeigen, dass dies sogar rückwirkend wirksam werden kann. Was für Bilder gelten kann, kann für Kinder/Menschen nicht ausgeschlossen sein. Wenden wir also Bausbacks Argumentation im Falle der so genannten Gurlitt-Bilder auf die Frage der Verjährung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder an. Schon der erste Satz könnte vielen heute erwachsenen Betroffenen von sexualisierter Gewalt während der Kindheit Hoffnung machen: „Täter/innen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder sollen nicht mehr in jedem Fall Verjährung von Ansprüchen geltend machen können.“ Welch ein Statement! Und so hoffnungsvoll ginge es weiter: „Täter/innen, die die sexualisierte Gewalt gegen Kinder „bösgläubig“ verübten – also bewusst ihren Informationsvorsprung, ihre Macht und Autorität als Erwachsener ausnutzten, um sich Schwächerer zur Befriedigung der eigenen (sexuellen und nichtsexuellen) Bedürfnisse zu bemächtigen, und dabei auf Manipulation, Herbeiführung von Gelegenheiten, Täuschung des Umfelds, Einschüchterung des kindlichen Opfers und die traumatische Wirkung ihrer Straftaten setzten, um einer Strafverfolgung zu entgehen –, sollen sich nicht auf Verjährung berufen können.“ So schlicht, so wirkungsvoll. Das Beste aber: „Dies soll dann auch rückwirkend gelten.“ Denn, so könnte Herr Bausback oder jede/r andere Justizminister/in zu dieser möglichen „Lex sexueller Kindesmissbrauch“ sagen: „Es wäre für mich schwer erträglich, wenn man Gerechtigkeits- und Entschädigungsforderungen der Opfer entgegenhalten würde, dass ihre Ansprüche verjährt sind“. Eben!
Bayerns Justizminister plant „Lex Gurlitt“
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Verjährungsfristen
Danke Doro, dieselben Gedanken kamen mir soeben bei den Nachrichten über die ‚Lex Gurlitt‘!
Hier ist der Gesetzgeber gefragt: auch die “ Verjährungsfristen für interpersonelle Gewalt sind im Zivilrecht und im Strafrecht daher ganz aufzuheben.“
Vielen Dank für diesen großartigen Text. Genau so ist es bzw. sollte es sein.
Das ist doch mal eine Argumentationsgrundlage.
„man denkt drüber nach“…
wenn du denkst du denkst, dann denkst du nur du denkst …
Denken aber nicht handeln … altes Spiel.
Hubert, nein: Der Denkanstoß ist da, wird aufgegriffen und wird von Hirn zu Hirn, von Herz zu Herz, von Hand zu Hand weiter gegeben – wie der Ballon in Stuttgart – wie die Verjährungsfrage um die Nazibeute …
Die geniale „Argumentationsgrundlage“ kommt vermutlich bei jedem Menschen anders an, und immer noch gilt:
Erst denken, dann handeln – andersrum geht ’s nicht …
Die Welle um jene ‚Lost Art‘ wird nicht ohne eine neue Welle um unsere ‚Lost Lives‘ bleiben!
Unter http://www.kontextwochenzeitung.de/pulsschlag/138/versteckt-und-vergessen-1851.html fand ich nach Doros Hinweis dies:
Dietrich Heißenbüttel reflektiert im taz-kontext Pulsschlag – ‚Wie eine Region tickt‘. Was er von den Künstlern der „verschollenen Generation“ über Stuttgart und Umgebung berichtet, das gilt ganz allgemein für die schlimme Entwicklung, die nach den unseligen Kriegen die Demokratie in ganz Deutschland genommen hat:
Der rasante Wiederaufbau verdrängte erfolgreich die Auseinandersetzung mit der allzu schrecklichen Vergangenheit, und zwar in jeder Familie! … bis heute hat sich diese Situation noch immer nicht grundlegend geändert, siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs!!!
Schön zu wissen, dass dann, wenn es darum geht, offensichtliche Inkompetenz v. Ermittlungsbehörden zu kaschieren bzw. in der Hoffnung baldigst Milliardengeschäfte mit Kunst anzustoßen, mit fragwürdigen Ansichten eine rückwirkende Abschaffung v. Verjährung zu fordern.
Auch wurde das fragwürdige Verfahren 2 Jahre lang der Öffentlichkeit vorenthalten bzw. keine Sachverständige hinzugezogen, um den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe zu prüfen, das es sich hier um Nazi-Raubkunst handelt, und die Medien in einer Kampagne übertreffen sich nun darin, wie es juristisch korrekt möglich sein könnte, dem Beschuldigten die heute mehrere Milliarden Euro wertigen Bilder zu nehmen.
Natürlich, wenn da etwas mit Teilen der Bildersammlung nicht in Ordnung wäre, dann sollten betreffende Bilder an diejenigen zurückgegeben werden, denen diese zu einem Butterbrotpreis abgenötigt wurden, aber, es geht hier wohl einigen darum, sich einer milliardenwertigen Sammlung zu bemächtigen, wo schon jetzt, ohne Beisein kompetenter Sachverständiger hunderte Bilder zurückgegeben werden müssen, die dem Beschuldigten offenkundig rechtmäßig gehören.
http://www.heise.de/tp/artikel/40/40365/1.html
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/muenchner-kunstfund-staatsanwaltschaft-will-gurlitt-bilder-zurueckgeben-a-934474.html
Es kommt allmählich so vor, als wenn hier ein Markt damit geschaffen werden soll, ein Enteignungsprogramm zu initiieren, um mit blossen Behauptungen über Dachbodenfunde/Bildersammlungen, Kasse zu machen.
Klar, die sichergestellten 1.400 Bilder haben heute einen Milliardenwert. Das streite ich nicht ab, nur zur damaligen Zeit war für die Zukunft ein solcher Wert nicht abzusehen.
Und jetzt der Aufschrei bei 1.400 Bildern? Wo blieb der Aufschrei, als Juristen/leitende Herrschaften bei SA/SS/Gestapo/am Reichsgericht in leitende Positionen in der Bundesrepublik übernommen worden sind? Von dem anderen wie Rattenlinie etc. mal ganz zu schweigen!
Aber, gut zu wissen, dass die Bundesregierung dazu bereit ist, die Abschaffung v. Verjährungsfristen wohlwollend zu prüfen. Für die Zukunft ist es angebracht, daran hier und da, wo es nötig erscheint, trotzdem zu erinnern! 😉
Eine Einzelforderung ist ymbolisch. Benötigt wird aber ein ganzes System von Verbesserungen.
Was nützt die Aufhebung der zivilrechtlichen Fristen einem Opfer, wenn es nach 50 Jahren gut 3000 Euro erstattet bekommt, die aber in Form von Kosten einer Therapie nachweisen muss? Ist das eine ausreichende Kompensation für die erlittenen Beeinträchtigungen im Leben?
Was nützt die Aufhebung von strafrechtlichen Fristen, wenn die Täter schon jetzt nur ein paar Monate Gefängnisstrafe erhalten, einen Freispruch (weil das Opfer ja nicht geschrieen hat) oder eine Bewährungsstrafe?
Was nützt ein Prozess nach all den Jahren, wenn Betroffene keine Einsichtsmöglichkeiten in Akten haben?
Was nützt ein Prozess, wenn alle Beteiligten sagen können: Klar habe ich von den Verbrechen was gehört und gewußt. Ja, ich habe den Täter geschützt. Mir hat kein Gesetz gesagt, dass ich dem Opfer helfen muss.
Um eine wirkliche Verbesserung für die Betroffenen von sexueller und sonstiger interpersoneller Gewalt herbeizuführen, muss es eine Reihe von entscheidenden Verbesserngen geben.
Danke für diesen ausgezeichneten Kommentar.
@ Noch-ein-Leserkommentar
Obwohl ich deinem Kommentar 100% zustimmen könnte, sollte man nicht vergessen, dass sexuelle Gewalt nur ein Delikt ist von ganz vielen.