Sie ist ein Schulkind, als der Großvater sie missbraucht. Jahrzehntelang verschweigt sie ihr schrecklichstes Geheimnis. Erst als sie psychisch krank wird, spricht sie darüber – und stellt fest, dass es zu spät ist. Sein Verbrechen ist verjährt.
Von Christina Keck
Sie hat sich schlafend gestellt. Die Augen fest geschlossen, der kleine Körper bewegungslos wie ein Stück Totholz. Kein Wort kam über ihre Lippen, kein Schluchzen. Sie lag auf einer aufgeklappten Schaumstoffmatratze, auf der ihr Großvater erst die Rheumadecke ausgebreitet hat, dann das Leintuch, das er danach in die Reinigung trug, um die Flecken entfernen zu lassen.
Bloß nicht blinzeln. Sie wollte nicht sehen, was nicht sein darf, und hat sogar ihre einzige Verbündete aus dem Zimmer verbannt, die Pudeldame Finni mit ihren schwarzen Knopfaugen. Sie schämte sich vor ihr.
Als es losging mit dem Unaussprechlichen war Antje Gruber, die so nicht wirklich heißt, gerade eingeschult worden. Ein fröhliches Mädchen, blond, mit Zöpfen, aus einer gutbürgerlichen Familie.
Sie hat sich ausgezogen, weil ihr Großvater, bei dem sie so oft war, den sie doch über alles liebte, es so wollte.
Deshalb erduldete sie seine Perversionen. Ertrug ihn auf der schmalen Schaumstoffmatratze in seinem Büro bei Stuttgart und nachts in seinem Schlafzimmer, wenn sie bei ihm übernachten sollte, und in den Hotels im gemeinsamen Urlaub. Sieben Jahre lang verging sich der heute 97-jährige Mann an seiner Enkelin.
Nie hat sie Stopp gesagt, sich gewehrt oder geschrieen. Und keiner will etwas davon mitbekommen haben.
„Ich fühlte mich als Mittäterin“, erinnert sich Antje Gruber. Sie spricht leise, aber entschieden, wenn sie von damals erzählt. Greift immer wieder auch zum Wasserglas und trinkt, als müsse sie den Kloß wegspülen, der sie in der Kehle drückt. „Ich wollte, dass er endlich bestraft wird“, drängt sie und kann nicht fassen, was ihr die Staatsanwaltschaft Stuttgart mitgeteilt hat: dass da leider nichts mehr zu machen sei. Die Taten des Großvaters sind verjährt.
Bei sexueller Nötigung oder Vergewaltigung eines Kindes endet die Verjährungsfrist je nach Schwere des Übergriffs zehn bis 20 Jahre nachdem das Opfer volljährig wurde, sprich: mit dessen 28. oder 38. Geburtstag. Und Antje Gruber ist 39.
Sie hat sich ein Jahr zu spät getraut, den Mann anzuzeigen, der ihr Leben zerstört hat.
In der Schweiz hat vor einem Jahr der Kinderschutzverein Marche Blanche ein Referendum angestoßen, um die Verjährung von Sexualdelikten zu kippen. Mit knapper Mehrheit stimmten die Eidgenossen im November 2008 dafür, dass Kinderschänder bis an ihr Lebensende nicht vor Strafverfolgung sicher sind.
Für die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, SPD, war das kein Vorbild. Und auch ihre Nachfolgerin im Amt, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, die doch seit Jahren schon Schirmherrin des Opferschutzvereins „Dunkelziffer – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder“ und Mitglied des „Deutschen Kinderschutzbundes“ ist, wird nicht tätig. Man habe im Verjährungsbereich ein „ausgewogenes System“, an dem etwas zu ändern man keinen Anlass sehe, ließ sie auf Anfrage mitteilen.
Dabei brauchen gerade diese Opfer, die das Verbrechen, das ihnen angetan wurde, oft weit verdrängt haben, tief versteckt, so wie Antje Gruber viel Zeit, um eines Tages über das zu sprechen, was sie sprachlos machte, sagen deren Betreuer, Vertreter, Anwälte.
Erst war es die Angst, den Großvater wütend zu machen, die sie schweigen ließ. Sie hätte ihn verraten müssen, die Heimlichkeiten aufdecken. Nie waren Kollegen in seinem Büro. Niemand durfte davon erfahren, außer dem Hündchen Finni, dem sie es ins Ohr flüsterte, und dem Tagebuch – dick, kariert, geduldig. Später ging es um die Ehre der Familie. Den guten Namen. Was hätten die Nachbarn gesagt, wenn das herausgekommen wäre? Wären die Eltern wütend gewesen? Nur einmal hat sie es aufgezeichnet auf einem Blatt Papier: der Kopf mit Haarkranz, der Mund, der ihr immer die Küsschen gab. „Großvater ist böse“, hat sie darüber geschrieben und gehofft, dass es jemand sieht. Doch es gelangte in die Finger des Falschen. Ihr Peiniger zerknüllte die Zeichnung, warf sie weg und schimpfte die Undankbare aus. Dann musste sie ihren Ungehorsam wieder gutmachen.
Jahrzehntelang behielt Antje Gruber also ihr größtes und schrecklichstes Geheimnis für sich. Nicht einmal ihrem Freund, mit dem sie zusammengezogen war, erzählte sie davon. Bis eines Tages ihr Körper rebellierte und sie nicht mehr essen konnte. Eine Dattel zu Mittag, abends ein paar Nudeln, die Großgewachsene verlor ein Kilo ums andere, dazu die dunklen Ringe unter den Augen von den Nächten des Grübelns. Sie konnte nicht mehr schlafen, dachte nur noch an eines, das unaufhaltsam näherrückte: den 60. Geburtstag ihrer Mutter, der Tag, an dem sie mit ihrem Großvater wieder an einem Tisch sitzen würde.
Sie wollte nicht mehr stillhalten.
Das könne so nie vorgefallen sein, ganz unmöglich, blockte ihre Mutter ab und atmete auf, als sie hörte, dass keine körperliche Gewalt angewendet worden war.
Sie wisse von nichts, behauptete die Großmutter.
Armes Ding, bedauerten sie die Verwandten, und man war sich einig, den Kontakt zum Kinderschänder abzubrechen. „Warum hat damals keiner den Mut besessen, ihn anzuzeigen?“, fragt Antje Gruber und zweifelt an der Loyalität ihrer Familie. Und: „Welche Kinder saßen noch auf seinem Schoß?“
Über den Missbrauch von Kindern gibt es nur wenige Zahlen. Das Bundeskriminalamt spricht von rund 15 000 Kindern unter 14 Jahren, die jedes Jahr in Deutschland sexuell misshandelt werden. Die Experten vom Opferschutzverein „Dunkelziffer“ sind sicher, dass die meisten Taten unentdeckt bleiben. Sie gehen von bundesweit jährlich 200 000 Fällen aus. Das Schwierigste sei, die Taten im Nachhinein hieb- und stichfest zu beweisen, sagt die Opferanwältin Anke Sefrin. Mithilfe eines Gutachtens müsse die Glaubwürdigkeit der Aussage überprüft werden. Für die Missbrauchten eine oft unerträgliche Tortur.
Der Großvater lebt inzwischen in einer Wohnanlage bei Stuttgart. Spricht man ihn an auf das, was seine Enkelin erzählt, braust er auf. „Alles erstunken und erlogen“, sagt er am Telefon. Üble Hetze sei das gegen ihn, der pure Hass. Warum ihm jemand Böses wolle, könne er sich überhaupt nicht erklären. „Wie kann sie so etwas einem alten Mann nur antun?“
Zusammen mit ihrer Therapeutin hat Antje Gruber es dann gewagt, sie hat die Aufarbeitung begonnen. Spuren von damals aufgenommen. Auch den Täter gestellt, den Großvater.
„Ich wäre beinahe umgekehrt“, erzählt Antje Gruber und ist stolz darauf, die Konfrontation ausgehalten zu haben. Sie hat ihn überrascht und zur Rede gestellt. Sie hat ihn beschimpft in seinem Wohnzimmer, ihm gesagt, dass er für das, was er mit ihr gemacht hat, büßen müsse. „Soll ich dafür jetzt Gift nehmen?“, sei seine lakonische Antwort gewesen, sagt Antje Gruber und dass sie sich wieder so hilflos gefühlt habe wie früher.
Als Erwachsene schaut sie sich an, was sie so lange verdrängt hat. Das ist Steinbrucharbeit. Manches kommt nie zutage, manches bricht an unerwarteter Stelle auf, wo Antje Gruber glaubte, keine Erinnerung zu haben. „Mein halbes Leben ist wie ausgeblendet“, sagt sie, vieles sei im Dunkeln verschwunden, hinter den fest verschlossenen Augen, die die erlebten Grausamkeiten ausblenden wollten. Geblieben sind ihr die Ängste. Wenn ihr jemand mit einer Bierfahne zu nahe kommt, spürt sie es – das flaue Gefühl im Magen, das plötzliche Herzrasen, den Ekel, wie er hochstieg, als sich der Mund des Großvaters ihr näherte.
Es sind Gerüche, die das Verdrängte freilegen. Schweiß. Sperma. Der abgestandene Mief im alten Treppenhaus, dessen Stufen sie hinaufgehen musste in das ehemalige Büro mit der Schaumstoffmatratze. Mit der Therapeutin an ihrer Seite wagte sie die Rückkehr an den Tatort. Längst hat sich in den renovierten Räumen eine Familie eingerichtet, die nicht ahnt, was für Verbrechen in ihrem Schlafzimmer begangen wurden.
„Das Schlimmste war das Bad“, erzählt Antje Gruber und wird noch ein bisschen blasser im Gesicht. Die grau geflammten Steinzeugfliesen, die Enge und das Gefühl von früher, es wieder mal überstanden zu haben. Am Waschbecken spülte sie das Sperma an ihrem Körper weg, die schmierige Vaseline. Die Verletzungen an der Seele konnte sie nicht wegschrubben.
Es gibt die leichten Tage, an denen Antje Gruber Freunde trifft, im Fitnessstudio Kraft tankt oder sich einfach aufs Sofa legt. Es gibt die anderen Tage, da überlegt sie sich, wie es wäre, einen kleinen Fahrfehler zu begehen. Sie müsste das Steuer nur ein bisschen drehen, um die Schwere nie wieder zu spüren. Seit sie die Psychotherapie begonnen und das Schweigen beendet hat, geht es ihr besser. „Ich kann allen Frauen nur raten, aus ihrer Isolation zu kommen“, sagt Antje Gruber, die erst nach dem Tod ihrer Mutter mit der Aufarbeitung begann. „Ich dachte immer, das erledigt sich von allein.“ Ein Irrtum.
Im Fotoalbum finden sich nur wenige Aufnahmen vom Großvater. Eine zeigt ein Mädchen auf dem Schoß eines älteren Mannes, ein gemütlicher Märchenonkel. Beide lachen, es ist Weihnachten. „Ich kann es nicht ansehen“, sagt Antje Gruber angewidert und dreht das Foto um. „Er verdient eine gerechte Strafe.“
Als die Justiz mit der Verjährungsfrist ihr keine Hilfe war, hat sie sich an die Kirche gewandt. Man müsse vergeben, hat der Pfarrer ihr geraten.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 21.12.2009)
Quelle:
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/Vergewaltigung;art1117,2980602
Hallo,
eine sehr beklemmende Darstellung.
Etwas mulmig wird mir allerdings immer wenn ich von diesen „Konfrontationstherapien“ höre oder lese.
Was hat „Antje Gruber“ gewonnen, wenn sie den Täter konfrontiert und dann doch nur wieder gedemütigt wird?
Für Leute mit Spinnen- und Fahrstuhlphobien ist eine Expositionstherapie bzw. Konfrontationstherapie sicherlich sinnvoll – aber nicht in so einem existenziell bedrohlichen Fall.
So was geht nur gut, wenn man es absolut solide vorbereitet, bzw. sich genau mit dieser Situation „gedemütigt werden und nichts entgegnen können“ befasst und sie so durcharbeitet, dass eben eine Entgegnung bzw. klare Reaktion möglich wird und man als ehemaliges „Opfer“ jetzt „Gegner“ werden kann.
Und jemand mitkommt, der souverän und konfliktbereit genug ist, als „Stellvertreter“ zu agieren, wenn die Situation zu entgleisen droht.
Alles andere ist purer Leichtsinn.
Für wesentlich effektiver und gesünder halte ich die im Artikel beschriebene Taktik von „Antje Gruber“, Familienangehörige einzuweihen. Zum einen stellt man dann fest, auf wen man sich verlassen kann und wer „koscher“ ist, bzw. loyal, zum anderen kann man darauf setzen, dass sich das Ganze herumspricht und eben noch mehr Betroffene sich dadurch trauen, sich zu melden.
Öffentlichkeit herstellen wirkt, denn es bringt den Täter in die Offensive, nicht das Opfer.
Und je mehr Leute aus dem Umfeld sich äußern oder sogar solidarisieren, desto schlechter funktioniert der Ausgrenzungsmechanismus.
Bis Mitte der 90er Jahre funktionierte die gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung der Opfer und damit die gesellschaftliche Abspaltung und Verdrängung der Tatsache, dass es üblich ist, dass Erwachsene Kindern ihre abnorme, kranke Sexualität aufdrängen und aufzwingen gut.
Erst danach setzte, nicht zuletzt durch die mutige, unermüdliche, konfrontative Aufklärungsarbeit von Betroffenen und Betroffenenorganisationen ein Umdenken ein.
Oder etwas plakativ ausgedrückt – es wurde vorstellbar und öffentlich diskutiert, dass mindestens ein Fünftel der Menschen, die unter uns leben schon als Kinder mit kranker Sexualität konfrontiert wurden und dadurch Schaden nahmen und eine leider nur diffus bestimmbare Zahl von Erwachsenen unter uns leben, die ihre Sexualität auf abnorme, schädliche Weise auf Kosten von Kindern ausleben.
Der „böse schwarze Mann“ der ersten Jahrzehnte nach dem Krieg wurde durch den „Durchschnittsbürger“ abgelöst.
Natürlich löst so was Beklemmung aus – wem soll und kann man trauen?
Ich denke mittlerweile, Vertrauen in andere Menschen ist nur auf einer Ebene gerechtfertigt, auf der man nicht viel riskiert und nicht viel zu verlieren hat.
Der Bereich Sexualität – eh mit viel Unkenntnis, Tabu und Heimlichtuerei belegt, ist für „Vertrauen“ sicher nicht geeignet. Dieser Bereich entzieht sich der üblichen Kontrollmechanismen, die eine Voraussetzung dafür sind, Vertrauen entwickeln zu können. Man muss jederzeit handlungsfähig bleiben können. Sonst wird man zum Opfer.
Das Klima der 70er Jahre? ist im Artikel gut und treffend dargestellt. Eine Zeit, in der es vielen Tätern gelang, ihre destruktive Sexualität einer gesunden, notwendigen gesellschaftlichen Kontrolle zu entziehen.
Ich kann mich in Angehörige hineinversetzten, die angeblich „nichts gewusst haben“.
Sie haben lange Zeit die Kontrolle verloren, eben über die Täter und deren Verhaltensweisen. Das macht hilflos, wütend – mancher hält solche Gefühle nicht aus und reagiert ignorant oder abwehrend, wenn man an sie erinnert.
Der beschriebene Großvater ein typischer Vertreter der „Tätergeneration“ der Nazizeit. Im Kern übergriffig, anmaßend, patronal – nach außen ein korrekter, lieber, fleißiger Großvater.
„Normale“, korrekte, angepasste, zutiefst feige Familie. Verlogen bis dahinaus.
Typische Vertreter der „Doppelmoral“.
Ich habe solche „Typen“ noch kennen gelernt (bin selbst Jahrgang 64).
Der Geist der Kaiser- und Nazizeit war bis in die 80er in meiner Heimat allgegenwärtig.
Darum bin ich auch „ausgewandert“. Die Verdrängungsmechanismen und Feigheit des größten Teils der Bewohner hat mich mehr und mehr „angekotzt“.
Es ist schon erschreckend: Millionen von Menschen wurden im Faschismus als angebliche „Volksschädlinge“ diffamiert, ausgegrenzt, vertrieben und getötet.
Die wahren „Parasiten“ lebten aber munter und unbehelligt. Zum großen Teil sogar in verantwortungsvollen und machtvollen Positionen.
Wie heute auch noch.
Ich denke, einen sehr nachhaltigen Effekt könnte es geben, wenn erstmal ein paar „Leistungsträger“ und „VIPs“ als Täter entlarvt und verurteilt sind.
Wie die Fälle von Michael Jackson und Roman Polanski zeigen, ist es nicht mehr so einfach, sich „rein zu waschen“. Das gesellschaftliche Klima ist umgeschlagen.
Wenn wir gut aufpassen, bleibt das lange Zeit so.
Einen schönen Jahreswechsel und Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
„Mein halbes Leben ist wie ausgeblendet.“ – kenne ich.
„Sie hat sich schlafend gestellt. Die Augen fest geschlossen, der kleine Körper bewegungslos wie ein Stück Totholz. Kein Wort kam über ihre Lippen, kein Schluchzen“ – kenne ich.
„Jahrzehntelang behielt sie also ihr größtes und schrecklichstes Geheimnis für sich.“ – kenne ich.
„Bis eines Tages ihr Körper rebellierte.“ – kenne ich (Krebs).
„Alles erstunken und erlogen“, sagt er“ – kenne ich.
„Soll ich dafür jetzt Gift nehmen?“ – kenne ich.
„Geblieben sind ihr die Ängste.“ – kenne ich.
„Man müsse vergeben…“ – kenne ich.
Nein, „die Verletzungen an der Seele kann man nicht wegschrubben“.
Das ist die traurige Wahrheit.
Liebe Petra,
das könnte auch meine Geschichte sein, nur dass bei mir noch meine Mutter eine Rolle spielte und sich auf die Seite der Täter stellte, nicht auf meine…
Ich wünsche im neuen Jahr, dass allen Betroffenen mehr Rücksicht und Verständnis entgegen gebracht wird, zumindest aber das erforderliche Maß dessen.
Liebe Elke,
auch das (Mutter stellt sich – offensiv oder durch Schweigen – auf die Seite des/der Täter) ist vermutlich bei den meisten Überlebenden – auch bei mir – Teil der schrecklichen Wahrheit.
Was mir aber in diesem Zusammenhang auch schon sehr häufig begegnet ist (z.B. in Psychotherapien), ist, dass der Fokus schnell auf die schweigenden, wegsehenden, auch „vorbereitenden“ (durch vorherige, oft unbewusste Ablehnung des Kindes) MittäterInnen gelenkt wird, und dadurch wieder die Täter geschont werden.
Ja, sie waren MIT-TäterInnen (und das ist eine eigene gruslige Auseinandersetzung, die frau führen muss), ABER SIE WAREN NICHT DIE TÄTER. (Ich gehe hier jetzt mal vom Großteil der Fälle aus, wissend, dass es vereinzelt auch Mütter/Frauen gibt, die sexualisierte Gewalt anwenden.)
Die (überwiegend männlichen) Täter aber profitieren wieder einmal davon, denn die Beschäftigung mit den Müttern ermöglicht ihnen erneut ein „Verschwinden“ aus ihrer Verantwortung für diese Traumatisierungen durch von ihnen angewandte sexualisierte Gewalt.
„Findet der Missbrauch innerhalb der Familie statt, wissen die Frauen und Partnerinnen der Täter oft tatsächlich nicht, was vor ihrer Nase abläuft. Andere haben ein ungutes Gefühl, wissen aber nicht, was sie machen sollen oder wollen die Wahrheit nicht sehen. Sie haben Angst, die Familie zu zerstören, fürchten, der Partner könnte wütend werden und sie schlagen, sie sind wirtschaftlich vom Täter abhängig oder stellen sich vor, wie es sie öffentlich bloßstellen würde, ihren Partner wegen einer solchen Sache anzuzeigen. Es gibt auch Frauen – fast alle wurden sie selbst als Kinder missbraucht -, die eine aktive Rolle spielen und ihr Kind dem Partner zuführen, und es gibt Frauen, die selbst Kinder missbrauchen.
Wenn Mütter Angst haben, eine solche Tat anzuzeigen, wird es Zeit, dass die Gesellschaft und vor allem die zuständigen Institutionen sich überlegen, wie sie glaubwürdiger gegen sexuellen Missbrauch in der Familie vorgehen können,“ schreiben Ray Wyre (er arbeitet therapeutisch mit Tätern) und Anthony Swift in ihrem Buch „Und bist du nicht willig – DIE TÄTER“.
Ursula Enders von „Zartbitter“ in Köln schreibt im Vorwort zu diesem Buch: „Ray Wyres Erfahrungen widerlegen den Mythos, sexuelle Gewalt sei oftmals ein zufälliger und einmaliger Fehltritt. (…) Er zeigt vielmehr, dass sexuelle Gewalt eine Wiederholungstat ist. Er zeigt auch, WIE SYSTEMATISCH SICH TÄTER IHRE OPFER SUCHEN UND DIE GEWALTTATEN VORBEREITEN.“(Hervorhebung durch mich)
Wir müssen die Täter im Fokus behalten! – und wir müssen fordern, dass SIE zur Rechenschaft gezogen werden und für ihre Taten die Verantwortung und alle daraus folgenden Konsequenzen tragen.
Dazu müssen wir als Gesellschaft unsere Leitbilder überdenken: „Vergewaltigung und sexueller Missbrauch an Frauen, Mädchen und Jungen finden im Umfeld einer Gesellschaft statt, die bestimmte Ansichten vertritt und auf eine bestimmte Art und Weise mit solchen Delikten umgeht. In modernen Wettbewerbsgesellschaften ist Nachdenklichkeit keine besonders geschätzte Eigenschaft, und wir haben kein großes Interesse daran zu verstehen, warum manche Männer zu Vergewaltigern werden, auch wenn uns das helfen könnte, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Die Reaktionen der Gesellschaft auf Vergewaltigung reichen von Belustigung bis zum Ruf nach Vergeltungsmaßnahmen (…). Ersteres dient einigen Vergewaltigern zur Rechtfertigung ihrer Taten, (…). Wir müssen unsere Haltung und unsere Bewertungskriterien grundlegend ändern, sowohl was Vergewaltigung und andere Sexualstraftaten angeht, als auch hinsichtlich der Behandlung von Opfern und Tätern.“ (Ray Wyre, Anthony Swift „Und bist du nicht willig – DIE TÄTER“)
Hallo,
eine Idee, warum Angehörige sich auf die Seite des Täters stellen, bzw. aktiv „wegsehen“:
Weil das einfacher ist, als gegen die Täter vorzugehen. Wenn man eh schon einen eher ängstlich-abhängigen Charakter hat und wenig Selbstwertgefühl, dann fällt es doch doppelt schwer, gegen einen vermeintlich „starken“ Menschen vorzugehen.
Und leider – Übergriffigkeit gilt bei uns immer noch als „männliche“ und somit „starke“ Eigenschaft.
Diese positive Bewertung alles vermeintlich „männlichen“ ist es, was die Veränderungen so schwer macht.
Was die TherapeutInnen betrifft:
Sie empfinden sicherlich Hilflosigkeit und Wut angesichts der Tat und somit auch Hilflosigkeit und Wut gegenüber dem Täter. Sich diese Gefühle einzugestehen und konstruktiv damit zu arbeiten kennzeichnet gute TherapeutInnen.
Denn erst diese echte, aus der mitempfundenen Ambivalenz geborene Empathie ermöglicht es Patient und Therapeut eine Sicht und Umgehensweisen zu entwickeln, die genau zu dem entsprechenden Patienten passen.
Da aber viele Therapeuten lieber mit bestimmten „Methoden“ arbeiten als mit Selbstreflektion und viele es auch nicht aushalten, sich ehrlich mit eigenen, mitunter auch schmerzhaften Anteilen auseinanderzusetzen, kommt es eben zu diesem Fokus.
Auch Norbert Denef hat ja unter der Rubrik „Offener Brief“ von seinen Erfahrungen auf dem Kongress „KörperPotenziale in der Psychotherapie“ berichtet.
Vielen Therapeuten geht es vor allem darum, sich gegenüber dem Patienten abzugrenzen.
Es gibt Therapieschulen, bei denen das offenbar das wesentlichste Element der Ausbildung ist.
Nun ist Abgrenzung als Fähigkeit zwischen sich und anderen zu unterscheiden sehr wichtig.
Aber viele Therapeuten verstehen darunter, sich möglichst distanziert-skeptisch zu verhalten und sich so weit als möglich von den Patienten zu unterscheiden, am besten indem man sich auf eine andere – höhere – Stufe stellt, kategorisiert oder sich insgeheim über die Patienten lustig macht.
Irvin D. Yalom, streitbare Koryphäe seines Faches, renommierter Psychoanalytiker und Autor rät in seinem Buch „die rote Couch“ genau das Gegenteil:
Dem Patienten genau zuhören, viel fragen, sich in ihn hineinversetzen, seine Situation nachfühlen, versuchen, ihn zu verstehen und nach eigenen, ähnlichen Erfahrungen und Gefühlen suchen – das sind für ihn Haltungen, die einen guten Therapeuten ausmachen.
Wenn ich also als TherapeutIn Hilflosigkeit angesichts der Schilderungen und der Emotionen der Patienten empfinde und das abwehren muss, weil ich selbst auch nicht damit umgehen kann, dann ist es doch ganz einfach, einen „Nebenschauplatz“ zu eröffnen, auf dem die Emotionen nicht ganz so heftig sind.
Außerdem gibt es auch viele Therapeuten, die einem erschreckend reaktionären Mutterbild anhängen.
Die Mutter ist für alles verantwortlich, was dem Kind widerfährt. Auch für den Missbrauch.
Finde den Hinweis von Petra auf das Buch von Ray Wyre und Anthony Swift gut. Werde ich mir zulegen.
Danke!
In dem Zusammenhang möchte ich noch mal an folgenden, hier hinterlegten Artikel erinnern („Wissenschaft/Forschung“ 8.9.2009):
„Sexueller Missbrauch unter Jugendlichen häufig“
Sozialpsychologin: “Pornografie lehrt sexuelle Verhaltensdrehbücher”
Zitat :
„Sie untersuchten Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren, von denen 90 Prozent bereits sexuelle Erfahrungen hatten. Die Ergebnisse schockierten selbst die Studienautoren. Jedes sechste Mädchen gab an, bereits ein- oder mehrmals zum Sex gezwungen worden zu sein, eines von 16 Mädchen berichtete über eine Vergewaltigung vom Freund oder Ex-Freund. Jedes vierte ist körperlicher Gewalt ausgeliefert und wurde bereits vom Freund geohrfeigt, geschlagen oder regelrecht verprügelt. Jedes dritte Mädchen leidet an sexuellen Handlungen in der Beziehung.
….
“Schockierend ist, dass so viele Jugendliche Gewalt oder Missbrauch in der Beziehung normal finden. Viele berichten ihren Eltern gar nicht, was wirklich passiert”, berichtet NSPCC-…..
Zitatende
Fazit: Sexuelle Gewalt ist schon unter Jugendlichen „völlig normal“. Sie verhalten sich zudem ziemlich rollenkonform.
Jungen „jagen“ Mädchen, Mädchen leiden unter der Sexualität der Jungen.
Warum sollten diese Jungen ihre „erfolgreichen“ Verhaltensweisen denn ablegen? Warum sie nicht auf Kinder ausdehnen? Zumal diese „einseitige“ Art seine Sexualität zu leben die Jungen wahrscheinlich schnell „langweilt“ – Kunststück – sie ist ja völlig mechanisch und beziehungslos.
Aber: Glücklicherweise weist die Pornoindustrie auch hier einen Weg –
Sex mit Kindern oder Tieren, Menschen verstümmeln, demütigen oder töten verspricht immer noch eine Steigerung.
Diese Jungen sind nicht per se „böse“. Sie handeln nur falsch. Sie sind psychosozial unreif und „dumm“. Sie haben keine Ahnung, wie man eine Beziehung aufbaut und führt. Mangels guter Vorbilder – Vaddern ist nämlich auch nicht anders – orientieren sie sich an „Onkel Porno“ und der stellt die sexuelle Welt da, wie der männliche Kunde sie sich wünscht:
Anspruchslos. Pömpeln kann schließlich jeder. Endlich mal ein Erfolgserlebnis.
Die Täter von morgen, wenn wir nicht aufpassen.
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Liebe Petra,
ich sehe das etwas anders. Meine Mutter hat mich nicht missbraucht, das ist klar, sowohl mir wie auch meiner Therapeutin. Aber: Ist der Hehler nicht wie der Stehler? Ich bin selbst Mutter, meine Kinder sind jetzt erwachsen, aber ich hätte mir im Leben nicht vorstellen können, sie NICHT zu schützen, wenn irgendwer ihnen etwas hätte antun wollen. Für mich ist dieses stille Dulden genauso schlimm wie die Tat an sich. Als ich mein Buch schrieb, sind mir viele Lichter aufgegangen. Vor allem stellte und stelle ich mir seither die Frage, ob die Missbräuche schlimmer waren als die Kaltschnäuzigkeit meiner Mutter. Das klingt heftig, aber mir fehlt da wirklich noch das Fazit. Vielleicht liegt es daran, dass ich damals noch recht klein war (6 und 9 Jahre), mich erschreckt dieser Vergleich jedenfalls ziemlich stark.
Viele Grüße,
Elke
Liebe Angelika,
ja, deine Beschreibung trifft auf meine Mutter zu! Vor drei Jahren waren wir bei meiner Tante zu Besuch, die plötzlich erzählte, dass ein Onkel meiner Mutter sie mit 18 Jahren missbrauchen wollte. Kommentar meiner Mutter: „Meine Güte, stell‘ dich doch nicht so an, das ist doch Verwandtschaft gewesen!“ Wie gesagt, sowas gibt meine Mutter heute noch von sich!
Aber selbst wenn man diese Einstellung und Einordnung der mütterlichen Schwäche so akzeptieren und verstehen kann, wie du es schreibst – es macht es nicht leichter und nicht besser. Mütter sind eine ganz besondere Spezies, die üblicherweise um ihre Kinder kämpfen wie eine Löwenmutter es tut. Für mich gibt es keine Entschuldigung für ein derartiges Verhalten – ich will dafür auch gar kein Verständnis aufbringen, denn dann käme ich mir so vor, als müsste ich verzeihen, und auch das will ich nicht mehr.
Mit meiner Therapeutin habe ich großes Glück. Sie lacht mit mir und sie hat auch schon mit mir geweint. Letzteres sehr selten, aber es kam vor und war mir sehr sympathisch, obwohl sie es etwas unprofessionell fand. Mir tat ihre Anteilnahme in diesem Moment gut, ich sagte es ihr und alles war wieder gut. 😉 Sie lässt mir jeden Freiraum und führt mich extrem behutsam.
Viele Grüße,
Elke
Liebe Angelika, liebe Elke,
ich gebe euch beiden unumwunden Recht!!! Wir wissen ja bereits, dass das Thema eben sehr viele kompexe Ebenen hat und wir deshalb aushalten müssen, dass wir in unseren Kommentaren häufig nur einen Aspekt näher beleuchten, bzw. verfolgen können. Desalb ist es ja so gut, dass wir immer wieder neue Fäden aufnehmen, neue Aspekte herausarbeiten. Alles zusammen ergibt dann einen „ExpertInnen-Teppich“, mit dem wir dann auch „Klugscheißern“ von außen (seien es unreflektierte TherapeutInnen, sonstige – häufig selbsternannte – „Fachleute“, Nichtbetroffene, Angepasste, Dummschwätzer, etc.) etwas entgegenzusetzen haben.
Ich kann TOTAL NACHVOLLZIEHEN, liebe Elke, dass du dich – wie viele von uns – fragst, ob die Reaktion der Umwelt (AUCH DER MÜTTER!!) nicht das Schlimmere ist/war. Dieser Aspekt taucht in vielen Berichten und Literatur auf, nicht zuletzt auch bei K.Kuehnle (US-amerikanische Psychologin), die feststellt, dass die Frage, ob und welche Folgen Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt zeigt, deutlich mit der Reaktion des Umfeldes korreliert.
Auch ich will Mütter (ob selbst missbrauchend oder als Mittäterin) nicht per se freisprechen (und ich denke, das habe ich mit dem Hinweis, dass das eine eigene gruslige Auseinandersetzung ist, auch erwähnt)! Aber ich wollte darauf hinweisen, dass in diesem Zusammenhang darauf Acht gegeben werden muss, dass dabei nicht wieder die Täter aus dem Fokus gelassen werden. Das ist alles.
Wozu wir uns – trotz unseres großen Bedürfnisses nach „guten Müttern“ – auch nicht hinreißen lassen dürfen (meiner Meinung nach), ist, selbst einseitig zuschreibenden Rollenbildern (wie beispielsweise das von der „Löwenmutter“ – was ja auch einem gesellschaftlich-kulturellen Klischee entspringt) aufzusitzen.
Ich bin selbst Überlebende UND Mutter, und ich weiß, dass das eine SEHR SCHWIERIGE KONSTELLATION ist oder für manche Frauen sein kann. Wie viele hier kann ich heute rückblickend erkennen, dass ich AUFGRUND MEINER TIEFEN SEELISCHEN VERLETZUNGEN nicht immer so eine Mutter sein konnte, wie ich sie gerne gewesen wäre. Sicher: Ich habe meinen Sohn nicht sexuell gewalttätig behandelt. Aber das in mir eingeschlossene traumatisierte Kind hat mit seinen schrecklich großen Ängsten und Verdrängungen die Gefühle meines Sohnes nicht immer adäquat spiegeln können. Eine Tatsache, die für mich sehr schwierig ist, die aber AUCH DEN TÄTERN als Traumafolge anzulasten ist (auch wenn ich mich meinem Sohn gegenüber selbst verantworten muss).
Und ich möchte abschließend auch Angelika Recht geben, wie sie das gängige therapeutische Verhalten und Verständnis skizziert. WIR wissen HEUTE (nach vielen Jahren der Auseinandersetzung damit), dass viele Therapeuten eben aus Angst, falsch verstandener „Neutralität“, reaktionären Vorstellungen, Unreife usw. nicht wirklich hilfreich für uns sind, sondern im Gegenteil uns weiteren großen Schaden zufügen können (sie gehören ja im weiteren Sinn ebenfalls zum – oben erwähnten – „Umfeld“, von deren Reaktion sehr abhängt, ob und welche Folgen die Traumatisierungen generieren). Der einzige Einwand meinerseits zu diesen ansonsten einhundertprozentig zutreffenden Ausführungen: Es sind leider VIEL ZU WENIGE TherapeutInnen, die die beschriebene hilfreiche Haltung einnehmen können, und leider VIEL ZU VIELE, die das nicht können (oder nicht wollen) und daher schädlich für uns sind. Und die „Guten“ zu finden, ist – besonders, wenn frau noch sehr tief in den eigenen Ängsten und Selbstablehnungen verstrickt ist – eine schier unüberwindbare Hürde. Übrigens: ICH habe sie noch nicht gefunden….
Noch etwas zu den Müttern:
SELBSTVERSTÄNDLICH müssen auch sie mit ihrem Handeln (bzw. Nicht-Handeln) konfrontiert werden (dürfen). SELBSTVERSTÄNDLICH müssen sie sich ihrer Verantwortung in dem ganzen Geschehen stellen.
Sie SIND TEIL des Systems, in dem die Taten geschehen konnten, und daher SELBSTVERSTÄNDLICH ebenfalls für ihre Anteile zur Rechenschaft zu ziehen.
Wovor ich aber warnen möchte:
Gerade dieses ganze „Mutter-Thema“ (insgesamt, nicht nur beim Thema sexualisierte Gewalt) ist gesellschaftlich extrem hochemotional und ambivalent besetzt. Wenn wir da eben nicht aufpassen und reflektiert hinschauen, könnten unsere Schlüsse zu kurz geraten!
Wir müssen die Beteiligung der Mütter (und Frauen) immer im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Rollenzuschreibungen, unbewusster Erwartungen, traditioneller Frauen- und Männerklischees, eigener Muttererfahrungen, eigener Ansprüche an Umsorgtsein, etc. reflektieren.
Deshalb erwähnte ich ja die Aussage von Wyre/Swift: „Wenn Mütter Angst haben, eine solche Tat anzuzeigen, wird es Zeit, dass die Gesellschaft und vor allem die zuständigen Institutionen sich überlegen, wie sie glaubwürdiger gegen sexuellen Missbrauch in der Familie vorgehen können.”
WIR ALLE müssen uns fragen, was Frauen und Mütter dazu bringt, NICHT wie eine „Löwenmutter“ für ihre Kinder sorgen und kämpfen zu können.
Wir dürfen uns nicht an der einzelnen versagenden Mutter festbeißen – auch wenn unsere persönliche Auseinandersetzung AUCH eine mit der individuellen, persönlichen Mutter ist.
Es sind doch zu viele, die weggesehen haben (und noch wegsehen), die geschwiegen haben (und noch schweigen), die aushalten statt drauf- und dreinzuhauen (im übertragenen Sinn!!). Das IST kein Einzelversagen einer unfähigen Mutter; es sind – wie immer – die Machtverhältnisse, die wir uns ansehen müssen!
Bisher jedenfalls profitieren erstmal nur die Täter davon, dass im Zusammenhang von (bekannt gewordenen) Traumatisierungen durch sexualisierte Gewalt schnell die Empörung über die Mütter, die „sowas zulassen“ hochkocht. Sie profitieren von kulturellen Bildern und Strukturen, in denen Frauen die „kindernahen“ Dienste zugeschrieben werden, während Männer eher als „kinderfern“ (Ha, ha – in unserem Fall!) gelten. Das heißt, wir (als Gesellschaft) geraten schneller in Wallung bei Müttern/Frauen, die mit Kindern nicht adäquat umgehen, als bei Männern. Von denen erwarten wir (als Gesellschaft) es eh weniger.
Mütter/Frauen sind keine besseren Menschen. Daher müssen sie auch nicht moralischer, „besser“ handeln oder sein.
Mütter/Frauen sehen sich aber in unserer Gesellschaft sehr komplexen, teilweise auch extrem gegensätzlichen Anforderungen gegenüber: Sie sind einerseits nach wie vor das „nachrangige“ Geschlecht (ich weiß, ich weiß: offiziell wird anderes verlautbart!! Ich würde darauf ausführlicher gerne an anderer Stelle eingehen!), andererseits werden an sie höhere moralische, pflegerische, „versorgende“ Forderungen gestellt.
„Das gesellschaftliche Bild der idealen Frau ist das einer geduldigen, aufopferungsvollen und gehorsamen Dienerin; ihr wurde beigebracht, anderen Regeln zu folgen als der ideale Mann, der als autonom, erfolgsorientiert und selbstbewusst beschrieben wird.
In diesem gesellschaftlichen Modell belohnt der ideale Mann die Geduld und die Selbstaufopferung der idealen Frau damit, dass er auf seinem edlen Ross dahergeritten kommt, sie von jeder Qual und jeder Arbeit befreit und sich um sie kümmert.
Somit ist die masochistische Frau (Freud) nichts weiter als die verletzlichere Variante der idealen Frau.
Sie ist so abhängig, dass sie sich stärker davor fürchtet, verlassen zu werden, als davor, grob behandelt zu werden.
Weil sie ihres Selbstwertgefühls beraubt ist und sich zu ohnmächtig fühlt, um bedeutsame Verbesserungen in ihrem Leben vorzunehmen, verhält sie sich so, dass andere sie als abhängiges Opfer betrachten und behandeln.
Dadurch entsteht ein Teufelskreis, dem sie nicht entrinnen kann – bis zu dem Zeitpunkt, da die Gesellschaft und die Psychiatrie damit aufhören, ihr für ihr Verhalten die Schuld zu geben, und endlich anfangen, ihr zu helfen“, schreiben Susan Swedo und Henrietta Leonard („Alles nur psychisch?“).
Ich würde lediglich ergänzen „aufhören, ihr für ihr Verhalten ALLEIN die Schuld zu geben, und endlich anfangen, DIE WAHREN URSACHEN AUSZUMACHEN UND ABZUSTELLEN.
Liebe Petra,
in den meisten Punkten gebe ich dir natürlich recht und unterschreibe ich das, was du sagst, wobei es sicher auch schon vor 50 Jahren gesellschaftlich sehr unterschiedliche Stellungen von Frauen/Müttern gab und meine zu denen gehörte, die recht selbstbewusst und eigenverantwortlich waren. Sie hatte ausreichend Selbstwertgefühl und war relativ unabhängig.
*Mütter/Frauen sind keine besseren Menschen. Daher müssen sie auch nicht moralischer, “besser” handeln oder sein.*
Nein, besser nicht, dennoch erwarte ich von einer Mutter (und auch von einem Vater) mehr, als von Menschen ohne Kinder. Sobald man in die Elternrolle schlüpft, übernimmt man eine riesige Verantwotung für sein Kind. Man ist plötzlich nicht mehr nur sich selbst gegenüber verantwortlich, sondern auch für ein anderes Lebewesen. Und was gibt es mehr zu schützen als so ein Lebewesen? Ich erwarte von einer Mutter schlichtweg, dass sie Verantwortung zeigt für ihr Kind, dass sie für es eintritt, es behütet und beschützt und dennoch frei aufwachsen lässt. Klingt schwierig, ist es aber nicht. Man braucht nur ein bisschen Verantwortungsgefühl…
Und noch etwas fällt mir ein: Meine Mutter bestreitet bis heute, dass mir damals „etwas“ passiert ist. „Sowas gab es früher nicht!“ ist ihre Redensart. Sie stellt mich als Lügnerin hin, wie auch schon vor fast 50 Jahren.
Hallo Elke,
ich kann gut nachvollziehen, dass Du von Deiner Mutter andere Reaktionen erwartest. Z.B. Verständnis, Nachfragen, Empörung und Anteilnahme wegen dem, was Dir passiert ist.
Stattdessen „Sprüche: „So was gab es früher nicht“ oder – zu Deiner Tante: „Stell Dich nicht so an…“
Solche Reaktionen aus der nächsten Familie kenne ich bestens, wie die meisten hier.
Als Jugendliche haben sie mich in tiefste Niedergeschlagenheit rutschen lassen, mittlerweile weiß ich, was dahinter steckt – durch ehrliche Gespräche mit Menschen, die in meinem früheren familiären Umfeld leben und mit denen ein Austausch möglich ist. Manche haben mich damals sogar von sich aus angesprochen, weil sie gemerkt haben, dass es mir nicht gut ging. Und das rechne ich ihnen noch heute hoch an.
Unter anderem der freundliche, sachlich-kritische Blick dieser Menschen auf meine Familie hat mir geholfen, einen gesunden Abstand zu gewinnen und mich gelehrt, mir vorzunehmen, mich nie auf den „ersten Eindruck“ und nie auf das, was „erzählt“ wird zu verlassen. Es gibt immer mehrere Blickwinkel, jede Geschichte ist anders und verändert das Bild.
Im Laufe der Zeit habe ich viel gelesen, gehört, nachgedacht. Eigene Therapien, Fortbildungen die ich besucht habe, Literatur, Internetforen, alles hat das Bild so langsam vervollständigt.
Und ich sehe viel was System hat (politische und soziale Hintergründe), aber auch, dass jeder „Fall“ einzigartig ist.
Warum auch immer Deine Mutter so reagiert hat, wie sie reagiert hat – wenn sie nicht in der Lage ist, ein gutes empathisches, ehrliches Gespräch zu führen ist jede Kommunikation mit ihr über den Missbrauch sinnlos.
Diese Gespräche tun Dir wahrscheinlich nur unnötig weh – und Deine Mutter hat erreicht, was ihr offenbar am wichtigsten ist – dass ihr das Leugnen ermöglicht wird.
Du beschreibst sie als selbstbewusste, unabhängige Frau. Das allein ist keine Garantie dafür, dass sie im Falle von sexueller Grenzüberschreitung souverän reagieren kann. Die von Dir zitierten Kommentare deuten auf eine von ihr aggressiv betriebene Verdrängung hin.
Wer weiß, was sie für Gründe hatte (insgeheim, hinter ihrer „selbstbewussten“ Fassade) Dir nicht zu helfen, sondern Dich im Stich zu lassen, sogar anzugreifen.
Nur mal als Anregung, welche Gründe ich im Laufe der Zeit so alle gehört und entdeckt habe, den eigenen Kindern nicht zu helfen, wenn sie sexuell missbraucht werden/wurden (von Betroffenen und Müttern und Vätern von Betroffenen):
– Angst, dass sich das „herumspricht“ und man als „schlechte Eltern“ dasteht
– grundsätzliche Haltung, dass es dem eigenen Kind nicht besser gehen soll, als einem selbst, bzw. als es einem selbst in der Kindheit ergangen ist
– „gerechte Strafe“ für das Kind, weil man es als „frech, übermütig, dumm, böse…“ ansieht
– „gerechte Strafe“ für das Kind, weil es begabter, klüger, besser, hübscher, beliebter ist, als man selbst
– Angst, dass die Schuld für den Missbrauch auf das Kind zurückfällt und das Kind gebrandmarkt wird
– Angst, an den eigenen, unbearbeiteten Missbrauch erinnert zu werden und vor allem daran, dass man „schon wieder“ hilflos war und ihn nicht verhindern konnte
– wirtschaftliche Abhängigkeit, Angst wirtschaftliche Unterstützung durch den Missbraucher zu verlieren (besonders verbreitet im „Prekariat“ und bei Frauen, die nicht berufstätig sind und mehrere Kinder haben)
– Angst, dass „das Amt“ davon erfährt und die Kinder „wegnimmt“ oder einen vor die Wahl stellt : Partner weg oder Kinder weg
– Angst, dass die eigene Idealisierung der Familie und der Angehörigen/Freunde/Mitarbeiter in Frage gestellt wird (von wegen „früher gab es so was nicht“)
– Angst, dass der Alkoholmissbrauch/Medikamentenmissbrauch, der mit dem sexuellem Missbrauch in Zusammenhang steht, entdeckt wird (der eigene und/oder der des Partners)
– Angst vor der eigenen Courage (ich könnte eigentlich schon müssen wollen, aber trauen traue ich mich nicht…)
– Angst, dass die mühsam aufrechterhaltene Fassade von sich und der eigenen Familie zusammenbricht (besonders verbreitet in aufstiegsorientierter Mittelschicht)
– Angst, dass man selbst wieder als „Sexpartner“ herhalten muss, wenn das Kind nicht mehr zur Verfügung steht
Und im Umfeld (Freunde, Verwandte, Kollegen, Nachbarn) kommt noch hinzu:
– Angst, dass in diesem Gespräch herauskommt, dass ich, nämlich der Gesprächspartner, selbst ein Verlangen spüre, Kinder zu missbrauchen oder das bereits tue
– Angst, dass ich durch dieses Gespräch meine idealisierende Haltung, was das Thema Sexualität angeht, in Frage stellen muss (auch da viel Verdrängung)
Manchmal starte ich eine persönliche kleine Umfrage, warum Menschen sexuelle Beziehungen führen – häufig wird erstmal – politisch korrekt geantwortet: „weil es Spaß macht, schön ist, man den Partner liebt“.
Hake ich nach, kommt dann nicht selten: „na, das gehört doch dazu, der Partner erwartet das von mir, ich brauche meine Streicheleinheiten…“.
Diese Kommentare kommen übrigens von Frauen und Männern, Männer antworten aber nicht so gern ehrlich, bzw. zögerlicher.
Wenn man so eine Haltung Kindern vorlebt (sich Zuwendung im Zuge von sexuellen Handlungen „erkaufen“ und dann noch so tun, als finde man das o.k.), dann ist das zum einen verlogen, zum anderen fördert es Missbrauch.
Denn die Kinder identifizieren sich erstmal mit diesen Werten. Erst im Zuge der Pubertät stellen sie sie in Frage. Mehr oder minder erfolgreich.
Ein Gedanke noch dazu: Möglicherweise hast Du viel mehr von einem Gespräch unter 4 Augen mit Deiner Tante – von der Du oben berichtet hast. Oder von anderen Verwandten oder Freunden aus dem Umfeld, die Deine Familie gut kannten/kennen. Ich glaube nicht, dass Du von ihnen auch als „Lügnerin“ hingestellt wirst, sondern ganz im Gegenteil, dass Du wahrscheinlich erhellende Kommentare hörst.
Bei mir gibt es Verwandte, die mir sehr nahe standen, die es gut mit mir meinten und die plötzlich verstorben sind.
Ich bereue es zutiefst, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, mich intensiv mit ihnen zu unterhalten. Mit ihnen stirbt auch ihr Wissen, ihre Ansichten und ihre Erinnerungen. Manch einer hat vielleicht noch irgendwas auf dem Herzen gehabt, was er noch loswerden wollte.
Gerade in der Nachkriegszeit wurde im Zuge der kollektiven Verdrängung von Allerlei gelogen und vertuscht, was das Zeug hält. Aber nicht jeder war damals sicherlich damit glücklich. Hätte aber Ausgrenzung und Diffamierung erleben müssen, wenn er/sie die Wahrheit erzählt hätte.
Man denke nur mal daran, wie es Norbert Denef noch ergangen ist. Dabei hat er Anfang der 90er angefangen, sich und die anderen mit der Wahrheit zu konfrontieren.
Dabei herrschte damals schon ein etwas offeneres Klima als noch Jahrzehnte vorher.
Na für dieses Jahr habe ich mir jedenfalls vorgenommen, mindestens einmal die von mir geschätzten Verwandten und Freunde von früher zu besuchen und gute Gespräche mit ihnen zu führen.
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Hallo Angelika,
inzwischen weiß ich genau, dass mit meiner Mutter nicht zu reden war, ist und sein wird. Sie bastelt sich ihre eigenen Wahrheiten und – wie du schon sagst – ist jeder Versuch, mit ihr darüber zu reden, für mich einfach nur schmerzhaft, beleidigend und unnütz.
Von meiner Seite her will ich auch gar nicht mehr die Gründe wissen, weshalb sie mir nicht beigestanden hat, sie sind mir völlig egal. Ich will weder Mitleid mit ihr haben noch irgendetwas verstehen, das ist für mich der „leichteste“ Weg, mit den Dingen umzugehen. Und obwohl ich sonst ein sehr offener und auch immer noch vertrauensseliger Mensch mit einem großen Herzen bin, akzeptiere ich hier keinen einzigen Rechtfertigungsgrund einer Mutter, die ihr Kind nicht vor derartig grausamen Ein- und Übergriffen schützt.
Puh, dies so bestimmt zu schreiben ist schon heftig…
Unsere Familie ist sehr klein, meine Mutter hat keine Geschwister und mein Vater hatte nur eine Schwester, meine Tante. Mit ihr rede ich oft über meine Mutter, auch sehr offen, aber nicht über dieses Thema. Ich habe einfach Angst, dass der zweite Täter, ein sehr naher Verwandter von mir, davon erfahren und mich vor Gericht zerren könnte – hier greift dann wieder Norberts Einsatz bezüglich der Verjährung. Irgendwie klemme ich da in einem Maulkorb…
Ich finde das Thema sehr interessant, und wenn ich Norbert zuviel werden sollte (Norbert, bitte melde dich dann bei mir!), dann bin ich gerne bereit, ein kleines Forum dafür einzurichten.
Viele Grüße,
Elke
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Hallo Elke,
da ich jeden Artikel redaktionell bearbeite bevor ich ihn freischalte, würde ich mich bei Dir melden „wenn es zuviel werden sollte“.
Vielleicht ist dieser Artikel für Dich interessant, was den „Maulkorb“ betrifft:
http://norbert.denef.com/2009/04/05/erfolgreiche-verfassungsbeschwerde-missbrauchsvorwurf-gegen-den-vater/
Herzliche Grüße
Norbert Denef
Hallo Elke,
ich weiß nicht, was für einen Charakter Deine Tante hat, aber was spricht denn dagegen in einem persönlichen, vertraulichen privaten Gespräch von dem Missbrauch zu berichten?
Die Fälle, in denen es um „Verleumdung“ ging, beziehen sich auf Äußerungen in der Öffentlichkeit, auch Anzeigen, Briefe, Gespräche mit „öffentlichen“ Stellen, Medien und Veröffentlichungen.
Wer sexuell übergriffig handelt, tut das selten nur einmal. Es hat System. Du bist wahrscheinlich nicht die Einzige.
Im Weltbild der Täter gibt es im Bereich Sexualität jemanden, der mächtig und stark ist, der der „Handelnde“ ist, den anderen „benutzt“ und „stolz“ auf seine „Heldentat“ sein darf. Diese an sich bedauernswert asoziale Person wird gemeinhin als „Täter“ bezeichnet.
Um überhaupt so denken und handeln zu können, muss man emotional und mental schon ziemlich auf den Hund gekommen sein. Das trifft leider auf etliche Menschen zu.
Häufig reicht dazu schon der minimale Frontalhirnschaden, den regelmäßiger Alkoholkonsum mit sich bringt(nach dem Motto: ein echter Mann verträgt was – jede Gefühlsregung wird mit Alkohol begossen!)
Wenn man allein bedenkt, wie viele Leute regelmäßig etwas bis viel zu viel Alkohol trinken in unserem Land.
Die andere Person, allgemein „Opfer“ genannt, hat schwach und minderwertig zu sein, sich stumm benutzen zu lassen und sich gefälligst zu schämen.
Nach dieser von außen betrachtet total perversen Logik, wird sich die Person „Opfer“ nicht rühren und sich auch nicht melden. Insofern darf die Person „Täter“ davon ausgehen, dass sie solche Taten so oft sich die Gelegenheit bietet wiederholen kann.
Ich habe Dich nicht so verstanden, dass Du vorhast, eine große Öffentlichkeit herzustellen. Sondern Dich auszusprechen. Im privaten Rahmen.
Insofern kann doch eigentlich nicht viel passieren, wenn Du z.B. mit Deiner Tante sprichst. Ich möchte wetten, dass sie ziemlich genau weiß, was die „bucklige“ Verwandtschaft so alles auf dem Kerbholz hat…
Grüße von
Angelika Oetken, Berlin
Schmerzlich für die junge Frau die erneut gedemütigt wurde vom Staat und von der Kirche. Tragisch und Enttäuschend.
Bei der Konfrontation kommt es mit Sicherheit auf die Art und Weise an und wie stabil die Person ist.
Meine Konfrontation fand in Form von Briefen, einem Buch (Rette mich…) und Telefonaten statt.
Sicher war es auf der einen Seite sehr verletzend, den Aussagen wie:
Ich wusste nicht, dass es für dich so schlimm war
oder
Willst du einen alten Mann fertig machen? Ich sterbe sowieso bald, dann hast du erreicht was du wolltest.
Die anderen haben auch mitgemacht usw.
und doch bin ich froh, dass ich diesen Schritt getan habe. Für mich haben sich seit dem die Ängste verändert. Sie können mir keine Angst mehr machen.
Strafrechtlich können Sie leider nicht mehr verfolgt werden, nicht von mir aber ich habe andere Methoden gefunden, die Öffentlichkeit zu informieren.
Seid diesen Tagen hat sich kein Täter mehr an mich gewandt, um mich zu manipulieren.
Meine Familie konnte ich nicht als Vertraute hinzuziehen. Es ist ein Generationsmissbrauch, wissentlich in der zweiten und dritten Generation.
Viele Betroffene, nur wenig bis gar keine Überlebenden die ein Strafverfahren anstreben, da sie immer noch in den Fängen der Familientradition, der Familienethik und ihrem Kodex: „Familie ist alles, wenn du keine Familie mehr hast, hast du gar nichts“ gefangen sind.
Eine weitere mutige Person gibt es in unserem Kreis, die hoffentlich mehr Gerechtigkeit erfahren wird, da zumindest ihre Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist.
An diesem Gesetz sollte sich dringend etwas ändern.
Persönlich finde ich die Konfrontation trotz ihrer schmerzlichen Seiten, als hilfreich im Heilungsprozess.
Ich kenne das auch mit der Konfrontation. Als Kind habe ich mich – trotz Drohung vom Vater zur Geheimhaltung gezwungen – getraut, meiner Mutter von den schrecklichen Dingen zu erzählen. Daraufhin stellte sie meinen Vater zur Rede, der spielte den Missbrauch herunter: “ Da ist doch nichts gewesen!“ Und meine Mutter schwieg zu seinen Rechtfertigungen! Dann, im Erwachsenenalter, vor über 10 Jahren, entschuldigte er sich bei mir am Telefonhörer aus einer Notsituation heraus, weil er befürchtete, sonst den Kontakt zu den Enkelkindern zu verlieren, für das, was er mir als Kind angetan habe. Mein Mann hörte damals das Gespräch mit. Auch am anderen Telefonende war meine Mutter zugegen und bestätigte das Vernommene nochmals meinem Mann und mir gegenüber.
So, nun habe ich dann gedacht, inzwischen mit der Vergangenheit leben zu können und innerlich weiter mich zermürbt nach dem Wieso und Warum. Habe ewig nach Entschuldigungen für den Täter gesucht. Dann bin ich vor 5 Jahren wirklich stark krank geworden, hatte zuletzt Mobbing am Arbeitsplatz, finanz. Probleme und auch Probleme in der Partnerschaft. Überall gab es nur Probleme. Und nebenbei waren da noch meine beiden Geschwister, ebenfalls Pflegefälle, um die sich die Eltern nicht weiter kümmerten und meinten, mir die Aufgabe zu überlassen und dann meine Mutter, die ständig mir vor jammerte, wie schlecht sie wieder vom Vater behandelt worden sei und wie er sie ständig verbal beschimpfte. Mir war das alles zu viel und mein durch meine Kindheitserlebnisse angeknackstes Selbstwertgefühl nun total im Keller. Ich wurde krank, bekam alle möglichen Krankheiten, hatte u.a. eine Nerven-OP, verlor meinen Arbeitsplatz, was unsere finanzielle Notlage noch mehr verschlechterte und mein Gesundheitszustand rutschte vollends in den Keller. Ich existierte mehr, als das ich lebte. Auch zwei Reha-Aufenthalte brachten keine Besserung und mein Vater, hörte ich von den Kindern dann während meines Aufenthaltes sagen, wetterte schlecht daheim über mich und meinen Gesundheitszustand. Bei dem zweiten Reha-Aufenthalt kam Licht ins Dunkel und bei mir wurde eine schwere PTBS diagnostiziert. Ich brauchte eine Weile, um mir darüber bewusst zu werden, dass meine vielen anderen Krankheiten und häufigen Krankheitsfälle damit im Zusammenhang standen. Da habe ich angefangen, zum erstenmal „Sehen“ zu lernen und dass ich trotz allem genau so reagierte, wie andere Betroffene. Als Kind gelernt, nur angepasst überleben zu können und indem man seine Persönlichkeit in den Schatten stellt, wurde mir dieser Zustand von außen erstmals bewusst gemacht. Das war schon deftig. Ich bin seit 5 Jahren arbeitsunfähig und leide auch unter Panikattacken und schneller Reizüberflutung und ohne Medikamente könnte ich mich nicht über Wasser halten. Der letzte Missbrauch liegt nun schon ca. 35 J. zurück und erst vor 3 Jahren habe ich mit einer Therapie angefangen. Ich denke, dass ist ein Unding, erst nach so langer Zeit dazu in der Lage zu sein, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Darum ist es auch sehr wichtig, dass viel Aufklärung in Kindergärten und Schulen schon betrieben wird, damit den Opfern schnellere Hilfe zukommt und ihnen besser geholfen werden kann!
Jedenfalls riet mir meine Therapeutin dazu, den Kontakt zu den Eltern gänzlich abzubrechen und sie in einem Brief mit dem Gewesenen zu konfrontieren. Ich habe lange gebraucht, mich da durchzuringen, wusste aber auch, wenn ich den Brief abschicke, zeigt meine Mutter diesen sowieso nicht meinem Vater. Ich war auch ewig unsicher, wieviel und was meine Mutter nun letztendlich gewusst hatte, wieviel sie verdrängte, also wieviel Mitschuld sie trug.
Dann habe ich sie vor einigen Monaten mal wieder angesprochen, als sie mich besuchte (mit dem Vater habe ich inzwischen gänzlich den Kontakt abgebrochen) und sie leugnete und heulte mir auf Knien gehend vor, von allem nichts gewusst zu haben. Zu meinem Mann, mit dem sich meine Mutter danach wohl zufällig (?) in der Stadt traf, meinte sie dann zu ihm bezügl. meiner Vorwürfe, mir nicht beigestanden zu haben: „Da steht Aussage gegen Aussage!“ So, und nun letztens meinte sie zu mir, sie versteht überhaupt nicht, warum ich auch unseren Kindern davon erzählt habe! Ich solle mal auf sie als Mutter Rücksicht nehmen und sie müsse sich um ihren Mann kümmern, weil er krank ist (leidet inzwischen stark an Demenz). … Und mein Mann ist auch der Meinung, ich behandele meine Mutter schlecht: „So, wie Du mit Deiner Mutter umgehst, würde ich nie mit meiner Mutter umgehen!“ Nun muss ich mich auch noch rechtfertigen vor ihm! Dann kommen die Erinnerungen hoch: „Stell Dich nicht so an!“ und „Dir glaubt sowieso keiner!“ Da zweifele ich manchmal an meinem Verstand! Und ich hoffe immer noch, dass meine Mutter sagt: „Entschuldigung, dass ich nicht in der Lage war, Dir beizustehen und dass ich die Signale, die ein missbrauchtes Kind auf das Umfeld aussendet, nicht wahrgenommen habe!“ Vor 3 Wochen habe ich nun doch an beide Elternteile einen Brief abgeschickt und warte und hoffe doch noch auf ein Zeichen der Mutter. Mit jedem Tag, der vergeht, schwindet auch die letzte Hoffnung, nicht ganz entwurzelt zu sein. …Traurig, aber ich muss mir endlich bewusst werden, in keinem beschützten Elternhaus aufgewachsen zu sein und nie richtige Vater und Mutter besessen zu haben und mich loslösen – auch wenn die Eltern noch am Leben sind.