#Metoo ist mittlerweile beinahe jedem ein Begriff. Ein „Hohes Tier“, das seine Position missbraucht; ein prominentes Opfer, das an die Öffentlichkeit geht. Und 3, 2, 1 – schon folgen weitere Anschuldigungen und Bekenntnisse; zahlreiche bekannte Namen reihen sich in die Liste der Betroffenen mit ein und schließen sich dem Aufschrei an.

Um es direkt vorwegzunehmen: Ja, es ist richtig, dass diese Dinge die ihnen angemessene Aufmerksamkeit erhalten. Sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Machtmissbrauch und Gewalt sind unverzeihliche Handlungen, die ins Auge der Öffentlichkeit anstatt unter den Teppich gekehrt gehören. Und dennoch bleibt die Frage: Wer schreit auf für all diejenigen, die nicht selber schreien können? Wer hebt den Teppich an für die, die sich darunter verstecken müssen? Für Kinder, die in ihren eigenen Familien keine Sicherheit und Geborgenheit erfahren? Die ständig im Angesicht einer Gefahr leben, die ihnen von gerade den Menschen droht, von denen sie in jeglicher Hinsicht abhängig sind und die sie eigentlich mit Liebe und Schutz auf ihrem Weg ins Leben führen sollten? Gewalt an Kindern, ganz gleich ob physischer, psychischer oder sexueller Art, hinterlässt Spuren. Ein Leben lang!

Die meisten denken nun vermutlich an psychische Erkrankungen. Und liegen damit auch alles anderes als falsch. Neben der Posttraumatischen Belastungsstörung können sich u. a. Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen oder Essstörungen als traumabedingte Erkrankungen entwickeln. Auch Selbstverletzungen, Suizidgedanken oder Suchtmittelmissbrauch sind nicht selten. Viele Betroffene benötigen jahrelang therapeutische Begleitung und häufig sind mehrere stationäre Behandlungen in Kliniken unvermeidbar. Die Suche nach einem geeigneten Therapieplatz zehrt an Kraft und Nerven, beinhaltet unzählige Anrufe in psychotherapeutischen Praxen, Erstgespräche und in der Regel monatelange Wartezeiten. Hat man dann endlich jemanden gefunden, bei dem man sich gut aufgehoben fühlt und endlich das nötige Vertrauen gefasst, um intensiver arbeiten zu können, naht doch viel zu schnell wieder das drohende Ende durch den Ablauf der von der Krankenkasse genehmigten Anzahl an therapeutischen Sitzungen.

Doch wie ist es neben den Diagnosen, die sich in einer dicken Akte nach der anderen Stapeln, mit den Spuren im Alltag? Mit denen, die sich als kleine, zarte Verästelungen ganz fein in so viele Lebensbereiche schleichen und immer wieder hartnäckig daran erinnern, dass sie da sind? Oder mit denen, die wie knorrige, dicke Wurzeln aus dem Boden ragen um einen immer wieder darüber stolpern zu lassen?

Wie lebt es sich, wenn man nie weiß, ob nicht im nächsten Moment ein Geruch oder ein Geräusch einen mit voller Wucht in eine alte Erinnerung katapultiert und die schlimmsten Ereignisse des eigenen Lebens in voller Intensität wiedererleben lässt? Wenn einem nie beigebracht wurde, wie man liebt und vertraut? Und man vor lauter Einsamkeit fast umkommt, weil echte Nähe zu gefährlich ist? Wenn man so früh gelernt hat, dass man nicht einmal ein nettes Wort oder einen freundlichen Blick wert ist? Oder man sich beschmutzt und gedemütigt fühlt, sich vor seinem Körper ekelt und dem eigenen Spiegelbild doch niemals entkommen kann? Wenn man sich überall fremd fühlt, so anders als all die „Normalen“?

Würde ich 100 betroffene Menschen fragen – ich könnte 100 weitere solcher Traumaspuren hier anführen. Dazu kommen Dinge wie Arbeitsunfähigkeit bis hin zur Erwerbsminderung, Arbeitslosengeld- und Sozialhilfebezug oder geringe bzw. fehlende schulische und/oder berufliche Qualifizierung, die unwiderruflich mit jedem neuen Tag ihre Stempel auf den Lebenslauf drücken. Bis man abgestempelt ist.

Von den Spuren, die Kindheitstraumatisierungen hinterlassen, können nur wenige wieder völlig gelöscht werden. Einige lassen sich verwischen. Sie verblassen, werden dünner. Andere bleiben sichtbar wie eh und je. Und einige scheinen länger und länger zu werden, weil sie immer neue Probleme nach sich ziehen, ganz unvermeidbar. Man kann lernen, mit Dingen umzugehen. Manchen gelingt dies mehr, anderen weniger gut. Einige Dinge lassen sich leichter händeln, andere schwerer. So individuell, wie jeder Mensch ist, so individuell sind auch die Wege und der Umgang mit allem, was den Alltag verändert, unberechenbar und damit schwierig macht. Betroffene müssen

nicht nur mit den Schrecken der Erinnerungen fertigwerden, dem Entsetzen, den Gefühlen von Scham und Demütigung, sondern auch mit den Folgen, die einen noch Jahre und Jahrzehnte später begleiten.
Dafür ist passende professionelle Begleitung notwendig und von unschätzbarem Wert. Doch mindestens ebenso wichtig ist ein haltendes persönliches Umfeld. Freunde und Verwandte, die einem mit ein bisschen Verständnis und Empathie begegnen. Die spüren lassen, dass man gewünscht ist, auch wenn man sich selbst für wertlos hält. Was wir nicht brauchen sind Fragen wie: „Kannst Du die Vergangenheit nicht einfach abhaken? Kannst Du nicht einfach anders denken?“ Nein! Können wir nicht! Wenn wir es könnten, wir wären die ersten, die es freudestrahlend einfach tun würden! Wir wissen, wie irrational wir manchmal sind. Was wir brauchen sind Menschen, die TROTZDEM bei uns bleiben und einfach nur da sind. Die akzeptieren, dass wir Schreckliches durchgemacht haben, uns an allgegenwärtige Gefahr anstatt einen sicheren Alltag anpassen mussten und nun Schwierigkeiten haben, unsere Schutzmechanismen loszulassen. Nicht Belehrungen, nicht Worte zeigen uns den Weg, sondern Taten.

Was ich mir wünsche? Ich weiß es nicht. Mit 32 Jahren ist mein Leben vorbei. Das Potenzial, mit dem ich in dieses Leben getreten bin und die Chancen, die es möglicherweise gab, konnte ich nicht nutzen. Der mir prophezeite blendende Schulabschluss, die glorreiche Karriere und das sorgenfreie Leben sind nur noch Asche im Wind.

Für andere wünsche ich mir, dass die Gesellschaft offener wird für das viel zu oft tabuisierte Thema von Gewalt an und Vernachlässigung von Kindern innerhalb der eigenen Familien. Jungen genauso betroffen wie Mädchen, Mütter genauso als Täter wie Väter. Dass Präventionsmaßnahmen unterstützt werden und so vielen Kindern wie möglich dieses Leid erspart bleibt. Damit sie lachen und in Liebe und Sicherheit aufwachsen können, wie es für jedes einzelne Kind selbstverständlich sein sollte. Und dass denjenigen, die ein solches Glück nicht hatten, ein bisschen mehr Verständnis und Offenheit entgegengebracht wird. Dass sie Chancen bekommen, ihren eigenen, ganz persönlich benötigten Weg immer weiterzugehen. Die Chance, kein verlorenes Leben leben zu müssen.

Und Respekt für die enorme Leistung, schlimmste Grausamkeiten überlebt zu haben.

Isabell G. Dezember 2017