Am Ende dieses wichtigen Aufarbeitungsprojektes ist mein Fazit
ambivalent. Dies muss nichts Schlechtes bedeuten, da es im Leben
selten Eindeutigkeit, entweder oder, schwarz oder weiß gibt. Sie werden
sich nach der Lektüre des Abschlussberichtes Ihr eigenes Bild machen
und ihr eigenes Fazit ziehen.

Auf der Positivseite vermerke ich:

Für den ursprünglichen Vorwurf des NeztwerkBplus, dass es
systematischen, jahrelangen sexuellen Missbrauch durch einen Leiter
des städtischen Jungenheims gegeben habe, haben wir keine Belege
gefunden. Das bedeutet aber nicht, dass es keine sexuelle Gewalt in und
durch diese Institution und ihre Mitarbeiter*innen gegeben hat. Wir
wissen spätestens jetzt, dass Kamenzin sehr wohl sexuelle Gewalt
ausgeübt hat, auch unabhängig von seiner Funktion im Städtischen
Jungenheim.

Es ist gelungen, auch mit Hilfe der Stimme der Betroffenen und
zivilgesellschaftlich engagierter Personen, einen aufklärenden Blick in
die Jugendhilfe der 1960-ziger bis 1980-ziger Jahre in Stuttgart zu
werfen, Grenzverletzungen und sexuelle Gewalt zu erkennen, zu
benennen und zu adressieren.

Auch das konstruktive Zusammenwirken zwischen Zivilgesellschaft und
der Institution Jugendamt in dem gemeinsamen Bemühen um Aufklärung
und Aufarbeitung verbuche ich auf der Positivseite.
Eines der wichtigsten Ergebnisse dieses Aufarbeitungsprozesses ist aus
meiner Sicht die „Entlarvung“ oder auch Dechiffrierung des Mythos
Kamenzin, seine Kenntlichmachung und damit auch die mögliche
Entmystifizierung, die dann den Blick frei macht auf Verantwortlichkeiten
und Strukturen.

Ich habe die Hoffnung, dass mit diesem
Aufarbeitungsprozess der Mythos Kamenzin ein für alle Mal der
Vergangenheit angehört und sich die Fach- und Leitungskräfte des
Jugendamts auf die wesentlichen Qualitätsthemen der Gegenwart und
der Zukunft konzentrieren können.
Zu den schwierigen und negativen Ergebnissen dieser Aufarbeitung
gehören für mich vier zentrale Themenbereiche:

1. Die Aktenlage: wir haben kaum relevante Fallakten gefunden, trotz
intensiver Recherche in verschiedenen Archiven, die den Betroffenen
eine Stimme geben könnten und aus denen ihr erfahrenes Leid sichtbar
und belegbar würde. Daraus folgt aus meiner Sicht die Notwendigkeit,
Aufbewahrungsfristen von Akten, ähnlich wie im Bereich der
Vormundschaft und der Adoption gesetzlich neu zu regeln und deutlich
zu verlängern.
2. Die Bereitschaft von Zeitzeug*innen, im Rahmen von
Aufarbeitungsprozessen auszusagen und ihren Beitrag zu leisten, sollte
nicht in´s Belieben der jeweiligen Personen gestellt werden. Es ist für
mich unverständlich und nicht nachvollziehbar, warum so viele
Zeitzeug*innen, die mit Kamenzin entweder zusammengearbeitet haben
oder in seiner Zeit in der Stuttgarter Jugendhilfe Verantwortung getragen
haben und die Frau Dr. Heynen und ich dem Forschungsteam
namentlich und mit Kontaktdaten benannt haben, sich offensichtlich
geweigert haben, an dieser Aufarbeitung mitzuwirken. Nach meinem
Verständnis dürfte es hier kein Zeugnisverweigerungsrecht, sondern
vielmehr eine Pflicht zur Zeugenschaft und Mitarbeit an Aufarbeitung
geben. Auch das wäre gesetzlich zu regeln.
3. Besonders erschüttert hat mich der Befund im Rahmen der
Aufarbeitung, dass es in der Vergangenheit mehrfach sowohl von
Betroffenen als auch von Personen des zivilgesellschaftlichen
Engagements Versuche gegeben hat, sich bei der Amtsleitung und an
verschiedenen Stellen im Jugendamt Gehör zu verschaffen und die
Berichte über erfahrene Gewalt oder unrechtmäßiges Handeln von
Kamenzin bei den dafür Verantwortlichen zu platzieren. Sie wurden
abgewiesen oder verhöhnt, man hat sie abblitzen lassen und unter dem
Motto:

„wem glaubt man wohl eher: dem asozialen Heimkind oder dem
anerkannten, allseits geschätzten Sozialarbeiter“

wurde die Machtposition der Institution ausgespielt. Genau diese Mechanismen hat
Bernhard Pörksen in seinem Buch „Zuhören“ beschrieben.

4. letztlich offen geblieben ist aus meiner Sicht die Frage, warum so viele
Vorgesetzte und Kolleg*innen Kamenzin an keiner Stelle gestoppt,
kritisiert und sein Handeln in Frage gestellt haben. An keiner Stelle der
Aufarbeitung und der gesichteten Dokumente wurde erkennbar, dass die
Auswirkungen von Kamenzins Handeln und unseligem Wirken auf die
Betroffenen jungen Menschen eine Rolle gespielt haben.

Sie waren gar nicht im Blick.

Es ging immer nur um das Renommee der Institution, um
die Einhaltung von Regeln oder deren Verletzung. Dieser Befund hat
sicherlich nicht nur mein eigenes Bild von einem fortschrittlichen, fachlich
versierten Jugendamt, für das ich über fast 40 Jahre tätig war und mit
dem ich mich in hohem Maße identifiziert habe, massiv erschüttert.