(Offenen Brief als PDF herunter laden)

Liebe Schülerinnen und Schüler der Odenwaldschule,

vielen Dank für Ihren offenen Brief [1], den wir sehr ernst nehmen und den wir in den vergangenen Tagen ausgiebig diskutiert haben. Wir haben uns für die Anrede an Sie auf das respektvolle „Sie“ verständigt, wenngleich wir hoffen, dadurch nicht allzu distanziert zu klingen. Wir nehmen eben an, dass Ihr Schreiben auch eher von jungen Erwachsenen formuliert wurde, denn von jüngeren Schülerinnen und Schülern.

Wir können gut nachvollziehen, dass Sie sich in Ihrer Privatsphäre gestört fühlen, wenn Sie – wie in dem Radiointerview zu hören – auf dem Schulgelände von Journalisten angesprochen werden die auf der Jagd nach den neuesten Informationen sind. Ebenso nachvollziehbar ist Ihr Ärger über die Ungerechtigkeit die Sie erfahren, wenn Sie in Bewerbungsgesprächen abgelehnt werden, weil Sie Odenwaldschülerin oder Odenwaldschüler sind.

Dass Sie bereit sind, „alles für den Erhalt“ der „Schule zu tun“ berührt uns, da wir diese Äußerung so interpretieren, dass Sie sich dort wohl fühlen und offensichtlich ein Umfeld gefunden haben, in dem Sie sich zu Hause fühlen und gerne zur Schule gehen.

Niemand greift Sie als Schulgemeinschaft an, schon gar nicht Sie als Schülerinnen und Schüler. Der Diskurs richtet sich an die Verantwortlichen der Odenwaldschule und an die dortigen Lehrerinnen und Lehrer.

Auf der Ebene Ihrer Argumente möchten wir Ihnen gerne weitere Perspektiven anbieten in der Hoffnung, uns damit verständlich machen zu können, wie wir die gegenwärtige Situation bewerten.

Wir teilen Ihre Meinung, „dass Vorkommnisse wie diese“, wir gehen davon aus, dass Sie den entlassenen Lehrer meinen, der dokumentierte sexualisierte Gewalt auf seinem Computer speicherte und dessen grenzverletzendes Verhalten gegenüber der Schulleitung von einer Schülerin rapportiert wurde, in jeder anderen Einrichtung auch hätten passieren können und dass die einzelne Person dafür zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Wir sehen aber auch, dass die Erwachsenen in der Odenwaldschule mit dem Täter solidarisch waren und nicht mit den Schülerinnen und Schülern.

Die Schülerin, die die Grenzverletzungen des Lehrers der Schulleitung meldete, wurde von einer Lehrerin herabwürdigend behandelt [2]. Es wurde Macht ausgeübt. Von der Lehrerin gegen die Schülerin. Vor den Augen der Mitschüler. Beim Militär heißt das „Strafe vor der Kompanie“ und ist in Deutschland aus gutem Grund verboten. Das bedeutet, die Lehrerin war solidarisch mit ihrem Kollegen und nicht mit dem Schüler, dessen Grenze verletzt wurde und auch nicht mit der Schülerin, die das Verhalten des Lehrers meldete. Genau das Gleiche spielte sich ab, als der neue Schulleiter, Herr Däschler-Seiler, sein Amt aufnahm. Er nahm die Abmahnung gegen die Lehrerin zurück, die die Schülerin wegen ihrer Meldung an die Schulleitung zurechtgewiesen hatte. Das war ein klares Zeichen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auf wessen Seite der neue Schulleiter steht und was er über grenzverletzendes Verhalten denkt. Alles nicht so schlimm. Und das zum Amtsantritt eines Schulleiters an einer Institution mit einer Geschichte wie der Odenwaldschule! Das ist gelinde gesagt: Bemerkenswert!

Selbst die Präventionsbeauftragte der Odenwaldschule konnte sich offensichtlich nicht gegen die Rücknahme der Abmahnung durchsetzen. Auch das ist ein klares Signal an die Schülerinnen und Schüler. Von dort kommt keine Hilfe.

Die Odenwaldschule wird gegenwärtig nicht deswegen massiv kritisiert, weil sich ein Einzelner falsch verhalten hat, sondern, weil die Organisation Odenwaldschule und deren Leitung sich falsch verhält. Sie bagatellisiert die Grenzverletzungen des Personals gegenüber Schülerinnen und Schüler und schützt die Erwachsenen und nicht die jungen Leute, die ihr anvertraut wurden. Es ist aber Aufgabe einer pädagogischen Einrichtung, die Schutzbefohlenen zu schützen! Es ist die Aufgabe der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ihre Tätigkeit in einer Weise auszuüben, die professionell ist und die den jungen Menschen nutzt, mit denen sie arbeiten.

Darüber hinaus sind sich Fachleute inzwischen einig, dass die Odenwaldschule über strukturelle Voraussetzungen verfügt, die Menschen anzieht, die an der Grenzüberschreitung gegenüber jungen Leuten interessiert sind. Der jüngste Fall ist ein Beleg dafür. In jeder anderen Schule wäre ein grenzverletzender Mitarbeiter anderen Konsequenzen ausgesetzt gewesen, als dass er lediglich auf eine Fortbildung zum Thema Grenzverletzungen geschickt worden wäre.

Es sind nicht die Medien, die die Schule kaputt machen, es sind die Verantwortlichen der Odenwaldschule, die die Schule kaputt machen. Hier verdrehen die Verantwortlichen der Odenwaldschule das Verhältnis von Täter zu Opfer zu ihren Gunsten!

Hätte die Odenwaldschule eine klare Haltung gegenüber Grenzverletzungen, wäre das, was gerade passiert ist, nicht passiert. Hätte die Odenwaldschule eine klare Haltung zu grenzverletzendem Verhalten, könnte jede Grenzverletzung angemessen bearbeitet werden, ohne dass irgendjemand Angst haben müsste, dass die Schule geschlossen wird oder, dass er oder sie dafür schlecht behandelt wird. Diese Angst wird von den Verantwortlichen der Odenwaldschule gefördert, nicht von der Außenwelt. Die Außenwelt reagiert lediglich auf die Ereignisse in der Odenwaldschule. Hier sehen wir eine Verdrehung von Ursache und Wirkung in Ihrer Perspektive auf die Ereignisse.

Die Verantwortlichen der Odenwaldschule sehen sich als Opfer. Das tun sie seit vielen Jahren. Sie sind aber keine Opfer. Sie sind Gestalter einer konkreten Lebensrealität von jungen Menschen und dieser Aufgabe kommen sie nicht verantwortungsvoll nach. Sonst würden keine Schülerinnen gemobbt und keine Schüler Grenzverletzungen erfahren, ohne dass diese Vorfälle angemessen bearbeitet werden würden.

Wir von netzwerkB sind solidarisch mit allen Menschen die sexualisierte Gewalt erfahren oder die sich für Menschen einsetzen, die Gewalterfahrungen beobachten und versuchen, sich für die Betroffenen einzusetzen. Unsere Solidarität gilt der Schülerin, die die Grenzverletzung erfahren hat und unser Mitgefühl geht an die Schülerinnen und Schüler, die in der Odenwaldschule Grenzverletzungen erfahren.

Viele Grüße

Das Team von netzwerkB

[1] http://netzwerkb.org/wp-content/uploads/2014/05/OLKS-PRES-DOKU-OSOH-Schülerparlament-2014-0515.pdf

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/odenwaldschule-lehrerin-setzte-schuelerin-unter-druck-12944404.html

Für Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Telefon: +49 (0)4503 892782 oder +49 (0)163 1625091