von Christian Füller

Mit Christoph Röhls „Die Auserwählten“ kommt das Missbrauchs-Verbrechen der Odenwaldschule in die Wohnzimmer. Der Film versimplifiziert und verfälscht die Taten an dem Elite- und Vorzeigeinternat des besseren Deutschland – und er klagt die Falschen an

Missbrauch abends viertel nach acht im Wohnzimmer. Sexuelle Gewalt nach Vesper und Bierchen, und zwar ausschließlich dieses Thema in einem Spielfilm: Das ist hartes Brot und der bisherige Höhepunkt einer ganz unwahrscheinlichen Karriere des Themas in den Medien. Christoph Röhl hat den Film gedreht. Der Regisseur und ehemalige Hilfslehrer an der berühmten Odenwaldschule in Oberhambach kann für sich beanspruchen, bereits das zweite wichtige filmische Dokument dieses Jahrhundertverbrechens* vorgelegt zu haben. Die Fragen, die man an den Film richten muss, der am Mittwoch um 20:15 Uhr ausgestrahlt wird, sind drei: Erstens, ist es ein guter Film geworden. Zweitens, welche historische Bedeutung hat er und, drittens, am unbequemsten, wieso hat auch dieses Werk erneut keine strafrechtlichen Konsequenzen?

Zur Ästhetik: Natürlich ist „Die Auserwählten“ kein schöner Film, obschon es so viele idyllische und schöne Bilder aus dem Hambachtal gibt, in das die Hexenhäuschen der Schule gesetzt sind. Immerhin geht es um sexualisierte Gewalt, also die aus der Machtdifferenz entstehende Verführung und Vergewaltigung von Jungen und Mädchen (in diesem Fall: meistens Jungen) zwischen zehn und circa 16 Jahren. Röhl zeigt die Taten nicht so konkret, dass des Zuschauers Scham verletzt würde. Man kann streiten, ob das ein zulässiges Stilmittel ist. Jedenfalls wird deutlich genug, was die Jungen zu erleiden hatten, die den Musiklehrer täglich mehrfach melken mussten und die der Schulleiter Gerold Becker (gespielt von Ulrich Tukur), der Sonnengott der Schule, überfiel, missbrauchte und einschüchterte.

Ruppig und holzschnittartig – wie die Odenwaldschule

Insgesamt scheint der Film zu ruppig und zu holzschnitzartig geraten als Erzählung. Der Zuschauer stolpert von einer Missbrauchsszene zur nächsten, ohne dass es auch etwas anderes gäbe. Freilich muss man, wenn man die Verhältnisse kennt, zugestehen, dass die kriminelle Seite der sozialen Wirklichkeit der Odenwaldschule so platt und so himmelschreiend war, wie Röhl sie zeigt. Die Banalität des Bösen bestand bei Adolf Eichmann darin, dass er mit Ärmelschoner und Frühstücksdose den Transport von Millionen Juden in die Gaskammern organisierte. Die Banalität des Bösen an der Odenwaldschule bestand darin, dass der Schulleiter die Schüler mit guten Noten, Joints, Schnaps und hin und wieder einem Paar neuer Turnschuhe bestach – und sie sich dann in der öffentlichen Dusche, im Mehrbettzimmer oder inmitten einer Party in seiner Wohnung griff.

Auch dass die Lehrer davor die Augen verschlossen wirkt im Film zu einfach, beinahe unglaublich, irreal. Aber es war so. Sie waren geblendet von der Ideologie der Reformpädagogik, erfüllt vom libertären Zeitgeist der sexuellen Befreiung vom Adenauerismus und vor allem waren sie schlicht und ergreifend Straftäter, die sich wegen unterlassener Hilfeleistung und verletzter Fürsorgepflicht strafbar machten. Selbstverständlich wurde bis heute keiner von ihnen bestraft oder auch nur zur Rechenschaft gezogen. Es ist gut, dass Röhls Film den Finger erneut in diese Wunde legt. Ganz egal, ob er cineastisch gelungen ist, ob er exemplarisch genug ist – das ist das große Verdienst Röhls, das ihm keiner mehr nehmen kann.

Problematische Historisierung

Dennoch ist der Film sicher problematisch, denn er beginnt zugleich damit, das Thema zu historisieren. Er erzeugt hin und wieder ein mildes Zeitgeist-Lächeln, das retrospektiv ist, also den Eindruck erweckt: Ja, so war das halt. Damals konnte eben man die Lehrer duzen und um eine Zigarette anschnorren, auch wenn man erst 13 war. Oder den VW-Bus des Schulleiters bis oben hin mit Bier und Schnaps beladen. Ja, so war das – nur gibt’s da nichts zu lächeln. Denn die Nachfahren dieser idiotischen Non-Pädagogik treiben ja bis heute ihr Unwesen. Etwa indem sich erwachsene Lehrer mit ihren Schülern auf Facebook duzen, liken und gemein machen und es eine große Gemeinde von Lehrern gibt, die das lustig und harmlos finden.

Der Film hat echte Fehler, was für den Film als Zuschauerfilm okay ist, weil er eine Geschichte nicht historisch vollkommen korrekt erzählen muss und auch nicht kann. Er muss eine Botschaft vermitteln, das gelingt Röhl sicherlich. Dennoch sind hier Fehler begangen worden, die in der Tat problematisch sind – für den Inhalt und, vor allem, für die Ethik. Denn tatsächlich war eben keine Lehrerin und kein Lehrer so mutig wie Frau Grust alias Julia Jentsch, den Missbrauch zu recherchieren und offen in der Konferenz der Schule als solchen zu benennen. Diesen Gefallen darf man den Lehrern der Odenwaldschule nicht tun, dass einer von ihnen den Mumm besessen hätte, gegen den Missbrauch zu rebellieren und den Rektor anzuzeigen. Das sagt ganz viel noch über die aktuelle Lehrerschaft. Noch heute sitzen ein paar Mitwisser, Profiteure und naive Augenverschließer oben an der Odenwaldschule. Jedenfalls einige von ihnen.

Hier zeigt sich die grundsätzlichste und wichtigste Problematik des Films: Dadurch, dass er so nah an die echte Odenwaldschule heranfährt, dass er die Schule selbst als Kulisse wählt, die Opfer genau wie das leitende Personal kaum verhüllt repliziert, ist er gefangen: Er kommt aus diesem Käfig der Realitäten nicht zu größeren Deutungen heraus. Und er läuft dabei stets Gefahr, dass ihm Fehler vorgeworfen werden.

Röhl hat kein Kino gemacht

Was Röhl gemacht hat, ist gar kein Kino, sondern eine Puppenstube des Horrors einzurichten, nicht Cinema, sondern Journalismus, bei dem die Personen erst kopiert und dann umbenannt werden. Röhl fügt dem praktisch nichts eigenes Fiktionales hinzu. Der Stoff ist so stark, dass er daran kleben bleibt. Und wenn Röhl fiktionalisiert, dann tut er so schwach, dass er unglücklicherweise die Sache verfälscht.

Das geht bis hin zu Simon Pistorius aka Gerold Becker, gespielt von Ulrich Tukur. Gerold Becker war ein Chamäleon, ein Verwandlungskünstler, einer der Menschen lesen und sich darauf blitzschnell einstellen konnte. Tukur aber hat fast immer die gleiche kumpelhafte Mimik drauf, der große Menschenfreund. Tukur sagte mir in einem kurzen Gespräch, er spiele diesen dämonischen Schulleiter von der Odenwaldschule. Nun, der Gerold Becker von damals war kein Dämon, sondern ein sehr brutaler Päderast. Und ein bisschen dämonischer und brutaler hätte man ihn vielleicht dann doch spielen mögen. Bei Teddy, Tod und Teufel, das jedes Portrait enthalten soll, kommt Beckers Teufelei jedenfalls zu kurz. Becker abends vor seinem Billigcognac Mariakron, das war kein jovialer Typ, der seinem geistigen Gespielen schlagfertige Antworten gibt, sondern einfach ein besoffener Kerl. Und Becker wendete, wenn er allein mit Schülern war, brutale Gewalt an, viel brutaler als Tukur es spielt, und das gehört vielleicht dazu, auch um 20 Uhr 15 in der ARD: Missbrauch ist nicht onanieren in der Dusche, sich gegenseitig einen runterholen, Missbrauch ist Vergewaltigung, seelische wie reale.

Es gab kein j’accuse!

Warum ist der Fehler so bedeutsam, dass kein Lehrer es gewagt hat, den Missbrauch offen zu thematisieren? Weil Röhl den Tatraum dadurch versimplifiziert. Wenn man den Missbrauch damals offen hätte ansprechen können, ohne dass er beendet worden wäre, dann wäre die Schule selbstverständlich kein Kuschelinternat mehr gewesen, sondern ein Gulag. Es braucht den schönen Schein, und sei er noch so dünn und trügerisch, um ein Verbrechen dieses Ausmaßes über 20 Jahre hinweg möglich zu machen, und dieser Schein ist die Ideologie der Reformpädagogik a la Landerziehungsheim. Hat man sie nicht, braucht man in der Tat dicke Klostermauern und die Zwangsmittel eines physisch repressiven Systems. Die totale Institution Odenwaldschule aber brauchte keine Mauern, sie war ein hoch manipulatives System für Schüler wie für Lehrer. Ihr Zwangsmittel war das zähe sinnenverklebende Gespinst der Nähe zum Kind, der Pädagogik auf Augenhöhe, der Beziehung usw. usf. Schüler, die den Vergewaltiger Pistorius verprügeln, ein Trägervereinsvorsitzender, der den Schulleiter zur Rede stellt, eine Lehrerin, die offen „J´accuse“ sagt, zerrisse das Gespinst.

Röhls Fehler ist übrigens sehr real ein Problem – denn es macht die ganz wenigen mutigen Lehrer von damals, die sich gegen das System Gerold Becker auflehnten, plötzlich zu Mitwissern und zu Verbrechern, zu ganz realen Straftätern, die sich nicht um ihre Schüler kümmerten. Darin steckt eine Anklage, die einfach ungeheuerlich ist. Denn die Wolfgang Edelsteins, Uwe und Herta Laus, die Salman Ansaris, die sich so vehement gegen Becker wehrten, sie wussten nicht, dass es Missbrauch gab. Sie ahnten, dass etwas nicht stimmte. Sie hatten viele Indizien, aber in ihrem Kopf den Schritt zu gehen, dass Becker Kinder vergewaltigte, den gingen sie nicht. Den konnten sie nicht gehen, das war in der Tat außerhalb ihrer Vorstellungswelt. Auch weil sie es damals nicht gesehen hatten.

Lehrer als Miläufer, Mitwisser, Profiteure

Es gab an der Odenwaldschule sehr wohl Lehrer, die es sahen. Aber die waren entweder Mittäter, in den Hochzeiten gab es sechs Pädokriminelle von ihnen, die zugleich ihr Unwesen trieben; oder es waren Mitläufer und Stillhalter, die heimlichen Profit aus ihrem Mitwissen schlugen – indem sie etwa mit Schülerinnen Beziehungen unterhalten konnten; oder diese Lehrer haben heimlich, still und leise den Dienst quittiert, sie haben die Schule zu verlassen – und das System lief weiter. Egal, welcher Kategorie sie angehörten, sie alle haben die Schüler, ihre Schutzbefohlenen, aufs Schändlichste verraten. Aber nicht die Mutigen, die Christoph Röhl nun im nachhinein zu Schuldigen macht.

Warum wird niemand verhört und niemand festgenommen?

Bislang ist keiner aufgeklärt und festgenommen worden. Warum nicht? Warum gelingt es Großbritannien 40 Jahre nach Missbrauchstaten (Mit-)Täter anzuklagen, aber in Deutschland gelingt dies nicht? Wieso schafft das Königreich es, offizielle Missbrauchs-Berichte zu recherchieren und zu schreiben und dabei die Mitwisser zu befragen und zu demaskieren – aber in Deutschland hat bislang keine Behörde auch nur einen Lehrer von damals peinlich befragt?

Das ist eine Frage, die wir endlich beantworten müssen.

Der Fehler, den Christoph Röhl und seine hochgelobten Drehbuchautoren begehen, ist daher nicht als dramaturgischer Kniff zu rechtfertigen. Es ist ein schwerer und unverzeihlicher Fehler. Es wäre wichtig gewesen, nicht die komplette Schule als Missbrauchspfuhl darzustellen. Sonst tut man der noch immer sehr aktiven und sehr blinden reformpädagogischen Gemeinde einen Gefallen, der zu groß ist: Dass sie sich weiter selbst belügen mit dem schönen Schein einer Pädagogik auf Augenhöhe, die in Wahrheit so gefährlich wie eine Rasierklinge ist. Im Netzwerk Blick über den Zaun, an der Laborschule in Bielefeld und so weiter glaubt man – nun auch dank Röhls Film – immer noch, die an der Oso seien zu 100 Prozent Verbrecher gewesen, und deswegen sei ihre dolle Reformpädagogik doch irgendwie aus dem Gulag zu retten.

Und das ist sie sicher nicht.

Quelle: http://pisaversteher.com/2014/09/27/2779/

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