Andreas Huckele, 45, Beiratsvorsitzender im netzwerkB, besuchte von 1981 bis 1988 die Odenwaldschule. Seine Erfahrungen verarbeitete er in dem Buch „Wie laut soll ich denn noch schreien?“, das 2011 unter seinem Pseudonym Jürgen Dehmers erschien.

Dank Andreas Huckele wurden die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule publik. Für den stern schaute er sich den ARD-Film „Die Auserwählten“ an – und war fassungslos. Hier erklärt er seinen Zorn:

Gleich zu Beginn präsentieren die Macher stolz den Schatz ihrer Produktion: Von sanfter Klaviermusik begleitet, zeigt die Kamera den Originalschauplatz der Verbrechen. Den Ort, an dem Hunderte von Kindern sexualisierte Gewalt erlebt haben. Jahrzehntelang.

Der Einstieg zu den „Auserwählten“ funktioniert – so der Titel des Films, den das Erste am 1. Oktober 2014 um 20.15 Uhr zeigt.

Ich bin neugierig und aufgeregt. Alles sieht genauso aus wie in der 1980er Jahren, als ich Schüler der Odenwaldschule war und in der Familie des Schulleiters und Serientäters Gerold Becker lebte. Der heißt im Film Simon Pistorius (gespielt von Ulrich Tukur) und ist dem Original bis zum Haarschnitt nachempfunden.

Irritiert frage ich mich erstmals: Sollte hier nicht eigentlich eine frei erfundene Geschichte erzählt werden?

Fiktion oder Tatsachen – zumindest auf dem Bildschirm erscheint kein Hinweis, der Klarheit schafft. Bereits der Filmtitel lässt allerdings darauf schließen, dass hier überwiegend mit der Kopierfunktion gearbeitet wurde. Ein englischer Dokumentarfilm über Männer, die in einem Internat sexualisierte Gewalt erlebt haben, heißt ebenfalls „Chosen“. Und so wirkt auf mich auch alles andere an diesem Fernsehfilm über die Odenwaldschule nur geliehen. Zunächst bin ich versucht, Ulrich Tukur die Darstellung des Schulleiters abzunehmen, aber die Eindimensionalität des dargestellten Charakters verhindert das schnell. Mein Interesse weicht der Skepsis.

Erzählt wird die Geschichte aus der Per- spektive der jungen Lehrerin Petra Grust (Julia Jentsch). Der Schulleiter Pistorius stellt sie ein, nimmt sie auf in seine Welt, und der Zuschauer nähert sich dem Leben auf dem reformpädagogischen Internat nun durch die Augen der neuen Lehrerin.

Irritiert und ungläubig erlebt Grust, wie der Mikrokosmos Odenwaldschule funktioniert. In der Schulkonferenz diskutieren Lehrerinnen und Lehrer pseudodemokratisch, und am Ende trifft der Schulleiter die Entscheidung. Mal sieht er über den Drogenkonsum von Schülern mit einem Witz hinweg, ein anderes Mal erteilt er wegen des gleichen Vergehens einen Schulverweis.

Der Zuschauer erlebt einen Monarchen, der selbstgefällig teilt und herrscht. Der dabei immer seine eigenen Interessen im Auge hat – und nicht das Wohl der Kinder. Und alle fallen auf diese Hütchenspieler-Tricks herein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Die neue Lehrerin erkennt das Leid des Schülers Frank Hoffmann, der in der Schulfamilie des Schulleiters lebt und dessen permanenten Übergriffen ausgesetzt ist. Sie sucht das Vertrauen des Jungen, spricht mit ihm und erteilt ihm Nachhilfeunterricht. Sie allein nimmt die Verstörung des Jungen wahr – ausgerechnet sie, die einzige komplett erfundene Person des Films.

Eine Petra Grust gab es zu meinen Zeiten nicht einmal im Ansatz – niemand hatte uns zu helfen versucht. Was durch ihre Augen in dieser Miniaturgesellschaft zu besichtigen ist, kam erst Jahre später ans Licht. All das war in Zeitungsartikeln und Büchern zu lesen und auch in Dokumentarfilmen zu sehen.

Für den Spielfilm bedienen sich Regie und Drehbuch, Produktion und Redaktion des WDR schamlos aus den zahlreichen Berichten der ehemaligen Schüler, geben ihnen und den Tätern neue Namen und mischen eine Portion Weichspüler dazu. Als Musikstück wäre der Film ein Remix – neu aufgenommen, um als Supermarkt-Musik verramscht zu werden. Lediglich der Folklore-Faktor stimmt.

Als ich meinen einstigen Zimmernachbarn wiedererkenne, fällt mir die Kinnlade herunter. So eindeutig, so unverfroren! Sogar die Englandfahne haben sie ihm wieder über sein Bett gehängt. Er erfuhr von seinem Auftritt in dem Film durch mich. Er nannte es eine „Unverschämtheit“. Die Macher des Films haben nie mit ihm gesprochen.

Der Missbrauch, das ideologische Geschwafel des Personals, die Abhängigkeiten der Lehrer, die selbst Täter sind, und die Verblendung, dass eine antibürgerliche Haltung bereits eine gesellschaftliche oder pädagogische Leistung sei – all das wird dem Zuschauer nur als Episodensammlung angeboten.

Nach einer Weile spricht Petra Grust die beobachteten Indizien für den Missbrauch an. Sie hat den Musiklehrer Manni Wolf – unzweifelhaft die Imitation des Serientäters Wolfgang Held – mit einem jungen Schüler in Wolfs VW-Bus auf einer Wiese gesehen, beide unbekleidet. Die Reaktion einer Kollegin: „Nacktheit hat bei uns nicht unbedingt etwas mit Sexualität zu tun. Wenn der Schüler ein Problem hätte, dann würde er es doch sagen, oder?“

Der rote Faden des Films ist seine Unentschiedenheit: Soll er Fiktion sein, wofür die vollständige Erfindung der jungen Lehrerin spricht? Oder soll er sich möglichst nah an tatsächlichen Ereig- nissen bewegen, wofür die bis ins Detail präzise Rekonstruktion der Figur Beckers steht? Selbst seine Wohnung, einer von vielen Tatorten, wurde exakt nachgebildet – einschließlich der dort stattfindenden Saufgelage mit Schülern, wie sie zu meiner Zeit stattgefunden haben.

Es ist vor allem den Betroffenen zu verdanken, dass sich die Odenwaldschule in der öffentlichen Wahrnehmung von der reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung zum Synonym für den systematischen Missbrauch von Kindern wandelte. Mit ihren Berichten und Gesichtern haben die Betroffenen dafür gesorgt, dass die unvorstellbare Wirklichkeit der Odenwaldschule plötzlich nicht nur vorstellbar, sondern auch emotional nachvollziehbar wurde. Das Goethe-Haus war im März 2010 das meistgezeigte Motiv in den deutschen Medien. Das Land war im Schockzustand.

Diese mühsam zusammengesetzte Wirklichkeit wird nun in 90 Minuten wieder zerstört.

Ich habe den Film mit zwei Personen angeschaut, die nicht auf der Odenwaldschule waren. Beide fragten: „War das wirklich so?“ Was wir auf dem Bildschirm sehen, scheint am Ende wahrer als das Ergebnis, das die jahrelangen Bemühungen um die Wahrheit brachten.

Ein Film, der unterhalten soll, muss wohl auch das Gute anbieten. Es muss ein Aufatmen geben. Hier in Gestalt der Lehrerin, die die Nöte der Kinder sieht und etwas ändern will. Doch noch einmal: Diese Lehrerin gab es nicht!

Die Wirklichkeit war viel brutaler und hoffnungsloser, als dieses Filmchen seinen Zuschauern vorgaukelt. Vielleicht ist die Wahrheit zu brutal und hoffnungslos, um zur besten Sendezeit konsumiert zu werden.

Beim Abspann werde ich noch einmal richtig zornig. „Wir danken der Odenwaldschule für ihre Unterstützung“, heißt es da und soll die Drehgenehmigung am Originalschauplatz honorieren.

So viel Kaltschnäuzigkeit hätte ich nicht erwartet. Immerhin fanden die Dreharbeiten zu einer Zeit statt, in der ein Lehrer der Schule Kinderpornografie auf seinem Computer hortete und eine Schülerin von einer Lehrerin dafür gemobbt wurde, dass sie Grenzüberschreitungen zur Sprache brachte. Wieder wurde das erst öffentlich, als Medien darüber berichteten. So gesehen ist der Dank an die Schule der Gipfel des Zynismus: Hier wird gemeinsame Sache mit der Täterorganisation gemacht, wo Distanz angemessen gewesen wäre.

An dieser Stelle verkauft Christoph Röhl, der Initiator und Regisseur des Films, nicht nur die Betroffenen, sondern auch sich selbst.

Vielleicht hält sein Film ein klein wenig die Debatte über Gewalt gegen Kinder in Gang. Die Menschen aber, die auf der Odenwaldschule sexualisierte Gewalt erfahren haben, werden erneut beschädigt, indem ihre Biografien als Rohstoff benutzt und ausgebeutet werden.

Einer von ihnen schrieb den Machern des Films im vergangenen Jahr: „Ich bin Betroffener sexualisierter Gewalt an der Odenwaldschule, und nun bin ich Betroffener eures Filmes.“ Die Antwort des Produzenten war lapidar und ausweichend. Wie früher. So wie der Junge damals nicht gesehen wurde, so wenig wird heute der Mann gesehen, der seine Geschichte preisgab – ohne zu ahnen, was aus ihr wird. Ich habe aufgrund meiner jahrelangen Erfahrung immer gesagt: „Der Odenwaldschule sind wir scheißegal.“

Nun kommt hinzu: den Filmemachern offensichtlich auch.

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