Stellungnahme der DPV zu sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in institutionellen Kontexten, August 2010

Durch das Bekanntwerden sexuellen Missbrauchs in angesehenen Institutionen wie Kirche und Internat ist das gesellschaftliche Bewusstsein für die Bedeutung des Themas „sexuelle Gewalt“ gewachsen.
Gesellschaftliche, soziologische, psychologische und juristische Perspektiven sind für das Verstehen sexueller Gewalt in Familien wie in Institutionen unverzichtbar. Wir ziehen es vor, den Begriff „sexuelle Gewalt“ anstelle des Begriffs des sexuellen Missbrauchs zu verwenden, da in Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen immer ein Machtungleichgewicht besteht. Dieses Machtungleichgewicht nutzt der Täter, um über die Bedürfnisse und legitimen Interessen des Opfers hinwegzugehen und so seine eigenen Wünsche nach Macht, Unterwerfung und sexueller Befriedigung auszuleben und zu befriedigen.
Als Psychoanalytiker richten wir unser Augenmerk vor allem auf die innere Situation der Opfer und der Täter, auf die psychische Verarbeitung eines solchen Geschehens bzw. auf die pathologischen Entwicklungen und deren Schicksal. Eine psychodynamische Sichtweise und ein daraus sich ableitender psychoanalytischer Verständniszugang können wesentliche Erkenntnisse beitragen. Sie ermöglichen es, die psychischen Folgen als Versuche einer Bewältigung des Traumas zu verstehen und so spezifische Hilfen für die Betroffenen anzubieten. Um eines allerdings klar zu sagen: Ein Verstehen der Psychodynamik der Täter-Persönlichkeit kann zukünftig zu einer besseren Behandlungsmöglichkeit von Tätern führen, relativiert jedoch nicht die Einschätzung der Kriminalität ihres Handelns und deren Konsequenzen auf der juristischen Ebene.

Psychopathologie und Psychodynamik der Täter
Bei pädophilen Neigungen muss zwischen verschiedenen Gruppen von Tätern unterschieden werden. Über die erste Gruppe, die der pädophilen Sexualstraftäter, die im Sinne einer festgefügten Perversion auf pädophile Praktiken fixiert sind, wird in der Öffentlichkeit am meisten diskutiert. Diese Täter haben häufig eine hohe kriminelle Energie und sind oft langfristig gefährlich. Sie sind prozentual jedoch eine Minderheit unter denjenigen, die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausüben. Eine zweite Gruppe sind Menschen mit einem gene- rellen (gehemmten) Gewaltpotenzial bzw. einer Freude daran, andere sadistisch zu unterwerfen.
Die große Mehrheit sexueller Straftaten gegen Kinder und Jugendliche wird von einer dritten Gruppe von Tätern begangen, die in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit infantil geblieben sind. Sie sind nicht fähig, eine reife hetero- oder homosexuelle Beziehung aufzubauen. In ihrer Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, in ihrem Selbstwertgefühl und hinsichtlich ihrer sexuellen Attraktivität sind sie zutiefst verunsichert. Zwar verfügen sie über eine soziale Anpassungsfähigkeit, aber in intimen Beziehungskonstellationen entwickeln sie gravierende Ängste und emotionale Defizite. Menschen mit einer solchen Persönlichkeitsdisposition, obgleich nicht im engeren Sinne pädophil fixiert, haben oft eine Neigung, ihre tiefgreifende Selbstunsicherheit und ihre Ängste durch Machtausübung und sexuelle Gewalt gegenüber schwächeren Menschen abzuwehren. Der daraus zu erzielende narzisstische Gewinn ist so groß, dass sie sich aus dieser Form eines gewaltsamen und in andere eindringenden Umgangs nicht mehr lösen können. Abgewehrte Schuldgefühle, die Angst vor Beschämung und sozialer Ächtung führen dazu, dass das Opfer im Sinne eines weiteren narzisstischen Missbrauchs dazu verpflichtet wird zu schweigen. Diese Disposition ist auch ein Grund, weshalb sich solche Täter nicht frühzeitig therapeutische Hilfe suchen.
Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 5 Prozent der Bevölkerung pädophile sexuelle Fantasien haben. Kinderpornographisches Material ist im Internet weit verbreitet und wird entsprechend konsumiert. Aber nur ein geringer Teil derjenigen, die solche Fantasien haben, lebt sie in der Realität aus und begeht kriminelle Handlungen. Solche Täter setzen sich rücksichtslos über ihre durchaus vorhandenen Hemmungen hinweg, was als Ausdruck einer unbewussten Abwehrdynamik gegen narzisstische Ängste zu verstehen ist, d. h. gegen Ängste, nichts wert, unbedeutend, ohnmächtig und ungeliebt zu sein. Sexualität ist eher das Mittel als das eigentliche Ziel. Es geht bei derartigen Taten, entgegen dem äußeren Anschein, vor allem um Macht und Beherrschung.
Institutionen, in denen mit Kindern gearbeitet wird, besitzen eine hohe Anziehungskraft für diese Menschen. Die Struktur solcher Institutionen und die in ihnen herrschenden Verhältnisse haben einen wesentlichen Einfluss darauf, ob diese Menschen ihre Fantasien in Handlungen umsetzen oder sie kontrollieren können. Autoritäre oder geschlossene Strukturen mit einem Mangel an Transparenz und Kontrolle von Macht begünstigen derartige Taten und erschweren auch deren Aufdeckung. Je nach Konstellation sind sie für sadistische, machtorientierte oder für unreife Persönlichkeiten attraktiv. So zieht der Zölibat in der katholischen Kirche auch Persönlichkeiten an, die in ihrer psychosexuellen Entwicklung gehemmt sind, infantile Züge aufweisen und unbewusst hoffen, ihre inneren Konflikte und sexuellen Beziehungsängste durch die erzwungene Ehelosigkeit bewältigen zu können. Es wäre jedoch falsch, den Zölibat unmittelbar im Sinne einer kruden Vorstellung von einer Hemmung der sexuellen Triebe für derartige Taten verantwortlich zu machen.

Psychische Folgen für die Opfer
Eine schwerwiegende Auswirkung sexueller Gewalt auf die kindliche Psyche ist die Zerstörung des Fantasieraums. Jedes Kind braucht einen geschützten inneren Raum, in dem es fantasieren, imaginieren und bildhaft unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten ausprobieren kann. Wird ein solcher Möglichkeitsraum von einer konkreten körperlich-sexuellen Aufladung überrollt und besetzt, dann wird die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Fantasie und Realität zerstört. Fantasie wird als Realität erlebt und albtraumhafte Erfahrungen dringen in den inneren Raum ein. Bei sexueller Gewalt entstehen im Kind unvermeidbar ausgeprägte Scham- und Schuldgefühle. Mit Vorhaltungen wie: „Was habe ich da getan!“, „Ich habe etwas Verbotenes getan!“ u. a. m. gibt es sich selbst die Schuld und verinnerlicht in seiner Not und seinem Ausgeliefertsein Aspekte der erlebten Gewalt. Gewaltsame Erfahrungen werden in der Persönlichkeit des Kindes und des Heranwachsenden gewissermaßen eingekapselt. Dadurch wird eine weitere seelische Verarbeitung in der Persönlichkeitsentwicklung verhindert. Diese verkapselten Erinnerungen und die damit verbundenen Strukturen verbleiben wie Fremdkörper in der Psyche und können unvorhergesehen wieder wirksam werden.
Die Dynamik von Identifikation und Abwehr derart unerträglicher Erfahrungen kann vielfältige Symptome zur Folge haben:

  • Dissoziationen, d. h. im Verarbeitungs- und später im Erinnerungsprozess finden wir Risse und Einschnitte im Selbsterleben. Das Geschehene wird nicht mehr als kontinuierlicher Prozess in Raum und Zeit erlebt, sondern „ausgeschnitten“, verdrängt oder vergessen und nicht selten abgespalten.
  • Intrusionen und Flash-backs, d. h. Erinnerungen an das Erlebte und die sie begleitenden Affekte überfallen das Opfer. Es ist, als ob das Erlebte im gegenwärtigen Augenblick wieder geschehen würde.
  • Aggressive Identifikationen führen häufig dazu, dass die Gewalt gegen sich selbst gerichtet wird. Selbstverletzendes Verhalten, Suchtmittelmissbrauch, soziale Desintegration und Rückzug sind die Folgen. Im Einzelfall kann es auch zu aggressiven Handlungen gegen andere kommen. Dann wird die Täter-Opfer-Konstellation umgekehrt. Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit werden dadurch abgewehrt.
  • Angsterkrankungen und Depressionen sind dabei komplexe Verarbeitungsweisen, in denen Schutzfunktionen gegen die Traumatisierung zu chronischen Beeinträchtigungen der Vitalität und Lebensfreude geführt haben.
  • Schließlich können die schweren Ängste und die Beschädigung des Vertrauens in hilfreiche Beziehungen zu anderen Menschen auch dazu führen, dass Gefühle von innerer Leere, eine grundlegende emotionale Instabilität, Misstrauen und Verfolgungsgefühle überhand nehmen und sich zu einer Borderline-Persönlichkeitsstörung verfestigen.

In der Täter-Opfer-Beziehung zwingt der Täter dem Kind eine lügnerische Struktur auf, indem er ein Schweigegebot errichtet und dessen Einhaltung vom Kind einfordert. Zudem suggeriert er dem Kind, dass die Umsetzung seiner sexuellen und machtorientierten Wünsche nicht allein von ihm, sondern ebenso vom Kind ausgeht bzw. vom Kind oder Jugendlichen ebenfalls gewünscht wird. Es kommt zu dem, was der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi schon früh als „Sprachverwirrung zwischen Erwachsenem und Kind“ bezeichnete: Das Kind möchte Zärtlichkeit und Anerkennung, der Erwachsene missbraucht diesen Wunsch für seine sexuellen und narzisstischen Bedürfnisse. Dies verschärft den erwähnten Angriff auf die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Fantasie und Realität beim Kind, erschwert bzw. verunmöglicht die weitere Differenzierung seines Fantasieraums und resultiert in Gefühlen von Einsamkeit und Verlassenheit.
Das Kartell des Schweigens reicht jedoch weit über die Täter-Opfer-Beziehung hinaus und umfasst die Familie bzw. die Institution (Internate, kirchliche Einrichtungen, Vereine, wissenschaftliche Gesellschaften etc.). Eine solche Mauer des Schweigens verstärkt die innere Unsicherheit, Verwirrung, den Verlust des Vertrauens in andere und macht es den Betroffenen äußerst schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen und sich Hilfe zu suchen.

Täter-Opfer-Dynamik
Die Tendenz, sich Schuld und Scham selbst zuzuschreiben, ist beim Kind umso stärker, je mehr es dem Erwachsen vertraut hat, von ihm begeistert war und ihn bewundert hat sowie sich von ihm gefördert fühlte. Dies macht sexuelle Gewalt in institutionellen Kontexten, in die man vertraut, in denen man Unterstützung, Hilfe, Förderung und Anerkennung erhofft, außerordentlich zerstörerisch. Gefühle von Abneigung, Wut und Hass gegen den Täter mischen sich mit Bewunderung, ja Liebe zum Täter und mit Gefühlen von Schuld und Scham. Diese Gefühlsambivalenz wird dann besonders quälend erlebt, wenn das Kind niemanden hat, dem es sich anvertrauen kann. Wird ein Erwachsener, an den es sich wenden könnte, ihm glauben, oder wird er das Kind verraten und fallenlassen? Was passiert, wenn sich die Erwachsenen zusammentun, wie es nur allzu oft geschieht? Derartige Fragen beschäftigen die Opfer oft noch nach Jahrzehnten und ein Brechen des Schweigens wird nicht selten von schweren Schuldgefühlen begleitet.

Institutionelle Strukturen und Beziehungsdynamiken, die sexuelle Gewalt begünstigen
Institutionen haben eine Tendenz, Kartelle des Schweigens zu begünstigen und strukturell zu etablieren. Dies gilt für die Familie wie für andere gesellschaftliche und soziale Verbände wie Kirchen, Vereine, Internate usw. Im Einzelfall hängen derartige Kartelle des Schweigens und der Abwiegelung durchaus mit bewussten Machenschaften zusammen. Zudem forcieren unbewusste Gruppenprozesse solche Entwicklungen.
Der existenzielle Wunsch des Menschen, von anderen anerkannt zu werden und zu einer Gruppe zu gehören, lässt ihn wesentliche Aspekte seiner Idealvorstellungen auf die Gruppe übertragen, der er sich zugehörig fühlt. Werden von Mitgliedern der Gruppe Verbrechen begangen, kommt es zu einem Zusammenbruch dieser Idealvorstellungen. Dann besteht die Neigung, das Geschehene zu verdrängen oder zu verleugnen, wegzuschauen, es nicht wissen zu wollen oder es gar zu rechtfertigen. Dem kommt auch die Angst des Menschen entgegen, aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden, was zumindest in seiner Vorstellung unweigerlich passieren würde, wenn er versuchte, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Diese Dynamik haben wir bei den jüngsten Fällen sexueller Gewalt in der Kirche wie in Internaten exemplarisch vor Augen geführt bekommen. Dabei ging es immer darum, die vermeintlichen Ideale der jeweiligen Gruppe zu verteidigen und zu schützen – um jeden Preis. Dadurch wurden die Opfer ein weiteres Mal angegriffen, geschädigt und in ihrem Glauben an die Verlässlichkeit von Beziehungen erneut zutiefst erschüttert. Zudem erleiden hierbei auch die Ideale der Institution schweren Schaden.

Psychische, soziale und juristische Be- und Verarbeitung des Geschehens
Die Einkapselung der traumatischen Erinnerungen, die diversen Abwehrformationen, insbesondere die lügnerische Struktur und die Mauer des Schweigens und der damit erfolgende Ausschluss des Opfers aus der Gemeinschaft, machen es zwingend erforderlich, unmissverständlich zu benennen, wer Täter und wer Opfer ist. Ein gesellschaftlicher Diskurs muss die betroffenen Institutionen verpflichten, sich mit den Gewalt fördernden Strukturen in ihrem jeweiligen Einflussbereich auseinanderzusetzen. In diesem Prozess muss nicht nur die eigene Verantwortung anerkannt und das Opfer entschädigt werden, sondern es gilt auch, strukturelle Veränderungen einzuleiten und verlässlich umzusetzen.
Für die Opfer ist es wichtig, dass – sofern sie es wünschen – sowohl eine strafrechtliche als auch eine zivilrechtliche juristische Aufarbeitung erfolgt. Dazu sollten, trotz der damit verknüpften rechtlichen Probleme, die Verjährungsfristen überdacht werden, da die Opfer oft erst nach einem langen inneren Prozess in der Lage sind, sich einem solchen Verfahren zu stellen.
Falls die notwendigen Vernehmungen in angemessener Form durchgeführt werden, ist in der Regel die Entlastung des Opfers durch die juristische Aufarbeitung höher zu veranschlagen als die dabei auftretenden Belastungen. In psychoanalytischen Behandlungen zeigt sich immer wieder, dass Opfer sexueller Gewalt in ihrer psychischen Auseinandersetzung mit den Folgen des erlittenen Unrechts von der juristischen Klärung profitieren. Sie werden dadurch in ihrem Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein gestärkt und erleben sich als kompetenter und selbstwirksamer. Dies kann seinerseits die therapeutische Arbeit unterstützen.

Therapeutische Hilfen
Es ist unbestritten, dass therapeutische Hilfen angeboten werden müssen. Dabei ist den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen Rechnung zu tragen. Psychotherapien, insbesondere eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie oder eine Psychoanalyse, bieten die Chance, über eine Symptombewältigung hinaus die komplexen inneren Strukturen und Dynamiken behutsam aufzugreifen und entlang der Möglichkeiten des Patienten durchzuarbeiten. Persönlichkeitsspezifischer Schutz vor dem Erlittenen, die Abwehr gegen das traumatische Erleben und schwer beeinträchtigende Verfestigungen der Persönlichkeit gehen dabei oft Hand in Hand. Es ist naheliegend, dass die therapeutische Arbeit angesichts der vielfältigen Verletzungen der Betroffenen oft ein schmerzhafter Prozess ist, der ausreichend Zeit und Aufmerksamkeit verlangt, will man den Patienten nicht erneut traumatisieren.
Die psychoanalytische Erfahrung aus solchen Behandlungen ist, dass die psychischen Folgen sexueller Gewalt, deren Einkapselungen und Vernarbungen durch die Behandlung deutlich gemildert bzw. beseitigt werden können, dass aber der Schmerz über das erlittene Unrecht und das Entsetzen über das, was einem zugefügt wurde, nicht aus der Welt zu schaffen sind. In einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung kann es über einen langwierigen Prozess möglich werden, das traumatisierende Erleben zur Sprache zu bringen. Die Benennung und klare Zuordnung kann dazu beitragen, dem Trauma einen inneren Platz zu geben. Damit werden zerrissene Zusammenhänge im Erleben wieder verknüpft und können so verarbeitet und integriert werden. Die Betroffenen erarbeiten sich darüber die Möglichkeit, ihre eigene innere Wahrheit wiederzufinden.

Berlin, im August 2010,

Prof. Dr. Martin Teising, Vorsitzender der DPV Verfasser,
DPV-Arbeitsgruppe „Sexuelle Gewalt“: Prof. Dr. Lorenz Böllinger, Dr. Werner Bohleber, Prof. Dr. Michael Günter (federführend), Prof. Dr. Kai von Klitzing, Dipl.-Psych. Angelika Staehle, Dr. Christoph E. Walker (federführend)

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