Misshandelte Indianer-Kinder

Eine kanadische Kommission hat untersucht, wie Kanadas Ureinwohner in staatlichen Internaten systematisch misshandelt wurden. Der veröffentlichte Bericht zeichnet ein erschreckendes Bild.

Dorothy Alpine erinnert sich mit Schrecken an ihre Kindheit. Die Ktunaxa-Indianerin war sechs Jahre alt, als sie zum ersten Mal in der Schule geschlagen wurde. Sie schmierte sich gerade ein Brot in der Küche, als eine Nonne hereintrat und ihr eine Ohrfeige verpasste – einfach so, ohne Grund, wie sich die heute 69-Jährige rückblickend erinnert. Auf die eine Ohrfeige folgten viele, das Internatsleben in der westkanadischen Stadt Cranbrook wurde zum Horror.

6000 Kinder starben

So wie Alpine erging es vielen Ureinwohnern in Kanada. Sie wurden vom Staat über Jahrzehnte hinweg in eigens dafür eingerichtete Indianer-Internate zwangseingewiesen und dort systematisch erniedrigt und geschlagen. Ziel der Misshandlungen war es, sie ihrer Kultur zu berauben und in der weissen Gesellschaft zu assimilieren.

Vor einiger Zeit hat Alpine ihre Geschichte der Wahrheits- und Versöhnungskommission erzählt, die von der kanadischen Regierung damit beauftragt worden war, die Zustände in den Internatsschulen zu dokumentieren. Die Kommission führte über sechs Jahre hinweg mehr als 6000 Interviews und stellte am Dienstag nun ihre Ergebnisse vor. Der Abschlussbericht legt in schonungsloser Offenheit eines der dunkelsten Kapitel der kanadischen Geschichte offen. Laut der Kommission mussten zwischen 1883 und 1996 mehr als 150 000 Ureinwohner-Kinder die Internate besuchen, die vom Staat eingerichtet und finanziert und von den Kirchen betrieben wurden. 6000 Kinder starben an den Folgen der dortigen Quälereien.

Der Kommissionsvorsitzende Justice Murray Sinclair sprach bei der Vorstellung des Berichts von einem «kulturellen Völkermord» – eine Einschätzung, die Kanadas Oberste Richterin wenige Tage zuvor geteilt hatte. Ziel der kanadischen Politik sei es lange gewesen, «den Indianer im Kind» zu töten und das «Indianer-Problem» ein für alle Mal zu beseitigen. Der Bericht skizziert ein Bild horrender Zustände: In den Schulen waren alle indianischen Sprachen verboten, ebenso kulturelle Bräuche und Feiern. Kontakt zu den Eltern oder anderen Familienmitgliedern war unerwünscht. Die meisten Kinder durften höchstens einmal im Monat Besuch bekommen, viele wuchsen ohne ihre leibliche Familie auf. Sexueller Missbrauch und physische Gewalt gehörten in vielen Internaten zum Alltag. Manchmal wurde den Kindern medizinische Hilfe verweigert, um die Taten zu vertuschen. Nicht wenige Ureinwohner nahmen sich später aus Scham das Leben.

Erste Entschädigungen

Die kanadische Regierung hatte sich vor sieben Jahren in einer Erklärung zu ihrer historischen Verantwortung bekannt und sich für die Vorfälle entschuldigt. Knapp 32 000 ehemalige Schüler wurden bereits entschädigt, 6000 Anträge werden noch bearbeitet. Knapp drei Milliarden Dollar hat die Regierung bisher an die Opfer ausgezahlt. Weiter lesen…