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PRESSEMITTEILUNG vom 4. März 2025

 

Elternschaft nach sexueller Gewalt in der Kindheit:

Ein aktuelles Forschungsprojekt hat untersucht, was es bedeutet, nach sexueller Gewalt in der Kindheit und Jugend selbst Kinder zu haben und elterliche Verantwortung zu tragen.

Dunkelfeldstudien belegen, dass jede*r siebte Erwachsene in der Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlebt hat. Was es aber für Betroffene bedeutet, im Erwachsenenalter selbst Kinder zu haben und elterliche Verantwortung zu tragen, ist bisher kaum bekannt. Ein Forschungsprojekt, gefördert von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, hat dies untersucht. Das Projekt wurde durchgeführt unter Leitung von Prof. Dr. Barbara Kavemann, Soziologin am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen (SoFFI F. im SOCLES) und Mitglied der Kommission. Über 600 betroffene Menschen haben sich daran beteiligt.

Ergebnis des Forschungsprojektes ist eine heute veröffentlichte Studie, in der die Wissenschaftlerinnen folgenden Fragen nachgegangen sind: Wie denken Menschen, die in der Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren haben, über eigene Kinder nach? Aus welchen Gründen entscheiden sie sich aktiv für oder gegen eigene Kinder? Welche Ängste und Sorgen haben sie und welche Rolle spielt ihre eigene Betroffenheit dabei? Welche Art von Unterstützung brauchen sie?

Prof. Dr. Barbara Kavemann: „Die eigene Betroffenheit hat für viele der Befragten eine große Bedeutung, wenn sie über das Elternwerden nachdenken. Sie setzen sich kritisch damit auseinander, ob sie in der Lage sein werden, ihre Kinder zu schützen und gut zu versorgen. Eine vertrauensvolle und unterstützende Partnerschaft wird oft als Voraussetzung für eine leibliche Elternschaft gesehen. Die Folgen der Gewalt führen jedoch nicht selten zu Schwierigkeiten, eine solche Beziehung zu finden und zu führen. Auch Sexualität zu leben, kann für Betroffene schwierig sein und ist manchmal nicht möglich. Einige Befragte haben sich gegen eigene Kinder entschieden, weil sie befürchteten, dass die eigenen Gewalterfahrungen sich negativ auf ihre Kinder auswirken könnten, dass sie sie beispielsweise zu sehr mit den Folgen der Gewalt belasten würden oder sie aufgrund von Erschöpfung nicht ausreichend versorgen könnten.“

Sorgen, Ängste und Kompetenzen

Die meisten der Befragten haben sich für eigene Kinder entschieden. Viele Sorgen und Konflikte, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, sind zwar für alle Eltern relevant. Es zeigen sich jedoch Herausforderungen, die eng mit der spezifischen Gewalterfahrung einhergehen. Beispielsweise die Entscheidung, mit dem eigenen Kind über die erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen. Ava Anna Johannson, Betroffene und Mutter von zwei erwachsenen Kindern, hat an dem Forschungsprojekt teilgenommen und beschreibt diese Herausforderung aus ihrer eigenen Erfahrung: „Lange war es mir nicht möglich, überhaupt über meine Erfahrungen zu sprechen. Nachdem ich die Sprachlosigkeit überwinden konnte, galt es eine altersangemessene Form zu finden, mit den Kindern zu sprechen und ihnen so eine Erklärung geben zu können. Wichtig war vor allem, ihnen Raum für Fragen zu ermöglichen. Seitdem kommen wir immer mal wieder über das Thema ins Gespräch und traumabedingte ungünstige Muster setzen sich nicht unreflektiert fort.“

Ein Thema, das viele betroffene Eltern auch beschäftigt, ist, wie sie, die als Kinder selbst nicht geschützt wurden, ihre eigenen Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen und dabei die Angst vor dem eigenen Versagen bewältigen können. Claas Löppmann hat ebenfalls an dem Forschungsprojekt teilgenommen. Er ist Vater von drei Kindern und Mitglied des Betroffenenrats bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Er kennt die schwierige Auseinandersetzung mit dieser Frage, sieht aber auch die besonderen Kompetenzen, über die Eltern mit einer persönlichen Gewaltgeschichte verfügen und die gesellschaftlich noch viel zu wenig genutzt werden: „Betroffene Eltern in Ihren Erfahrungen ernst zu nehmen, sie zu sehen und zu hören, ist für mich gelebter Kinderschutz. Der Umgang mit der eigenen Betroffenheit kann im besonderen Maße zu Kompetenzen im Umgang mit den Kindern beitragen. Die erfahrene Ungerechtigkeit kann eine sensible, liebende, schützende Eltern-Kind-Beziehung nicht verhindern. Es gilt sowohl im privaten Umfeld als auch in beruflichen Kontexten, Eltern diese Stärke zuzugestehen, deren Bedenken ernst zu nehmen, Gefahren zu erkennen und die sich daraus ergebenden Chancen zu nutzen.“

Empfehlungen

Aus den Ergebnissen des Forschungsprojektes wurden Empfehlungen für die Politik und das Unterstützungssystem erarbeitet, wie Betroffene von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend bei ihrer Familienplanung, bei der Versorgung in der Schwangerschaft und bei der Geburt sowie im Alltag als Eltern besser unterstützt werden können. Dafür braucht es nicht grundsätzlich neue Angebote. Stattdessen müssen die bereits bestehenden Angebote das Thema Eltern, die von sexueller Gewalt in der Kindheit und Jugend betroffenen sind, aufgreifen.

Es braucht beispielsweise entsprechende Informationsangebote im Rahmen von Elternkursen, Familienberatung und Familienbildung. Diese Informationen sind aber auch für Fachkräfte in der Sozialen Arbeit und Pädagogik wichtig und müssen in Aus- und Fortbildung vermittelt werden. Erziehungs- und Familienberatungsstellen müssen betroffene Eltern genauso mitdenken, wie auf sexuelle Gewalt spezialisierte Fachberatungsstellen das Thema Elternschaft. Zusätzlich ist es wichtig, den Austausch und die Vernetzung von betroffenen Eltern, wie etwa durch Selbsthilfegruppen und -initiativen, zu fördern.

Download Studie: „Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend“

Hinweis: Sexuelle Gewalt ist – egal in welcher Form – ein einschneidendes Erlebnis für die Betroffenen. Dadurch ergibt sich für Journalist*innen eine besondere Verantwortung zur sensiblen Berichterstattung, um Betroffene zu schützen. Wir möchten Sie daher bitten, die Hinweise für Medien für eine betroffenensensible Berichterstattung zu beachten.

Freundliche Grüße; Kirsti Kriegel; Pressesprecherin; Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit