Er spielte in dem Film „Die Auserwählten“ den Rektor der Odenwaldschule Gerold Becker. Andreas Huckele wurde als Kind dort missbraucht. Er sagt: Der Film hat Schaden angerichtet.

Herr Huckele, viele Leute fragen, ob das mit dem Missbrauch und den Missbrauchsdebatten irgend- wann wieder mal aufhört. Tut es das?

Nein, denn es gehört zu unserem Leben dazu, dass Kinder missbraucht werden. Damit dürfen wir uns nicht abfinden, aber wir müssen anerkennen, dass es so ist.

Sie haben entscheidend dazu beigetragen, das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule zu enttarnen. Das war vor fünf Jahren. Wo stehen wir heute?

Wir hatten schon einmal vor 16 Jahren die sexualisierte Gewalt an der Odenwaldschule publik gemacht – aber damals reagierte die Öffentlichkeit praktisch nicht. Sie wollte es nicht hören. Heute ist das anders. Wir erleben seit 2010 so etwas wie einen soliden Anfang.

Was könnte der nächste Schritt sein?

Eine neue Qualität des Diskurses wäre es, wenn wir aufhörten, von Betroffenen und Nichtbetroffenen sexualisierter Gewalt zu reden. Das Phänomen ist epidemisch in unserer Gesellschaft, das dürften inzwischen alle gemerkt haben. Auch wenn jemand diese Gewalt nicht selbst erlebt hat, so ist er doch betroffen, weil Freunde, Bekannte, Kinder sie erleben – und die Auswirkungen davon alles zerstören können, was den Menschen etwas bedeutet. Missbrauch geht uns alle an – er findet nicht irgendwo anders statt, sondern mitten unter uns. Erst wenn wir das anerkennen, können wir anfangen, Kinder endlich ein bisschen besser zu schützen.

Wie könnte das gelingen?

Wir könnten viel Schaden von Kindern abwenden, wenn wir in pädagogischen Institutionen wirklich zielgerichtet präventiv handeln – und bei Bedarf schneller einschreiten. Grundsätzlich ist es wichtig, schon bei Kindern ein Bewusstsein für den Kern von „sexualisierter Gewalt“ und „Sexualität“ zu entwickeln. Das heißt, sie müssen viel über die Grenzen von Erwachsenen und Kindern erfahren.

Der Aufklärungsprozess seit dem Jahr 2010 hat viele Wegmarken. Die vielleicht prominenteste war der Film „Die Auserwählten“, den vor kurzem über fünf Millionen Zuschauer gesehen haben. Bringt er eine neue Qualität?

Der Film richtet meines Erachtens mehr Schaden an, als er nützt.

Warum das?

Es geht darin erneut um das böse Monster. Wenn man das Monster zur Strecke bringt, so lautet die Botschaft, dann wird alles gut. Das ist Unsinn. Es gab an der Odenwaldschule vor und nach dem Schulleiter Gerold Becker massive Grenzüberschreitungen. Der Fehler liegt im System.

Ulrich Tukur hat für diese Monsterrolle herausragende Kritiken bekommen. 

Ja, aber er hat seine Rolle nicht verstanden. Tukur sagte in einem Interview, dass es bei Becker Licht und Schatten gegeben habe, die nah beieinanderlagen. Der damalige Leiter der Odenwaldschule aber hat das Licht nur vorgespielt, um seinen Schatten besser ausle- ben zu können, um als Pädokrimineller agieren zu können. Das ist etwas ganz anderes. Und es verstellt uns den richtigen Blick in unserem Alltag. Wir suchen nach Monstern – aber es sind Familienmitglieder, Bekannte und Vertrauenspersonen, die sich an Kindern vergehen.

Sollen wir deswegen alle unter Verdacht stellen?

Auf keinen Fall. Was wir brauchen, ist ein klarer, zielgerichteter Umgang mit der Situation – und kein Drama. Wenn es brennt, werden Feuerwehrleute benötigt und keine aufgeregten Helfer, die ziellos mit dem Wassereimer herumlaufen. Eine gute Informationspolitik ist dabei nützlich.

Sie gehen juristisch gegen den Film „Die Auserwählten“ vor. Wollen Sie ihn verbieten lassen, weil Sie ihn so schlecht finden? 

Wir wollen keinen Film verbieten lassen, wir vertreten unsere Persönlichkeitsrechte. Einer zweiten Person und mir geht es nicht um die allgemeinen Unzulänglichkeiten des Films, sondern um den erneuten Missbrauch, den er ausübt.

Worin liegt dieser Missbrauch Ihrer Auffassung nach?

Wir haben uns beide in diesem Film wiedererkannt, andere Leuten haben uns ebenfalls eindeutig identifiziert. Der Regisseur und der WDR plündern unsere Biographien aus. Unser Leben wird für einen Spielfilm missbraucht. Damit bin ich nicht einverstanden.

Der WDR betont aber, dass Personen und Ereignisse erfunden sind.

Man muss nur die Fotos von meinem Zimmernachbarn und mir aus der Zeit damals neben die Bilder der beiden Figuren in dem Film legen, dann wird man erkennen: Die Jungs sehen exakt aus wie wir damals. Aber es geht nicht nur um die Bilder, sondern um die Ereignisse, in die wir involviert waren, also um den Missbrauch, den wir erlebten.

Woher soll der Regisseur das denn gewusst haben? 

Ich habe in meinem Buch Szenen beschrieben, die genauso in dem Film zu sehen sind. Ich finde das deswegen so dreist, weil ich dem Regisseur Herrn Röhl ausdrücklich gesagt hatte, dass sich unsere Wege trennen, wenn fiktionalisiert wird. Ich kannte ihn von der Zusammenarbeit für seinen Dokumentarfilm über die Oden- waldschule, der 2011 rauskam. Aber ich wollte in seinem Spielfilm „Die Auserwählten“ nicht vorkommen. Trotzdem hatte er angeblich damals schon mit einer Redakteurin ausgehandelt, was der WDR mir als Honorar auszahlen sollte. Ich lehnte auch das ab – und dennoch hat er meine Geschichte verwendet. Da frage mich: Davon will der WDR nichts gewusst haben?

Was wiegt für Sie schwerer: Die Verletzung Ihrer Rechte? Oder die aufklärerische Wirkung des Films, der ja eine enorme Resonanz erfahren hat?

Man kann keinen guten Film über Missbrauch machen, indem man Menschen dafür missbraucht. Und was der Regisseure hier macht, ist für mich Missbrauch. Genau wie der Sender WDR, genau wie die Produktionsfirma oder der Vorsitzende des Betroffenenvereins „Glasbrechen“.

Aber „Glasbrechen“ setzt sich sehr für die Betroffenen ein!

Sein Vorstand nannte unsere Rechte „Partikularinteressen“. Das kann man nur so verstehen, dass wir unsere individuellen Rechte dem großen Ganzen opfern sollen. Die Würde des Menschen und des Kindes zu achten, ist das Leitmotiv des Grundgesetzes. Da gibt es wirklich keinen Fußbreit Spielraum für eine Abwägung, ob unsere Persönlichkeitsrechte oder der Film wichtiger sind.

Für die Öffentlichkeit ist es schwer, zu begreifen, dass sich die von Missbrauch Betroffenen ge- genseitig angreifen. Was läuft da eigentlich ab?

Wenn man als Kind zum Opfer geworden ist und dieses Trauma nicht bearbeitet, dann läuft man Gefahr, in einem Opfer-Täter-Retter-Dreieck gefangen zu sein.

Was ist das?

Das sind die grundlegenden Rollen, die ein Mensch, dessen Grenzen als Kind nicht geachtet wurden, später in seinem Leben einnehmen kann. Also, man bleibt entweder für immer Opfer, indem man immer wieder in die Rolle desjenigen schlüpft, der auf Anerkennungshäppchen hereinfällt und sich benutzen lässt. Oder man wird selber zum Täter, man lernt gewissermaßen, immer wieder die Grenzen anderer Leute zu überschreiten. Der Mensch klammert sich an eine dieser Positionen mit dem Ziel, den Schmerz über den erfahrenen Missbrauch nicht zu fühlen. Verständlicherweise. Wer hat schon gerne Schmerzen. Aber so bleibt man ein Leben lang der Gefangene seiner eigenen Biographie.

Welche Figur ist der Retter?

Man versucht darin, das eigene verletzte Kind in sich zu heilen, indem man anderen hilft. Es gibt solche Betroffenen, die wegen ihres Schicksals glauben, eine besondere Fähigkeit zu haben, nämlich andere in ihren Kinder-Ichs helfen zu können. Das ist ein bisschen so, als würde einer, der bei einem Unfall schwer verletzt wird, sich nicht zunächst um sich selbst kümmern, sondern unbedingt bei den anderen als Notarzt auftreten. Klar, dass das nicht funktioniert.

Können Sie verstehen, dass es für andere Betroffenen verletzend ist, wenn Sie die Demaskierung in dieser Schärfe vornehmen?

Ich greife niemanden an, und ich beteilige mich auch nicht an den Attacken der Betroffenen untereinander. Ich beobachte, und ich kommuniziere meine Beobachtungen. Viele Betroffene fallen auf ihre eigene Maskerade herein, hinter der sie die Differenz zwischen Wirklichkeit und Wunschdenken aufheben. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, diesen Selbstbetrug zu unterstützen. Wenn man ihnen das vor Augen führt, erleiden sie eher einen Phantomschmerz als einen echten.

Kann man aus dem Opfer-Täter-Retter-Dreieck eigentlich aussteigen?

Das Einzige, was funktioniert, ist, die eigenen Verletzungen wirklich zu heilen, damit man nicht mehr in diesem ungesunden Teufelskreis gefangen bleibt. Das muss jeder für sich machen – oft ein schmerz- hafter Prozess. Ich kann als Betroffener zunächst nur etwas für mich selbst tun. Ich habe Einfluss auf mein Handeln und nicht auf das der anderen. Das heißt, ich achte die Grenzen anderer – und ziehe meine eigenen, wenn sie von ande- ren überschritten werden.

Es geht so oft um die Odenwaldschule. Warum hat dieser Ort so einen Magnetismus?

Weil dort die Diskrepanz so groß war. Der offizielle Anspruch der Schule – „Kein Kind wird beschämt“ – und die Taten an den wahrscheinlich Hunderten Opfern stehen in einem obszönen Widerspruch. Aber Sie haben recht, dass so der Eindruck entsteht, Missbrauch finde in speziellen Zusammenhängen statt. Das ist eine gefährliche Verharmlosung. Wir wissen, dass sexualisierte Gewalt in allen sozialen Zusammenhängen stattfindet, in denen sich Kinder befinden – und nicht nur in so scheinbar speziellen Umgebungen wie dem Hexenhäuschen-Internat im Odenwald. Das ist romanti- scher Quatsch.

Wie kann man gefährliche Orte erkennen?

Missbrauch wird generell begünstigt, wenn Stärkere unbeaufsichtigt auf Schwächere treffen – in Krankenhäusern, Heimen, Behinderteneinrichtungen. Oder wenn die Machtdifferenz zwischen dem Stär- keren und Schwächeren scheinbar eingeebnet wird – wie in reformpädagogischen Schulen, wo die riskante Ideologie verbreitet wird, dass sich alle auf Augenhöhe begegnen. Solche Phänomene müssen wir endlich verstehen und darauf reagieren.

Die Fragen stellte Christian Füller. 

Quelle:
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG,
1. MÄRZ 2015, NR. 9