WESTFALEN-BLATT 05.03.2019
Was es heute für Norbert Denef bedeutet, als Messdiener vergewaltigt worden zu sein
Von Christian Althoff
Scharbeutz (WB). Zehn Jahre lang, sagt Norbert Denef (69) aus Scharbeutz, zehn Jahre lang habe ihn sein Hausarzt gedrängt, doch zur Darmkrebsvorsorge zu gehen. »Aber ich konnte das nicht. Weil ich als Kind missbraucht worden war.« Dann kam der Krebs – und kostete Denef fast das Leben.
Norbert Denef wuchs mit vier Geschwistern in Delitzsch auf, einer Kleinstadt in Sachsen. Dort war er Messdiener in der katholischen St.-Marien-Gemeinde. »Delitzsch war DDR. Die Kirche gab uns Halt«, sagt der 69-Jährige.
1959, als er zehn gewesen sei, habe der Missbrauch begonnen. »Sechs Jahre hat sich der Pfarrer an mir vergangen, zwei Jahre der Organist.« Jahrzehnte später gaben die Männer die Taten kirchenintern zu, Norbert Denef hat das schriftlich. »Aber keiner von ihnen wurde je zur Verantwortung gezogen.« 1998 starb der Pfarrer, vor zwei Jahren der Organist. Denef vergrub das Erlebte. Er wurde Techniker im Opernhaus Leipzig, ging an die Alte Oper in Frankfurt am Main und später ans Stadttheater Rüsselsheim.
1993, da war Denef 44, sprach er zum ersten Mal über die Verbrechen – mit seiner Familie und mit den Tätern. »Ein Jahr lang hatte ich mir überlegt, wie ich es sagen würde. Es war sehr, sehr schwer für mich.« Es sei eine Befreiung gewesen, dass seine Familie nun Bescheid gewusst habe, aber die Hilfe, die er sich von der Kirche erhofft habe, habe er nicht bekommen. »Die Gemeinde hatte längst einen neuen Pfarrer. Ich habe bei ihm um Hilfe gebettelt, aber er hat mich abgewiesen und gesagt, ich solle mir besser überlegen, was ich anrichte.«
2003 bot das Bistum Magdeburg Denef Geld für eine Therapie an. Als Gegenleistung sollte er über den Missbrauch schweigen. Denef lehnte eine solche Schweigeverpflichtung ab. Er kämpfte zwei Jahre mit dem Bistum und bekam schließlich 25.000 Euro.
Norbert Denef war nun Mitte 50, und sein Hausarzt riet ihm zur Darmspiegelung. Die Untersuchung mit einem Koloskop schien auch deshalb angezeigt, weil Denefs Vater mit 56 Jahren an Darmkrebs gestorben war. »Aber allein der Gedanke, jemanden an meinen Hintern zu lassen, löste bei mir Panik aus«, sagt Denef.
Jahr für Jahr lehnte er die Untersuchung ab – bis 2018 ein weit fortgeschrittener Darmkrebs festgestellt wurde. Denef bekam Bestrahlung und Chemotherapie. »Unvorstellbare, unmenschliche Krämpfe, Schmerzen und unkontrollierte Stuhlgänge begleiteten mich Tag und Nacht«, sagt er. Völlig abgemagert habe er im Mai 2018 eine Erholungsphase eingelegt, um sich für die Operation vorzubereiten. »Ich habe dem Chefarzt von dem Missbrauch erzählt und ihm gesagt, dass ich unmöglich mit anderen Männern in einem Zimmer liegen könne. Er hat das sofort verstanden. Und obwohl ich Kassenpatient bin, bekamen meine Frau und ich ein Zimmer für uns alleine.«
Nach der Entfernung des Tumors legte der Arzt Denef einen künstlichen Darmausgang, um die Heilung der Narbe am Dickdarm zu ermöglichen. »Ohne den Beistand meiner Frau, die früher Krankenschwester war, hätte ich wohl nicht überlebt«, sagt der 69- Jährige. Zwölf Tage habe er unerträgliche Schmerzen gehabt, kein Mittel habe mehr gewirkt. »Ich habe geschrien wie noch nie. Ich habe mich nach dem Tod gesehnt und gehofft, dass er mich erlösen würde.« Eine zweite Operation war nötig und eine dritte. Norbert Denef: »Meine Frau musste mich anschließend jede Nacht 30 Mal windeln. Bei jeder Bewegung schrie ich vor Schmerzen. Ich wurde als Pflegefall entlassen und brauchte Monate bis zu meinen ersten Gehversuchen.«
Norbert Denef, der im Mai 70 Jahre alt wird, hat sein altes Leben nicht zurückbekommen. »Obwohl ich meine Ernährung komplett umgestellt habe, muss ich am Tag 30 Mal zur Toilette. Mein Leben ist nur noch darauf ausgerichtet.«
Für seinen Zustand macht er die Kirche mitverantwortlich: »Hätte sie die Verbrechen rechtzeitig mit mir aufgearbeitet und mir Hilfsangebote gemacht, wäre ich wahrscheinlich als Erwachsener soweit gewesen, zur Darmkrebsvorsorge zu gehen.« Er habe das auch dem Magdeburger Bischof Gerhard Feige geschrieben, aber keine Antwort bekommen. »Ich werfe ihm vor, dass er sich bis heute nicht öffentlich zu den Verbrechen äußert.«
Vor etwa vier Wochen, sagt Denef, habe ihn der heutige Pfarrer von St. Marien mit drei Gemeindemitgliedern besucht. »Sie waren wirklich interessiert. Es ist eine neue Generation. Vielleicht kann daraus etwas erwachsen.«
Quelle: WESTFALEN-BLATT
Hinterlasse einen Kommentar