„Jedes fünfte Kind in Europa erlebt sexuelle Gewalt.“ Was auf der Homepage des Deutschen Bundestags nun zu lesen ist, ist seit Jahrzehnten bekannt. Wieder wird also über Pädophilie debattiert, wieder wird sich nichts ändern. Den Kindern nützt das nichts. Denn die Diskussion ist scheinheilig und oberflächlich.

Ein Gastbeitrag von Andreas Huckele

Andreas Huckele, 44, hat seine Gewalterfahrungen in der Odenwaldschule im Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ verarbeitet, es erschien unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers. 2012 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis.

Der mediale Tsunami des Jahres 2010 sprengte meine Vorstellungskraft davon, wie sehr die sexualisierte Gewalt an Kindern zum gesellschaftlichen Thema werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt versucht, Menschen zu finden, die sich für die systematische sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule interessierten. Mit bescheidenem Erfolg. Jetzt sprengt es meine Vorstellungskraft, mit welcher zynischen Gleichgültigkeit die Informationen verarbeitet werden.

2010 wurden unzählige Geschichten sexualisierter Gewalt an Kindern durch die pausenlose Berichterstattung der Medien öffentlich und dadurch Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Durch grauenhafte Geschichten wurde plastisch spürbar, was Erwachsene Kindern antun können. Durch Erlebnisberichte aus der reformpädagogischen Odenwaldschule und dem katholischen Canisius-Kolleg wurde die Spitze des Eisbergs sichtbar, der unter der Wasseroberfläche der allgemeinen Wahrnehmung sein wahres Ausmaß verbirgt: den Horror der sexualisierten Gewalt an Kindern im sozialen Nahfeld. In den Familien. Wer im Jahr 2010 wissen wollte, der konnte wissen. Wer nicht wissen wollte, der wusste auch. Es gab keinen Schritt mehr zurück hinter die Erkenntnis. Weiter lesen…