ich glaube es bringt nichts zu erklären wie wir Freunde wurden oder wie es dazu kam das ich erfuhr das sie von ihrem Vater sexuell Missbraucht wurde. Die Vorgeschichte ändert nichts an den Fakten, doch ich weis noch heute jedes Detail von damals, es ist nun 12 Jahre her und ich weine immer noch wenn ich an die Zeit denke.
Ich musste ihr versprechen es nie jemandem zu erzählen, Niemals! Ich war damals 14 und sie war meine beste Freundin. Als ich es erfuhr empfand ich es nicht als schlimm oder als unfassbar, erst heute weis ich, dass ich unter Schock gestanden habe. Ich spürte gar nichts. Ich nahm es zur Kenntnis, mehr nicht. Erst als ich allein war brach alles über mich zusammen. Zorn, Hass, Verzweiflung, Angst und die Frage: Was mache ich denn jetzt? Ich kann doch nicht den Mund halten! Der gehört kastriert, gefoltert, eingesperrt! Ich wollte ihn umbringen, sie retten, wollte weinen, meiner Mutter alles sagen und am liebsten alles zeitgleich.
Das einzige was mir einfiel war bei der Telefonseelensorge anzurufen und da dachte man tatsächlich ich will nur einen Streich spielen, es hatte mich soviel Mut gekostet da überhaupt anzurufen! Beim zweiten Mal glückte es, ich erfuhr, dass es Kindernotaufnahmen gab, dass sie dann nicht mehr zurück muss, dass man ihr helfen könnte und dass sie ihn nie wieder sehen muss. Es dauerte lange bis sie diesen Schritt ging nachdem ich ihr davon erzählt hatte. Auch diesen Schritt sind wir gemeinsam gegangen.
Und noch heute habe ich Fragen, Fragen an die Lehrer die sie jeden Tag gesehen haben, an ihre Mutter, an ihren Vater. Ich will wissen wie man seine eigene Tochter missbrauchen kann! Ich will wissen wie man als Mutter wissentlich wegsehen kann! Ich will wissen wie es sein kann, dass Pädagogen lieber auf mich gegangen sind als Tochter einer allein erziehenden, aber den Hilferuf eines missbrauchten Mädchens nicht gehört haben! Ich will auch wissen wie es sein kann, dass zwei 14 jährige Mädchen sich durch so einen Abgrund kämpfen müssen! Ich will wissen wie es sein kann, dass wenn sich ein Mädchen, ängstlich und verzweifelt bei der Telefonseelsorge meldet, mit den Worten: Meine beste Freundin wird von ihrem Vater zum Sex gezwungen, es sein kann, dass die das als Scherz abtun.
Plötzlich waren sich alle Lehrer darüber einig, dass sie ja schon immer so einen Verdacht gehabt hätten, ach ja? Wieso habt ihr mich dann das tun lassen was eure Pflicht gewesen wäre? Ich war 14 Jahre alt! Sie sagt mir immer noch, dass sie sich nur getraut hat weil ich so stark war und sie mir vertraut hat. Ich hab mich nicht stark gefühlt, nur, dass ich sie beschützen und ihr helfen wollte, ganz allein darum drehten sich fast ein Jahr meine Gedanken. Und heute, 12 Jahre später, weiß ich nicht woher ich die Kraft hatte, wie ich das durch gestanden habe, zu wissen, dass ein Mensch den ich liebe so leiden muss. Ihr Vater hat ihr soviel angetan und erst viel später wurde mir bewusst: Mir auch.
Er hat mir den Glauben genommen, dass man einfach nur kämpfen muss gegen Unrecht und dann alles besser wird. 12 Jahre sind vergangen. Nichts ist besser geworden. Er hat das Vertrauen zerstört das ich hatte, dass Erwachsene uns beschützen! Aber wenn ich heute in die Augen meiner besten Freundin sehe dann weis ich, dass egal was auch immer war, ich noch mal das alles durchmachen würde, jederzeit, denn das ist das einzig richtige. Sie war zum Schluss stärker als er und das erfüllt mich mit Stolz!
Wir haben ihn besiegt, er hat ihr alles genommen aber eines konnte er ihr niemals wegnehmen, uns. Ich werde nie vergessen und das darf man auch nicht!
N. P
Ich habe Dein Schreiben hier sehr ausführlich gelesen und ich möchte Dir für Deinen Mut und Deinen Einsatz gratulieren. Du hast den Mut bewiesen, den Erwachsenen nicht mal haben. Du hast Einsatz gezeigt und hingeschaut und wirklich auch was getan. Obwohl du erst 14 Jahre alt warst.
Auf so einen Menschen wie Dich kann man nur Stolz sein. Eigentlich verdienst du das Bundesverdienstkreuz aber ich glaube, dass für die die glücklichen Augen deiner Freundin mehr wert sind als irgendein Verdienstkreuz.
Von Dir können wir alle eine Scheibe abschneiden.
Denke nicht nach darüber, warum und wieso , es ist eine vielzu komplizierte Sache. SEi einfach nur stolz auf Dich und Stolz auf Deine Freundin und Freue Dich, dass das alles vorbei ist. Schau weiterhin hin.
Ganz liebe Grüße
Hallo Mutter,
vielen dank für die lieben Worte. Wenn ich ganz ehrlich bin ich würde keine Belobigung eines Staates wollen der zulässt das solche Dinge verschleiert und vertuscht werden, das wäre für mich eine Beleidigung keine Belobigung. Ich weis bis heute nicht wie ich diese Zeit durchgestanden habe aber im Vergleich zu ihr war es eigentlich leicht. Vielleicht liegt es auch daran das meine Mutter die ganze Woche nicht da war und ich früh lernen musste selber zu entscheiden was richtig ist und wie ich zurecht komme.
Die Angst von damals ist bis heute noch unübertroffen aber eins weis ich, egal wie schlimm die Zeit war, viel schlimmer wäre es wenn ich nichts getan hätte. Ich finde einfach das wenn Menschen so was angetan wird man als MENSCH verpflichtet ist etwas zu tun und jeder der das nicht tut ist in meinen Augen kein Mensch!
Wie kann das alles sein? Vieles von dem was geschieht können wir nicht verstehen, weil wir alle unter einem falschen Menschenbild leiden. Wir glauben an eine einheitliche Identität eines Menschen. Dem ist nicht so. Nach einer erstmaligen Traumatisierung spaltet sich ein Mensch in 2 eigenständige Identitäten und so geht es immer weiter, 2,3,4,5,6 etc. In einem Menschen gibt es somit verschiedene Ich-Zustände, die je nach Situation, eigenständig agieren. Die Betonung liegt auf Eigenständig. Wie konnte sonst der Holocaust sein? Wie konnte Dr. Mengele einmal als gütiger Familienvater auftreten und gleichzeitig als Arzt verheerende Menschenversuche starten? Dies geht nur duch Spaltung oder auch Doubling genannt. Menschen sind im Laufe der Geschichte zu multiplen Persönlichkeiten geworden. Und zwar alle Menschen (Opfer und Täter). Genau diese Tatsache ist der Grund. Aber es ist für jeden Menschen zunächst einmal unglaublich schwer dies zu aktzeptieren. Wissenschaftlich ist dies seit ca. 10 Jahren FAKT. Hier ist es wichtig mit sich selber ehrlich zu sein. Ein Opfer sagte mir dies noch letzte Woche persönlich mit folgenden Worten: „Ich spiele immer so Rollen.“
Elvira