seuddeutsche.de 25.10.2010
Jahrelang soll ein Lehrer seine Schülerin missbraucht haben, der Fall ist in unzähligen Briefen dokumentiert. Doch der Fall ist inzwischen verjährt – nun hören viele weg.
Am Sonntag, dem Reformationstag, soll die Stiftskirche in Feuchtwangen wackeln. Ein Rock-Oratorium steht zur Uraufführung an, „Mensch, Jakob!“ heißt es, der Jakob ist der aus der Bibel, dem Gott einen neuen Anfang schenkt nach dem Verrat an Esau. Der Feuchtwanger Dekan hat den Text geschrieben, die Musik hat ein 59-jähriger Gymnasiallehrer aus dem nahen Ansbach komponiert. Er dirigiert auch.
Im Sommer las eine 34 Jahre alte Frau in der Lokalzeitung von der Uraufführung, sie soll hier Sarah heißen. Sie sah das Bild dazu, der Lehrer unter dem goldenen Schriftzug „Soli Deo Gloria“, einzig zur Ehre Gottes. Sarah hatte ihre Enttäuschung, ihre Verzweiflung und ihre Wut eigentlich gut weggesperrt, irgendwo tief in ihr drin. Aber als sich das alles zusammensetzte in ihrem Kopf – der Reformationstag, die Stiftskirche, der Dekan, die Ehre Gottes -, da war es, als hätte irgendwer das Schloss gelöst und alles wieder herausgelassen.
Sarah steht auf der Terrasse eines Gasthauses auf einer Anhöhe über Ansbach. Man hat einen herrlichen Blick von hier auf die Giebel, Dächer und Türme der alten Residenzstadt. Die Sonne geht unter, aber Ansbach scheint schon lange zu schlafen. Ins Abendrot hinein fragt Sarah, ob man sich nicht doch lieber drinnen unterhalten könne.
Wenn Sarah ihre Geschichte erzählt, die Geschichte, wie ihr ein Stück Leben gestohlen worden sei, dann weint sie nicht, dann zittert nicht mal ihre Stimme. Wahrscheinlich ist das so, weil sie sich endlich entschlossen hat, zurückzuholen, was noch zurückzuholen ist. Sarah sagt: „Ich will mir meine Heimat nicht nehmen lassen.“
Die Geschichte beginnt 1988 am Ansbacher Gymnasium Carolinum mit einem Rock-Oratorium, so wie dem, das bald die Feuchtwanger Stiftskirche zum Beben bringen soll. Die Aufführung wurde geleitet von jenem Mann, der jetzt auch die Musik geschrieben hat für „Mensch, Jakob!“. Sarah war 12 damals, sie spielte Blockflöte. Sie sagt, sie habe diesen Musiklehrer bewundert, eine Weile trug sie Hawaiihemden und Wollsocken so wie er. Ihre Freundinnen haben sie ausgelacht dafür. Das, was folgte in den Jahren darauf, wird der Lehrer später vor Gericht als „Liebesbeziehung“ bezeichnen, die „Liebesbeziehung“ eines zu Anfang 40-jährigen Mannes mit einem zu Anfang 14-jährigen Mädchen. So argumentiert er, ohne wörtlich zitiert werden zu wollen, auch heute noch.
Sarah hat sich einen Cappuccino bestellt, draußen liegt Ansbach im Dunkeln. Sie erzählt, wie es losgegangen sei, wie ihr der Lehrer unters T-Shirt gegriffen habe auf einer Nachtwanderung am Sonnensee, wie er sich zu ihr ins Bett gelegt habe bei einem Vorbereitungstreffen zum Kirchentag. Sie sei doch noch ein Kind gewesen, sagt sie mit ihrer leisen Stimme, die nicht zittert. „Ich wusste ja nicht einmal, was Sex ist.“
Als der Mann sie das erste Mal im Intimbereich küsste, habe sie nicht verstanden, dass das etwas mit Sex zu tun haben könnte. „Was bringt ihm das?“, habe sie sich gedacht. Das ist das Schwierige an ihrer Geschichte: Dass sie alles, was ihr geschah, erst viel später verstanden hat – zu spät für strafrechtliche Konsequenzen. Unten in Ansbach, wo der Lehrer einflussreiche Freunde haben soll, machten es sich viele Leute deshalb leicht. „Dann wird es so tragisch nicht gewesen sein“, haben sie gesagt, und das sagen sie noch heute.
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