1. Zum Kontext und der Frage: warum Aufarbeitung?

Den Jugendämtern und Landesjugendämtern werden qua Gesetz nicht
nur vielfältige Möglichkeiten der Hilfe, Beratung und Unterstützung von
Familien und jungen Menschen zugewiesen und zugeschrieben, sondern
auch weitreichende Möglichkeiten des Eingriffs und der Intervention in
private Lebenszusammenhänge, wenn es um den Schutz von
Minderjährigen geht.

Das bringt die öffentlichen Träger der Jugendhilfe in
eine mächtige Position gegenüber Menschen, die Schutz und Hilfe
suchen, Beratung in Anspruch nehmen oder auch den Rechtsanspruch
auf Hilfe und Unterstützung geltend machen. Das gilt in besonderer
Weise für die Inobhutnahme und für die Hilfeformen Heimerziehung und
Pflegekinderwesen.

Spätestens seit dem Runden Tisch Heimerziehung,
den Aufarbeitungen um sexuellen Kindesmissbrauch in Institutionen und
den Veröffentlichungen rund um das einstige reformpädagogische
Vorzeigeprojekt Odenwaldschule wissen wir: die Kinder- und Jugendhilfe
ist ihrem Anspruch und ihrem gesetzlichen Auftrag oftmals nicht gerecht
geworden.

Sie hat ihre mächtige Position viel zu selten kritisch reflektiert
und damit auch Grenzverletzungen und sexuelle Gewalt gegenüber
Schutzbefohlenen ermöglicht oder geduldet.

Diese dunkle Seite der
Kinder- und Jugendhilfe hat zu einer Vielzahl von Aufarbeitungsprojekten
geführt. Auf der Homepage der unabhängigen Beauftragten für sexuellen
Kindesmissbrauch sind für die zurückliegenden Jahre und Jahrzehnte
auf 32 Seiten eine Vielzahl von abgeschlossenen Aufarbeitungsprojekten
aufgelistet sowie aktuell 35 laufende Aufarbeitungsprojekte, von denen
allerdings nur drei öffentliche Träger der Jugendhilfe betreffen:

Die Senatsverwaltung Berlin, das Jungendamt der Stadt München und das
Jugendamt der Stadt Stuttgart.

Die Mehrzahl der genannten aufarbeitenden Institutionen betreffen Kirchen,
Bistümer, Pfadfinder, Sportvereine und Verbände, gefolgt von Einrichtungen
der freien Träger der Jugendhilfe.

Hinzu kommen noch die erst in jüngster Vergangenheit
in den Blick genommenen massiven Grenzverletzungen und
Kindeswohlgefährdungen durch das System der Kinderversschickung
und Kindererholungsheime.

Die Jugendämter und zu der damaligen Zeit, um die es in unserem
Aufarbeitungsprojekt geht, auch die Landesjugendämter, sind
maßgeblich verantwortliche Akteure in der Gewährung und Finanzierung
von Hilfen, in der Begleitung von Hilfeprozessen für junge Menschen und
Familien und in der Sicherung des Kindeswohls. Umso erstaunlicher und
befremdlicher ist es, dass sie beim Thema Aufarbeitung von
Missständen, Grenzverletzungen und Gewalterfahrungen im Rahmen
der Kinder- und Jugendhilfe bisher kaum in Erscheinung treten, sich
verantwortlich oder angesprochen fühlen.

Dass von bundesweit ca. 600 Jugendämtern sich bisher so wenige dem
Thema Aufarbeitung gewidmet haben, ist zumindest bemerkenswert.

Wir bewegen uns also mit der Aufarbeitung des Stuttgarter Jugendamts
und der Jugendhilfe in Stuttgart in einem Kontext, der die Jugendhilfe

insgesamt betrifft.

Wichtig scheint mir dabei, immer wieder kritisch die
Machtasymmetrie zwischen den öffentlichen Jugendhilfeträgern und den
Familien und jungen Menschen, für die sie da sind, die systemimmanent
ist und auch durch noch so gute gesetzliche Regelungen zu Beteiligung,
Selbstvertretung und Beschwerde verschwindet, zu reflektieren.
Beschwerden und Hinweise auf Grenzverletzungen oder sexuelle Gewalt
müssen im Alltag der Jugendhilfe viel ernster genommen werden, ihnen
müsste viel konsequenter nachgegangen werden. Zentrale
Voraussetzung dafür ist, unvoreingenommen und empathisch
zuzuhören, wenn Betroffene von ihren Erfahrungen, ihrem Leid oder
grenzverletzenden Erfahrungen durch Personen und Institutionen
berichten, diese ernst zu nehmen und Vorwürfen konsequent
nachzugehen, also dem Zuhören auch Handlungen folgen zu lassen.

Weil wir mittlerweile wissen, wie wichtig und zentral das Zuhören, das
Glauben und zunächst bedingungslose Annehmen der Erzählungen von
Menschen über ihre erlebte Gewalterfahrung durch Institutionen oder
auch im familiären Kontext ist, erlauben Sie mir an dieser Stelle einen
kleinen Exkurs: der renommierte Professor für Medien- und
Kommunikationswissenschaft an der Universität Tübingen, Bernhard
Pörksen, hat vor wenigen Wochen ein Buch mit dem Titel: „Zuhören – die
Kunst, sich der Welt zu öffnen“ veröffentlicht. Darin beschreibt er
verschiedene Arten des Zuhörens und worauf es beim richtigen Zuhören
ankommt, damit Verständigung gelingen und notwendige Reaktionen
erfolgen können. Pörksen analysiert in dem Buch u.a. die Vorgänge
rund um das sexuelle Gewaltgeschehen in der einstigen
Odenwaldschule bzw. den mühsamen, sich über Jahre hinziehenden
Versuch der Aufarbeitung und wie in diesem Zusammenhang über viele,
viele Jahre die Betroffenen nirgends Gehör gefunden haben; er zeigt
eindrücklich auf, unter welchen Bedingungen es letztlich doch gelungen
ist, den Betroffenen zu glauben und Konsequenzen zu ziehen.

Für mich ist diese Analyse ein Lehrstück, aus dem wir viel für unser eigenes
Handeln und Zuhören lernen können, deshalb lege ich Ihnen die Lektüre
sehr an´s Herz.