Sing für mich, Mutter

Peruanischer Siegerfilm der Berlinale: Claudia Llosas „Eine Perle Ewigkeit“ kommt ins Kino

Von Jan Schulz-Ojala

Auf Quechua war die Berlinale nicht vorbereitet. Die indianische Sprache wird zwar von Millionen Peruanern gesprochen, und die Hälfte der Dialoge des peruanischen Siegerfilms „La teta asustada“ ist in Quechua; für die Schlusszeremonie aber hatte das für sein Organisationstalent stets gerühmte Festival keinen des Quechua mächtigen Dolmetscher vorgesehen. Der Dank der jungen Regisseurin Claudia Llosa auf Englisch: kein Problem. Die ersten überschwenglichen Worte der eindrucksvollen Hauptdarstellerin Magaly Solier auf Spanisch: ebenso wenig. Dann aber wechselte sie in ihre Muttersprache, und der weltfamiliäre Kommunikationsfaden riss ab. Erst als Magaly Solier – nach kurzer, leidenschaftlicher Rede und einem zarten Lied – „Gracias!“ sagte, schaltete sich der Übersetzer erleichtert wieder zu. Danke!

Was aber hatte denen, die den Quechua-Text verstanden, die Augen feucht werden lassen an jenem denkwürdigen Februartag? Was hatte Magaly Solier ausgerufen? Die Berlinale hat das Rätsel dieses anrührenden Augenblicks bis heute auf sich beruhen lassen. Dafür helfen in Berlin lebende Peruaner mit der Übersetzung aus. „Zu allen Frauen in Peru und in der ganzen Welt, zu ihnen allen sage ich, sie sollen keine Angst haben, offen zu sagen, was sie fühlen und wenn etwas Schlimmes mit ihnen passiert ist.“

Ein feministisches Manifest, aber eines der leisen Art, herausgebrochen aus einer Erfahrung des Schmerzes. So wie „La teta asustada“ selbst, Claudia Llosas zweiter Film, der wörtlich und explizit am besten mit „Die verängstigte Brust“ übersetzt ist und nun unter dem reichlich lauen Titel „Eine Perle Ewigkeit“ ins Kino kommt. Es geht um den indianischen Volksglauben, dass sexuelle Gewalt die Muttermilch vergiftet und folglich das gestillte Kind lebenslang am Schrecken der mütterlichen Erfahrung leidet. Es geht, ohne dass dies im Film je verbalisiert würde, um die Zehntausende von Morden und Vergewaltigungen, die im Peru der Achtziger und Neunziger Jahre geschahen, während des Kriegs zwischen Regierungstruppen und der maoistischen Guerilla „Leuchtender Pfad“. Also: um ein nationales Trauma, das vor allem ein Frauen- und Müttertrauma ist. Und um ein kollektives Erinnerungstabu, das ein ganzes Volk einschnürt.

Der Film macht daraus die sanfteste Anklage der Welt. Statt in Wörtern löst sich der Schmerz im Singen. Eine Frau singt ihrer Tochter vor, dass sie, während sie mit ihr schwanger war, vergewaltigt wurde. Dass sie den „mit Schießpulver gewürzten toten Penis“ ihres Mannes essen musste. Und während sie dies mit schöner, brüchig zitternder Altfrauenstimme singt, stimmt die Tochter ein, bindet die Schreckenserfahrung im Gesang. Solch eine unerhörte Anfangsszene hat das Kino lange nicht gesehen; kein Wunder, dass die Jury unter Tilda Swinton nicht zögerte, den ersten peruanischen Beitrag überhaupt in einem Berlinale-Wettbewerb mit dem Goldenen Bären zu ehren.

Die Mutter stirbt bald im Haus irgendwo in den Favelas, die in Lima „pueblos jóvenes“ heißen, junge Dörfer, und damit sie in ihrem Heimatdorf in den Anden begraben werden kann, muss ihre schöne, scheue Tochter Fausta (Magaly Solier) eigenes Geld verdienen. Die Familie des Onkels, die auch Faustas Hilfe bei der Ausrichtung farbenprächtiger und skurriler Armenhochzeiten unter freiem Himmel braucht, vermittelt sie als Hausmädchen an eine reiche Komponistin in der Stadt. Frau Aida (Susi Sánchez) steckt in einer Schaffenskrise – da kommt ihr die indianische Fee mit ihrem versonnen dahingetupften Liedgut gerade recht. Als ihr im Bad eine Perlenkette reißt, verspricht sie Fausta eine Perle für jedes Lied. Schließlich lässt sich aus dem Ethno-Gesang der Dienerin, so der Plan, beim bevorstehenden Klavierabend so mancher Akkord zurechtknödeln.

Das ist schon – fast – die Geschichte, doch auf sie kommt es kaum an. Denn „La teta asustada“ ist ganz Binnenstimmung, Innenansicht einer Welt, aus der Fausta, um mit Magaly Soliers eigener Metapher zu sprechen, mit den Augen eines „ins Wasser eingetauchten Nilpferds“ hinausblickt. Dort draußen droht unablässig die männliche sexuelle Zumutung, gegen die frau sich nur mit verschlossener Körpersprache und einer wie somnambulen Fortbewegung wehren kann. Dazu gehört auch das Prinzip, sich immer nah an Hauswänden zu halten. Nur so, erklärt Fausta dem zurückhaltenden Gärtner Noe (Efraín Solís), sei sie vor der Mordlust der „verlorenen Seelen“ sicher.

Keine Frage, diese Fausta lebt in einem nahezu wahnhaft anmutenden Paralleluniversum aus fragilen Zauberkräften – und die konkret wirkungsvollste Weise, sich gegen den Angriff der Männer zu wehren, glitte restlos ins Bizarre hinüber, wäre sie nicht so selbstverständlich wie diskret inszeniert. Die junge Frau hütet eine Kartoffel in ihrer Vagina, die dort bald lebensgefährdend keimt. Irgendetwas rettet sie dann doch: kein plakatives Ereignis – dafür ist dieser Film nicht gemacht, der so unendlich ausgeglichen zwischen heiteren Familienszenen und einsamen Räumen changiert. Sondern es ist eher die schmale Summe von Einzelheiten, hier eine wachsende Hoffnung, dort ein vorsichtiges Drängen, und irgendwann bricht sich Faustas Vitalität Bahn – die Lust, etwas festzuhalten in diesem Leben, und seien es ein paar lose Perlen.

Nur ganz selten streift sich diesem so körperlich-sinnlichen, zudem sparsam mit Gitarrenklängen unterlegten Film etwas gar zu sorgfältig Kunstgewerbliches über und weht doch in der nächsten erdigen Szene wieder davon. Was sich für lange einprägt, ist die übermächtige und immerstille Schönheit der Hauptdarstellerin, ist das Geisterhaus der Pianistin mit seinen blassen Grün- und Rottönen und sind vor allem die Stimmen: ein polyphoner Klagegesang hoher Frauenstimmen, der sich behutsam in Trost verwandelt. Und wie ging Magaly Soliers Lied in Quechua, das sie ihrer Rede bei der Berlinale-Preisverleihung anfügte? „Als ich klein war, bin ich gefallen und habe mir die Hand gebrochen, und da hast du für mich gesungen. Singen wir, singen wir von dem, was schön ist, verbergen wir unseren Schmerz, um ihn zu vergessen, sing für mich, Mutter, sing für mich.“

Neue Kant Kinos, OmU in Hackesche Höfe, Lichtblick, Moviemento

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 05.11.2009)

Quelle:

http://www.tagesspiegel.de/kultur/kino/art137,2941319