Acht Jahre lang wurde Norbert (66) als Kind und Jugendlicher sexuell missbraucht. Lange schwieg er. Bis sein unterdrücktes Leid ihn fast umbrachte. Sein Leben und
auch das seiner Tochter Kristin (40) prägt es bis heute.

Es ist ein Albtraum, aus dem es für Kinder und Jugendliche oft jahrelang kein Erwachen gibt: Immer wieder wurden in den letzten Jahren Fälle von Missbrauch in Schulen bekannt. Manche liegen Jahrzehnte zurück. Der Film „Verfehlung“, der gerade im Kino läuft, greift das Thema auf und erzählt von sexuellen Übergriffen eines katholischen Gefängnis-Seelsorgers.

Für Norbert Denef, 66, ist das keine Fiktion – er hat es erlebt: Der frühere Messdiener wurde nach eigenen Angaben vom 10. bis 18. Lebensjahr von einem katholischen Priester und ei- nem Organisten missbraucht. Die seelischen Wunden? Sind unsichtbar. Die äußeren Spuren: Als Erwachsener redete Norbert Denef manchmal wochenlang nicht. Keiner in der Familie ahnte, warum. Auch seiner Frau erzählte er nichts von seinen Gründen. Bis er 1989 einen Zusammenbruch erleidet. Er hat Depressionen, Angst- und Panikattacken, Herzrasen, Schweißausbrüche, Schlafstörungen. Und immer wieder Selbstmordgedanken. Damals wird ihm klar, dass er über sein Leid sprechen muss, wenn er weiterleben will. Seine Tochter Kristin (40) und er erzählen, wie sein Schicksal das Leben der Familie prägte – und wie sie heute damit leben.

KRISTIN ERZÄHLT

„Mein Vater hatte unsere Familie und seine Geschwister zu einem Gespräch gebeten. Er sagte, er müsse uns etwas wichtiges mitteilen. Im Raum herrschte erst Stille, dann brach Tohuwabohu aus: Die Familie reagierte entsetzt, meinte, er müsse schweigen und außerdem solle er die katholische Kirche nicht kritisieren! Ich bewundere meinen Vater dafür, dass er den Mut hat, über sein Schicksal zu sprechen. Als Kind hatte ich keine Ahnung, was mit ihm los war. Ich empfand es als ganz normal, dass mein Vater in Schweigen verfiel, manchmal für Tage oder Wochen.

Ich spürte die Wut, die sich dahinter verbarg, konnte sie aber nicht einordnen. Dass mein Vater gelegentlich schwieg, war bei uns einfach Alltag. Wenn man mich fragt, ob bei meinem Vater etwas anders war als bei meinen Freundinnen, würde ich sagen: Ja, er war immer da, präsenter als manch andere Väter. Immer, wenn es darauf ankam, konnte er sich aus seinen Depressionen lösen. Das hat mir Urvertrauen gegeben. Der Tag, als mein Vater unsere ganze Familie in sein Schicksal einweihte, ist im Nachhinein wie ein Film. Ich erinnere mich nur an die heftige Reaktion der ganzen Familie. Als er, meine Mutter, mein Bruder und ich uns danach in den Armen lagen, war es, als hätte ein Knoten sich gelöst. Ich konnte nun besser verstehen, warum mein Vater in sein Schweigen verfiel. Es hat mich emotional ganz schön durchgeschüttelt. Leider hat unsere Verwandtschaft seither den Kontakt zu uns abgebrochen. Das tut mir vor allem wegen meiner vielen Cousins und Cousinen leid. Es hat lange gedauert – aber inzwischen habe ich das Zerwürfnis akzeptiert. Besorgt bin ich nur, wenn mein Vater erzählt, dass er auch heute manchmal mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Ich versuche, nicht daran zu denken. Der Schmerz wäre für mich unerträglich. Durch sein langes Schweigen und den später offenen Umgang meines Vaters mit dem Missbrauch habe ich gelernt, immer meine Antennen auszufahren: Ich nehme Missstimmungen der Menschen um mich herum sehr sensibel und intensiv wahr. Ich fühle mich dem aber nicht mehr so ausgeliefert wie früher als Kind. Im Gegenteil, jetzt hilft es mir bei meiner Arbeit mit Kindern und Erwachsenen in meiner Flötenschule*.“

DAS SAGT IHR VATER

„Das Schweigen, mit dem meine Familie im Umgang mit mir konfrontiert war, fand ich selbst furchtbar. Es war wie Einzelhaft. Wie eingesperrt sein in eine Zelle, ohne es jemandem mitteilen zu können. 35 Jahre lang war es für mich nicht denkbar, mich jemandem mitteilen zu können. Zu groß war meine Scham, die Angst vor den Reaktionen. Diesen Teufelskreis, mich durch Schweigen zu verstecken, musste ich aufbrechen. Denn Schweigen ist das Schlimmste, was man seinen Kindern und seiner Frau antut. Ein Jahr lang übte ich immer wieder den Satz vor dem Spiegel: „Ich wurde sexuell missbraucht“. Machte mir Notizen, übte meine Rede wieder und wieder. Im November 1993 war es soweit. Ich lud meine Geschwister mit ihren Ehepartnern ein, mit dabei waren auch zwei Nichten und die beiden Täter. Einen davon brauchte ich nicht extra einladen, meinen Schwager, und der andere war ein guter Freund der Familie, der Pfarrer. Das Entsetzen meiner Geschwister, ihr Verdrängen wollen, haben mir sehr weh getan. Und gleichzeitig gezeigt, wie wichtig mein Outing war, denn dieses Leugnen wollen ist typisch für viele. Die wunderbare Reaktion meiner Frau und meiner Kinder haben das zum Glück aufgefangen.

Seit dem Tag meines Outings haben wir angefangen, über vieles zu reden, was vorher unausgesprochen blieb. Das hilft mir Weiterzuleben, Tag für Tag. Ich gründete das netzwerkB (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt)**, das sich inzwischen seit Jahren politisch für die Rechte Betroffener engagiert.“

Quelle: Laura 15.04.2015