Prof. Dr. Genot Lucas, Menton,

Mein Fall von Kindesmissbrauch am „Aloisiuskolleg“ der Jesuiten, Bonn, in der Zeit von 1950 – 1953 (Abitur 1958)

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Der Missbrauch beginnt in einer kleinen Stadt am Rhein. Der Tatort: eine katholische Kirche, ein Beichtstuhl. Ein Kind wird sehr inquisitorisch über seine Keuschheit befragt. Der finstere Mann in dem unheimlichen Kasten kann nicht genug Details aus ihm herausfragen. Wie oft? Wo? Allein oder mit anderen? Als Buße für seine Sünden, die es nicht versteht, bekommt das Kind drei „Vater unser“ und drei „Gegrüßet seist du Maria“ aufgebrummt.

Das Kind bin ich.

Eine wahrlich geniale Erfindung: der Mann im Kasten, der mir eben die Sünden eingeredet hat, ist auch der, der sie mir daruf gleich wieder vergibt. Und nebenbei ist für ihn und seine Erbauung sogar auch noch etwas abgefallen.
Ob der Papst in seinem Erlass zur Beichte, in dem er „Unkeuschheit vor, in oder nach der Beichte“ besonders verwirft, wohl meinen „Einzelfall“ im Auge hatte?

Von nun an kommt mir alles ziemlich sündig vor. Mädchen, Frauen, mein Körper, Sünde, alles Sünde. Zumal der große Zauberer, der mich samstags im Beichtstuhl so streng einvernommen hat, sonntags im Hochamt einen höchst beeindruckenden Auftritt hinlegt: irrwitzige Festkleidung, blauer Weihrauchsqualm, wichtiges Gebrabbel, mächtiges Orgelbrausen, eine sehr eigene Choreographie mit drei Schritten rechts, drei Schritten links, wieder Gebrabbel, diesmal mit Gefuchtel in der Luft. Selbst meine Eltern gehen auf seinen Befehl hin zu Boden. Vor uns singt eine Frau sehr laut: „Ave Jesu, wahres manhu, genitori genitoque, laus et jubilatio“.   Ich bin beeindruckt. Endlich jemand, dem man glauben kann. Und muß.

Wie ich zu meinem „Peiniger SJ“ kam …

Mit meinem eigenen kleinen Sündenrucksäckchen bin ich also schon bestens präpariert, als es zur Aufnahmeprüfung am Aloisiuskolleg geht. Am Fuße des heiligen Berges muss sich mein Vater von mir verabschieden: „Geh nur den ganzen Leuten mit ihren Kindern nach, dann kommst du oben richtig an.“

Ich stehe mit meinen neun Jahren etwas verloren in der Menschenmenge vor dem Kolleggebäude. Da kommt ein riesiger Mann in einem schwarzen Rock auf mich zu. Den breiten Gürtel, der sein Gewand hält, hat er fast bis unter die Achseln gezogen. So kommt er mir noch größer und gewaltiger vor. Er lächelt mir auf eine seltsame Art und Weise zu. Trotzdem fühle ich mich unbehaglich. Was ich noch nicht weiß: Ich bin dem Mann begegnet, der mich drei Jahre lang mit seltsamen Wünschen und seltsamen Ritualen in Angst und Schrecken versetzen wird.

Der schwarze Riese leitet auch die Aufnahmeprüfung. Es sitzen so viele Jungen in diesem Klassenraum mit den hölzernen Bänken. Aber warum ist er ständig an einem Platz? Warum legt er beim Diktat seinen Riesenfinger auf die „langstiehlige Schippe“? Warum hilft er mir flüsternd bei der Rechenaufgabe, die ich nicht ganz verstanden habe.

Von wegen – Früherinnerungen gibt es nicht! Ich kann ihn heute noch riechen.

Zwischen 1950 und 1953 bestellt mich der große schwarze Mann in unregelmäßigen Abständen  in sein Zimmer. Es liegt irgendwo am Ende eines langen Flures im Kollegsgebäude. Ich muß immer am späten Nachmittag kommen.
Es ist, wie es immer ist: Der große schwarze Mann legt sich auf sein Bett und ich soll im Raum umhergehen. Dabei läßt er mich nicht aus den Augen. In der Ecke steht ein Betstuhl. Auf dem Schreibtisch liegen Klassenarbeitshefte. An der Wand hängt ein Bild des Gekreuzigten. Die Wunden müssen furchtbar weh tun. Nach endlosen Minuten, ich weiß ja, was jetzt kommt, weil es immer kommt, muß ich mich zu ihm auf die Bettkante setzen. Dann fängt er an, mich zu befingern. Ich erstarre zur Salzsäule. Er greift in meine Hose. Hinter mir liegend, tut seine Hand, was sie will. Mein Ekel ist unbeschreiblich.

Die unregelmäßigen Abstände meines Erscheinens in der Klausur erklären sich im Nachhinein sehr einfach : da er für die Aufnahmeprüfungen zuständig ist, gibt es wohl stets Nachschub nach eigener Wahl. Auch bei den Badeausflügen in die abgelegene Natur („Blauer See“) wird er wohl reichlich Vergleichsmöglichkeiten gehabt haben.
Für den Kaben von damals kaum ein Trost. Als wir in Geschichte den Damokles behandeln und sein Schwert, weiß ich, was über mir hängt.

Meinen Eltern werden diese nachmittäglichen Bestellungen ins Kolleg – ich war externer Schüler – schließlich unheimlich. Eines Abends höre ich, wie meine Mutter meinen Vater fragt, ob er sich denn nun endlich erkundigt habe. Meine Beine werden schwach. Jetzt kommt alles heraus! Alle Sünden, alles. Dann höre ich den Vater beruhigend zur Mutter sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe bloß um seelsorgerische Fürsorge…

Ein anderer Mann in schwarz. Nicht so wie der Riese. Aber jähzornig bis zum äußersten. Wir haben ihn in Religion. Einmal wird die ganze Klasse in das Haus vor den Toren des Kollegs bestellt. Er hat es für seine Jugendarbeit zugewiesen bekommen. Er führt uns in einen Gruppenraum. Wir sollen uns schon einmal setzen, sagt er. Wir lassen uns an den Wänden nieder. Dann ist er verschwunden. Wir sitzen da, eine Schulstunde lang, ratlos. Auf einmal fällt mir auf, daß in der Zimmertür im oberen Feld eine Ecke der Verglasung fehlt. In diesem Loch blinkt das Brillenglas unseres Religionslehrers rhythmisch zu dem, was man nicht sehen kann.

Das Aloisiuskolleg, eine Eliteschule?

Wie wurde man überhaupt Elite? Durch eine brutale und (a)soziale Auslese über mehrere Instanzen: Zunächst verbreitet man (mit wenig Berechtigung) überall das Gerücht, man sei eine Eliteschule. Das schreckt schon einmal die ersten ab! Gut so. Als nächste Stufe kommt die Aufnahmeprüfung,  dann folgt ein hemmungsloses Aussieben in den unteren Klassen. Kurz vor dem Prima noch bricht man noch schnell den schwächeren Schülern das Genick, denn am Aloisiuskolleg fällt bekanntlich keiner im Abitur durch.

Was in den oberen Klassen an Schülern am Ende übrig blieb, waren sozusagen Selbstläufer, die eigentlich auch ohne die vielen mittelmäßigen Lehrer hätten auskommen können. Am besten hätte man ihnen einfach ein paar Bücher auf das Pult gelegt.
Mit 16 Jahren hatte ich das Landesbestenzeugnis mit Urkunde und Geldprämie und beschloss, in den Gleitflug zu gehen. An der Universität Bonn hörte ich Vorlesungen bei den Professoren Speiser, Lützeler, von Einem und Bandmann. Im Vergleich mit Freunden von anderen Schulen begriff ich bald, daß wir Akoschüler (außer in Latein) in allem meistens nur Durchschnitt gewesen waren. Und manchmal sogar bloß nur Nieten.

Ich möchte, nachdem ich mich so schmerzhaft an das erinnert habe, was mir bei den Patres widerfahren ist, noch einige andere Gedanken anschließen:

Die goldene Abiturfeier (50 Jahre) schlug die erste Bresche in die Schweigemauer, mit der ich mich umgeben hatte. Während der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Ereignis brach völlig unerwartet über mir alles zusammen, ein richtiger Dammbruch. Aber outen? Nicht vor der Klasse!  Ich habe anschließend nur wie beiläufig zu meinen beiden besten Freunde gesagt, ich sei damals missbraucht worden. Ansonsten habe ich lediglich gehörig Dampf abgelassen zu unserem scheinheiligen Aufsatzthema „Die Kultur der Seele ist die Seele der Kultur – interpretieren Sie dieses Wort von Michael Kardinal Faulhaber „. Zur Seele habe ich nichts gesagt, aber einiges zu dem Münchener Kardinal und Hitlerverehrer.

Mit 18 Jahren hatte ich meine erste Freundin. Sie war von einer anderen Schule gekommen. Wir waren insgesamt vier Jahre zusammen und haben auch gemeinsam unser Architekturstudium begonnen. Sexuell war ich der perfekt abgedrehte Jesuit. Sünde! Sünde! Sünde! Wir haben nie zusammen geschlafen. Ich habe immer die Flucht ergriffen und alles von mir weggeschoben. Diese Abwehrmechanismen sitzen leider bis heute.

Ein halbes Jahrhundert nach meinem Missbrauch und nach 46 Jahren Ehe habe ich dann die ganze Geschichte öffentlich gemacht in einem Film, den der WDR hier in Menton gedreht hat. Hier hat meine Frau zum erstenmal von allem erfahren und unter Tränen erkennen müssen, warum die ganze Familie in der zurückliegenden Zeit so unter mir manchmal hatte leiden müssen, aber jetzt verstünde sie wenigstens einiges besser.

Josef Ratzinger war selbst von 1959 bis 1969 des öfteren am Aloisiuskolleg. Er kennt meinen Peiniger persönlich. Als Papst und oberster Aufklärer sollte er endlich die abertausend Missbrauchstaten aus den  Akten des Vatikans offenlegen und mutig zu seiner eigenen Schuld an diesen Vorfällen stehen. Noch 2001 verlangt er in seinem „De delictis gravioribus“ das Schweigen, anderweitig drohe Ausschluß und Exkommunikation. Dass der Missbrauch dem „pontifikalen Geheimnis“ unterliege, ist nur eine Umschreibung für weiteres Lügen und weiteres Vertuschen, eine haltung, die viele neue Opfer kosten wird.

Hans Küng spricht öffentlich von „Ratzingers Verantwortung“ und Eugen Drewermann meint, er denke mit Schaudern an die ungezählten weiteren Missbrauchsfälle in Ländern wie Polen, Spanien, Portugal, Lateinamerika. Ländern also, in denen die katholische Kirche noch die Macht hat, alle Vorfälle mit dem Gesetz des Schweigens zu belegen. Dass man aus diesen Ländern so wenig in dieser Angelegenheit hört, läßt für mich also eher den Schluss zu, dass dort die katholische Omerta noch funktioniert.

Was wir als Missbrauchsopfer zur Zeit in Deutschland erleben, ist immer noch allzu oft die Fortsetzung dieses arroganten Verhaltens der Kirche. Wenn wir nicht vereinzelte Bekenntnisse zu den Schandtaten des Ordens erzwungen hätten, wäre es weiter still in der selbsternannten Hochburg von Ethik und Moral.

In den 1860er Jahren gab es im Preußischen Abgeordnetenhaus schon einmal eine Debatte zu Missbrauchsfällen an katholischen Schulen: Rudolf Virchow, der berühmte Arzt und Naturwissenschaftler, sagte damals, er habe zunächst an Einzelfälle geglaubt, jetzt wisse er, es liege in der Struktur dieser Einrichtungen.

Man kann ihm nur zustimmen. Hat sich bis heute wirklich etwas daran geändert? Die welt- und menschenfremde Leibfeindlichkeit der engen katholischen Lehre erweist sich auch heute noch am gipsweißen Aloisius in der Eingangshalle des Kollegs. Nicht nur ich frage mich, wie man heute noch eine Schule nach einem jungen spanischen Adeligen benennen kann, der mit zehn Jahren das „Gelübde der ewigen Jungfräulichkeit“ abgelegt hat.

Wie wenig er übrigens als Schutzpatron der Jugend taugt, habe ich an mir selbst erfahren, als ich als Sextaner an jenen dunklen Nachmittagen ihm vorbeigehen mußte auf dem Weg zu meinem jesuitischen Peiniger.