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Fegert nennt Missbrauchsopfer „Lügner“

Der wissenschaftliche Berater der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs und Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm, Prof. Jörg Fegert, nannte in einem Interview sexuell Missbrauchte als Beispiele für krankhaftes Lügen.

In dem Interview für die Jugendseite der SÜDWEST PRESSE (Ausgabe vom 02.11.2010) ging es um das Thema Lügen: Ab welchem Alter man lügt, ob Frauen eher lügen als Männer oder wie man Lügner erkennt. Es ging NICHT um das Thema sexueller Missbrauch von Kindern.

Auf die Frage „Wann wird Lügen krankhaft?“ antwortete der Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm und wissenschaftlicher Berater der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Prof. Jörg Fegert:

„Es gibt Menschen, die fast in jeder Lebenssituation lügen. Sie haben häufig jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt und mussten lügen und vertuschen. Wenn wir solche Kinder oder Jugendliche auf Station haben, erwecken sie erst ein enormes Mitleid in der Gruppe, dann spaltet sich die Stimmung aber und am Schluss mag sie keiner. Hinzu kommt, dass man ihnen auch tatsächliche Ereignisse nicht mehr glaubt.“

Dazu erklärt netzwerkB:

Wenn etwas betroffenen Kindern oder erwachsenen Überlebenden von sexuellem Missbrauch GANZ SICHER den Mund verschließt, dann ist es ihre Angst, Lügner oder Lügnerin genannt zu werden. Und nun stellt ausgerechnet ein Psychologe, der noch dazu als Berater der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung als „Kronzeuge“ für das Thema gilt, eine Verknüpfung her zwischen „Lügen“ und „sexueller Missbrauch“. Mit fataler Wirkung.

Fakt ist: Wer sexuellen Missbrauch erlebt, ist Opfer von Sexualstraftätern. Das wird leider viel zu oft vergessen. Auch die Aussage von Prof. Fegert verschleiert, dass die Menschen, die er hier als Beispiele für „krankhaftes Lügen“ nennt, in ihrer Kindheit Opfer von Straftaten waren.

Menschen, die jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, noch dazu als Kind, sind ähnlich wie Menschen, die Folter oder andere Gewaltverbrechen überlebt haben, häufig schwer traumatisiert. Ihr möglicherweise besonderes Verhalten muss daher zuallererst als Folge der erlittenen Straftaten, bzw. Traumareaktion verstanden werden.

Dass dies bis heute selbst in Fachkreisen nicht so ist, zeigt diese Aussage. Bis heute werden trotz aller Erkenntnisse aus der Hirnforschung, der Traumafolgenforschung und selbst der medizinischen Forschung Menschen, die jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, pathologisiert, psychiatrisiert und falsch behandelt.

Die Traumaforschung weiß längst: Verrückt ist nicht das Traumaopfer. „Verrückt“ ist die Situation, mit der es konfrontiert ist oder war. Was wie „lügen“ und „vertuschen“ aussieht, kann in Wahrheit schweigen aus Angst oder ein verschlüsseltes Signal der Not sein. Abspalten (Dissoziieren) ist eine typische und häufige Reaktion auf traumatischen Stress, und keinesfalls mit „lügen“ gleichzusetzen. Will die Gesellschaft und die Fachwelt Kindern, die jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erleben oder erlebt haben, wirklich helfen, dann muss sie zuerst ihren Blickwinkel ändern.

In der Antwort Fegerts wird deutlich, wie sehr das Ausblenden der Wahrheit den Blick auf die Missbrauchsopfer noch immer trübt. Sie werden als scheinbar unehrlich und manipulativ dargestellt. Der Leser nimmt wahr, dass sie zwar Mitleid erwecken, dieses aber nicht verdienen. Es wird den Eindruck vermittelt, dass derjenige, der Mitleid mit Missbrauchsopfern empfindet, eigentlich Opfer einer geschickten Manipulation ist. Betroffene werden zu asozialen Geschöpfen, vor denen sich normale, gutgläubige Menschen besser in acht nehmen sollten. Damit sät und nährt Fegert Misstrauen und Abwehr gegenüber Missbrauchsopfern. Und beschädigt so alle Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch.

Die Antwort zeichnet zudem ein Bild von den Betroffenen, das mit deren Realität nur wenig gemein hat. Die meisten von ihnen treffen nämlich nicht auf „enormes Mitleid“, sondern im Gegenteil auf Abwehr, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Ihnen werden „tatsächliche Ereignisse“ bereits von Anfang an nicht geglaubt, aber nicht, weil sie „lügen“, sondern weil sie eine Wahrheit anzubieten haben, die niemand hören will.

Auch der Berater der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs trägt mit dieser Antwort dazu bei, die Wahrheit zu verschleiern. Die Wahrheit nämlich, dass es sich bei jedem sexuellem Missbrauch um eine Straftat handelt. Sexueller Missbrauch ist nicht nur irgendein biographisches Ereignis oder eine psychologische Diagnose. Er verschleiert die Wahrheit, dass es eher die Täter als die Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch sind, die durch „lügen“ und „vertuschen“ ihre schweren Straftaten verheimlichen. In Wahrheit sind die Täter die gerissenen Manipulatoren und die wahre Gefahr für das Sozialgefüge. Ihnen gelingt es bis heute, jahrelang Straftaten zu begehen und dafür niemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. SIE wären deshalb auch das weitaus bessere Beispiel für das Thema „Lügen“ gewesen.


netzwerkB.org (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt) ist eine unabhängige Interessenvertretung. Wir setzen uns für die Rechte Betroffener ein, indem wir das gesellschaftliche Schweigen brechen, über Ursachen und Auswirkungen sexualisierter Misshandlung informieren, beraten und uns für konkrete Veränderungen stark machen.

netzwerkB.org kooperiert weltweit mit Netzwerken wie dem SNAP (Netzwerk der Überlebenden von Missbrauch durch Priester www.snapnetwork.org) und unterstützt die Netzwerkbildung der Betroffenen.

netzwerkB bittet darum an Betroffene die netzwerkB-Kontaktdaten weiterzugeben sowie die Kontakt-Email (info@netzwerkb.org) und Website (www.netzwerkB.org) zu veröffentlichen.

Für Journalisten-Rückfragen:
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