netzwerkB Pressemitteilung vom 11. Oktober 2016
Die Mitgliederversammlung von netzwerkB hat am 8. Oktober 2016 ihren Vorstand gewählt.
Bitte nehmen Sie die nachfolgende Stellungnahme von Dr. Thomas Galli, der von den Mitgliedern einstimmig als neues Mitglied im erweiterten Vorstand gewählt wurde, zur Kenntnis und berichten Sie darüber.
Stellungnahme von Dr. Thomas Galli,
Zitat:
Liebe Mitglieder,
ich danke Ihnen allen ganz herzlich für die Wahl in den erweiterten Vorstand von netzwerkB! Ich freue mich sehr auf diese Aufgabe und auf unser gemeinsames Wirken.
Gerne möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen die Ziele meiner Arbeit kurz vorzustellen, zumal das Bild, das in den letzten Monaten medial vermittelt worden ist, möglicherweise missverständlich ist.
Ich habe über 15 Jahre lang im Strafvollzug gearbeitet (nunmehr bin ich als Anwalt tätig), und dabei einige Überzeugungen gewonnen, die ich auch in meine Arbeit für netzwerkB einbringen will. Unter anderem bin ich der Ansicht, dass wir mit unserem derzeitigen Strafrecht mehr durch Straftaten Geschädigte schaffen als verhindern. Außerdem werden jährlich viele Milliarden für den Strafvollzug an Tätern ausgegeben, ohne dass dies tatsächlich wirksam die Kriminalität reduzieren könnte.
Für die Geschädigten von Straftaten hat der Staat dagegen, wenn überhaupt, nur Almosen übrig. Ich empfinde es daher oft als sehr verlogen, wenn harte und lange Gefängnisstrafen mit dem Argument gefordert werden, das sei im Sinne der Betroffenen (vgl. meinen Beitrag in der taz „Bestrafen und heucheln“,
s unter: http://www.taz.de/!5073559/ ).
Wenn der Staat sich wirklich um die Betroffenen insbesondere von Gewalt- und Sexualstraftaten kümmern wollte, würde er ganz anders agieren. Es geht mir mit meiner Forderung, das Gefängnis abzuschaffen, also nicht darum, Straftaten zu verharmlosen oder gar Verständnis dafür zu zeigen. Sondern es geht mir um das Verstehen von Zusammenhängen, darum, so zu strafen, dass der Schaden nicht noch größer wird, und insbesondere darum (soweit das überhaupt möglich ist), für einen gerechten Ausgleich für die Geschädigten zu sorgen. Und natürlich bin ich der Ansicht, dass die Allgemeinheit vor den (verhältnismäßig wenigen) höchst gefährlichen Sexual- und Gewaltstraftätern geschützt werden muss. Dafür gibt es aber sinnvollere und humanere Lösungen als das Gefängnis oder die Sicherungsverwahrung.
Letztlich dienen Gefängnisse unserer Gesellschaft auch dazu, nicht hinsehen zu müssen. Ich denke aber, dass Geschädigte vor allem einen Anspruch darauf haben, dass das an ihnen begangene Unrecht tatsächlich aufgearbeitet wird. Und da ist es eben nicht damit getan, die Täter, die das „Pech“ haben, erwischt zu werden, hart zu bestrafen.
Norbert Denef ist es zu verdanken, dass ich in Kontakt mit netzwerkB gekommen bin. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, denn es hat mich überrascht und tief beeindruckt, dass ein Verband zur Vertretung der Interessen Betroffener nicht die üblichen härteren Strafen fordert (und damit den Konflikt von „Tätern“ und „Opfern“ weiter eskalieren lässt, so dass es am Ende nur Verlierer geben kann), sondern mit dem Weg der Versöhnung eine beispielgebende menschliche Größe und Weitsicht zeigt. Eine Versöhnung kann aber nur gelingen, wenn die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt, und wenn Staat, Gesellschaft und ihre Institutionen die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik entwickeln. Der Weg dahin ist voller Herausforderungen.
Ich möchte dazu beitragen, diese zu bewältigen.
Mit herzlichen Grüßen, Ihr Thomas Galli
Zitatende
Weitere Informationen:
Dr. Thomas Galli „Die Schwere der Schuld“
netzwerkB-Vorstandsbericht_08.10.2016
Seine Stellungnahme verspricht eine gute Wahl getroffen zu haben. Glückwunsch! Freut mich.
„…Eine Versöhnung kann aber nur gelingen, wenn die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt, und wenn Staat, Gesellschaft und ihre Institutionen die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik entwickeln….“
– Die Fähigkeit zur Reflexion, als eine Grundvoraussetzung für die not-wendigen Veränderungen muss ja auch gar nicht entwickelt werden, solange nur die Täter weg-gesperrt und die Opfer als „Gestörte“ ausgegrenzt werden. Das beständige Gefasel von der Einhaltung eines Rechtsfriedens, als Begründung für die Beibehaltung von Verjährungsfristen, schützt die Täter und verhöhnt im Grunde genommen diejenigen, die lebenslang mit den Folgen der Taten leben müssen.
Und darüber hinaus wird bei der üblichen Nichteinbeziehung der gesamten! Gesellschaft, ( Die Täter sollen eben ganz einfach weg!-gesperrt werden und die Opfer werden durch die Ausgrenzung – Soll sich doch gefälligst die Psychiatrie, nebst Pharma-Industrie um die Gestörten kümmern. Da gehören die Opfer/die psychisch Kranken, hin!!…- eben ganz einfach weg!-geblendet. Dadurch muss sich der „Nicht-Betroffene “ mit der gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit dann nicht mehr auseinandersetzen. Alles wird weg!-delegiert….) das UNHEIL von Generation zu Generation unbewusst weiter gegeben.
(Die Mehrgenerationale Psychotraumatologie gibt, bereits seit 1998, darüber Auskunft….)
Eine Gesellschaft die daran interessiert ist, immer wieder alles zu vertuschen und zu verdrängen, wird das nicht auf ewig tun können, eben auch deshalb nicht , weil es Gegenkräfte, die dagegen angehen, gibt.
Deshalb finde ich es gut, dass die Arbeit von Dr. Thomas Galli, als ein Teil dieser Gegenkräfte, nun auch hier im netzwerkb wirken wird.
Leider befindet sich alles immer wieder in einem sehr zähen Prozess, wenn es darum geht Veränderungen zu bewirken.
Wahrheit muss auf den Tisch. Rechtsprechung hatte Leib und Leben der Kinder zu schützen.
Handlungsbedarf gibt es!
Es gibt keinen weiteren Forschungsbedarf.
Bereits für ihre ersten Jahre muss die Justiz der BRD sich die Frage ihrer Haltung zu schweren Verbrechen gefallen lassen. Sexualisierte Gewalt schädigte ganz offensichtlich Leib und Leben vieler Kinder. Und zunehmend wurden es immer mehr. Alle wussten es. „Opfer“ erkannte jeder. „Opfer“ fielen auf. „Opfer“ wurde zum Schimpfwort.
Eine falsche Gesetzgebung bescherte den betroffenen Kindern ein Leben in Ausgrenzung, in Auffälligkeiten, in Krankheiten.
Die Last falscher Gesetzgebung hat das „Opfer“ zu schultern.
Die Gesetzgebung war nicht nur lückenhaft, sie war falsch anfangs aus falscher Rücksicht auf Kriegstraumatisierte, denen keiner gewagt hatte Grenzen zu setzen …
Grundgesetz und Menschenrechte wurden per Gesetz ignoriert.
Es braucht deshalb dringend – wie in der römischen Kirche – „…die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik …“ auch in Staat und Gesellschaft.
Aufarbeitung der frühen Unrechts-Justiz http://www.deutschlandfunk.de/nazis-im-bundesjustizministerium-es-gab-sehr-grosse.694.de.html?dram:article_id=368031 war ein allgemein notwendiger Ansatz unter Sabine Leutheuser-Schnarrenberger. Sie sieht „Verantwortung im gesamten Ministerium“: Laut Bericht sei jene strafrechtliche Aufarbeitung „nicht nur verschleppt worden, sondern absolut ungenügend gewesen“ und das habe „ganz entscheidend mit am Justizministerium gelegen“.
Wenn bis in die 70er-Jahre in den Leitungspositionen des Justizministeriums von 170 insgesamt nachweislich 124 aktive Nazi-Juristen tätig waren, dann kann damit noch niemand erkennen, warum derselbe Juristen- und Beamtenapparat noch heute nichts von massiver Beteiligung am Verbreiten der sexualisierten Gewalt, am aktiven Täterschutz und an der gesellschaftlichen Isolierung der Opfer wissen will. Dieses Eingeständnis (eines heute noch lebenden BMJ) fehlt uns.
Vor rassistischen Ausgrenzungen und „völkischem“ Ungeist erschrecken viele.
Wer erschrickt einmal, wer wundert sich zumindest über die für uns so fatale Gesetzgebung samt Folgen, auch noch für Kinder und Kindeskinder?
Warum hört VOR diesem brenzligen Punkt die staatliche Aufarbeitung auf?
Warum will von diesem blinden Fleck kein Ressortchef etwas wissen?
Möge Herr Galli zu Wahrheitsfindung und Versöhnung beitragen.
Ein typisches Urteil, dass hier passt. Opfer zählen nicht !
Der Richter hatte deutlich gemacht, dass bei der Urteilsfindung der erzieherische Gedanke bei den nach dem Jugendstrafrecht verurteilten Tätern eine wichtige Rolle spielt. Die Bedürfnisse des Opfers spielen dagegen keine oder eine untergeordnete Rolle.
http://www.harburg-aktuell.de/news/polizei-und-feuerwehr/12618-missbrauchte-14-jaehrige-petition-gegen-urteile-findet-viel-zustimmung.html
Danke, Eva, für den Link zur Petition gegen das verheerende Urteil bei der Massenvergewaltigung in Hamburg. Ich habe sofort unterzeichnet. Dass das Opfer hier dermaßen kaltblütig im Urteil ausgeklammert und damit noch einmal in die Kälte hinausgestoßen wurde, schreit zum Himmel.
Zur neueren Entwicklung bei netzwerk b möchte ich sagen: Man kann trefflich darüber philosophieren, warum man „feststeckt“ in Ungerechtigkeit, woher das Böse kommt, über das Wesen des Menschen und die Deformation unserer Gesellschaft, die sich in der Politik und Justiz widerspiegelt. Aber von netzwerkB würde ich immer erwarten, dass es pragmatisch auf der Seite der alltäglich neu hinzukommenden Opfer steht und dies nach außen sichtbar macht.
Vereine zur Reformierung des Strafvollzugs oder zur originellen Bewegungsförderung sind sicher sinnvoll, aber ich würde ihnen nicht beitreten, denn meine Prioritäten liegen anders.
In Dortmund steht uns ein großer Prozess gegen einen Sozialpädagogen bevor, der bereits einschlägig vorbestraft war. Dennoch konnte er weiter zahlreiche Kinder missbrauchen. Da gibt es viel aufzuklären und zu lernen und ich hoffe auf unterstützende Begleitung durch netzwerkB!
Thomas Gallis Positionen werden nicht nur positiv gesehen. Anneli Borchert schreibt, er würde sexuelle Gewalt marginalisieren. Wie ist das mit den Zielen von Netzwerk B zu vereinbaren? http://kritischeperspektive.com/kp/2016-41-knastkritik-ist-feministisch-oder-sie-ist-sinnlos/
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Anmerkung vom netzwerkB Team:
dass Thomas Galli „sexuelle Gewalt marginalisieren“ würde, entspricht aus unserer Sicht nicht der Realität. In diesem Zusammenhang verweisen wir auf sein Buch: http://netzwerkb.org/2016/03/24/die-schwere-der-schuld/
sowie auf unsere Pressemitteilung vom 30.03.2016, s. unter: http://netzwerkb.org/2016/03/30/gefaengnisse-abschaffen/
Ich habe den Aufsatz zu Thomas Galli von Anneli Borchert, der bei Tami verlinkt ist, soeben gelesen und bin erschüttert von dieser kritisch-analytischen Bestandsaufnahme. Wenn das die Positionen von Herrn Galli sind, ist das für mich nicht nur irritierend, sondern geradezu verstörend.
„…Eine Versöhnung kann aber nur gelingen, wenn die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt, und wenn Staat, Gesellschaft und ihre Institutionen die Fähigkeit zur Reflexion und Selbstkritik entwickeln. Der Weg dahin ist voller Herausforderungen.
Ich möchte dazu beitragen, diese zu bewältigen.
Mit herzlichen Grüßen, Ihr Thomas Galli “
– Diese Aussage sprach mich an und ich stimme dieser Aussage zu.
Und eine diesbezügliche Aufklärungsarbeit ist wichtig, denke ich.
Und gleichzeitig sehe ich diesen Fakt.:
https://www.change.org/p/bundesjustizminister-heiko-maas-justizminister-heiko-maas-sexueller-missbrauch-von-kindern-ist-kein-kavaliersdelikt-f%C3%BCr-eine-reformierung-des-176-1-2-4-5-stgb-und-des-176a-4-stgb-im-hinblick-auf-das-mindeststrafma%C3%9F
–
Nur wenige Täter landen tatsächlich im Gefängnis.
– Das ist die Realität.
Ich habe das Buch “ Die schwere der Schuld“ nicht gelesen und kann mich aufgrunddessen dazu nicht äußern.
Ich habe auf amazon sehen können, dass im Februar 2017 ein weiteres Buch von Thomas Galli erscheinen wird.: https://www.amazon.de/Die-Gef%C3%A4hrlichkeit-T%C3%A4ters-Thomas-Galli/dp/3360013182/ref=sr_1_2?s=books&ie=UTF8&qid=1481875598&sr=1-2&keywords=thomas+galli:
Ich persönlich fände es gut, wenn hier auf netzwerkb, ohne dass beide Bücher gelesen werden müssen, ersichtlich werden würde, inwieweit Dr. Thomas Galli auch den Focus auf die Position der Opfer richtet, da doch netztwerkb ein Netzwerk für Betroffene ist.
Dass bei der Nutzung der Worte Täter und Opfer dann beide Worte in Anführungszeichen – „…damit den Konflikt von „Tätern“ und „Opfern“ weiter eskalieren lässt, so dass es am Ende nur Verlierer geben kann…“ – gesetzt werden, empfinde ich als ambivalent.
Und was die hier von Dr. Thomas Galli angesprochene Versöhnung anbetrifft, so bin ich dabei davon ausgegangen, dass das Positionspapier http://netzwerkb.org/wp-content/uploads/2012/01/netzwerkB_Positionspapier_Vergebung_24.01.2012.pdf weiterhin für netzwerkb seine Gültigkeit hat.
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Anmerkung vom netzwerkB Team:
bezüglich der Kritik zu Dr. Thomas Galli empfehlen wir nachdrücklich, sein Buch „Die Schwere der Schuld“ zu lesen. Dies erscheint uns notwendig, um sachliche Kritik zu ermöglichen. Deshalb bitten wir um Verständnis, dass diesbezüglich weitere Kommentar nicht frei geschaltet werden, wenn dieses Kriterium nicht erfüllt ist.
Des weiteren empfehlen wir eine Gefängnis-Besichtigung in der IVA Zeithain, wo Dr. Thomas Galli viele Jahre als Gefängnisdirektor tätig war. Dies ermöglicht einen weiteren Einblick in die Auffassungen die Galli vertritt. Wir von netzwerkB haben uns sein Gefängnis sehr intensiv von innen angesehen, bevor wir uns dazu entschlossen haben, Dr. Thomas Galli zu bitten, im Vorstand von netzwerkB mitzuarbeiten.
Es macht Arbeit etwas kritisch zu hinterfragen, doch es lohnt sich immer – das Klagen und Jammern bestimmt nicht mehr den Alltag.
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