Norbert Denef wurde von einem Priester missbraucht und kritisiert die Heiligsprechung von Johannes Paul II.
Herr Denef, mit welchem Gefühl blicken Sie auf die Heiligsprechung von Johannes Paul II. am Sonntag auf dem Petersplatz in Rom?
Denef: Das tut einfach weh. Das ist wie Salz in tiefen Wunden, die immer noch offen sind. Mein Fall beweist, dass Johannes Paul II. hauptverantwortlich für das Vertuschen und Verschweigen vieler Verbrechen ist.
Was ist Ihnen passiert?
Meine persönliche Geschichte ist nicht wichtig, aber ein Fall, der stellvertretend für viele andere steht. Ich wurde bis zu meinem 16. Lebensjahr von einem Priester sexuell missbraucht, bis ich 18 Jahre alt war auch vom Leiter eines Kirchenchors. Ich habe 35 Jahre lang geschwiegen.
Was ist anschließend passiert?
1996 habe ich den ersten Täter angezeigt, erst zehn Jahre später konnte ich auch den zweiten Täter benennen. Ich war psychologisch blockiert. Als ich 2003 eine Entschädigung von der katholischen Kirche forderte, bot mir das Bistum Magdeburg 25 000 Euro an, unter der Bedingung, dass ich wieder schweigen würde. Ich konnte aber nie wieder schweigen, auch nicht, wenn sie mir zehn Millionen Euro geboten hätten.
Welche Rolle hatte Johannes Paul II. in Ihrer Geschichte?
In meiner Verzweiflung dachte ich, jetzt wende ich mich an den Chef der gesamten Institution. Ich hatte die ehrliche Hoffnung, dass der Papst den Bischof von Magdeburg maßregeln könnte, der mich wieder zum Schweigen bringen wollte. Nach einem halben Jahr kam der Brief aus Rom.
Was stand da drin?
Mir ging es damals schlecht, ich war in einer Psychoklinik. Am 27. April 2004, exakt zehn Jahre vor der Heiligsprechung am Sonntag, kam dieser versiegelte, beinahe mystisch wirkende Brief aus dem Vatikan. Der Papst schrieb mir, dass er für mich beten würde und ermutigte mich, für meine innere Heilung und die Kraft der Vergebung zu bitten. Wen sollte ich jetzt noch fragen? Es war, als sei ein Licht ausgegangen. Kurz darauf versuchte ich mir, das Leben zu nehmen. Der Versuch schlug fehl.
Johannes Paul II. wird vorgeworfen, den mexikanischen Priester und Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel Degollado, der Dutzende Kinder und Jugendliche missbrauchte, gedeckt zu haben oder auch den ehemaligen Bostoner Bischof Bernard Francis Law. Warum machen Sie Wojtyla persönlich verantwortlich?
Auch wenn er damals schon nicht mehr gesund war, hatte er doch die Verantwortung für seinen Betrieb. Dass er oder seine Leute mich aufforderten, zu beten und alles unter der Decke zu halten, ist der Beweis dafür, dass weiterhin vertuscht werden sollte. Das ist ungerecht. Da kann sich niemand herausreden. Er hat in den 26 Jahren seines Pontifikats verschwiegen, verleugnet und vertuscht, obwohl er genau gewusst hat, was da abgelaufen ist.
Warum sind Sie sich so sicher, dass der Papst Bescheid wusste?
Ich habe 2003 die gesamte Dokumentation meines Falles an den Vatikan geschickt. Es passierte nichts, bis heute. Es ist ein Verbrechen, jemanden zum Schweigen zu zwingen, der schon 35 Jahre lang geschwiegen hat. Und das nur, damit die Kirche keinen Schaden nimmt.
Wieviele Menschen in Deutschland wurden Opfer sexueller Gewalt durch die katholische Kirche?
Seriös kann man das nicht beziffern. Ich habe allein 20 000 Zuschriften anderer Opfer bekommen, seit ich an die Öffentlichkeit gegangen bin. Die Dunkelziffer ist gigantisch, die meisten nehmen ihre Erinnerungen mit ins Grab.
Was müsste aus Ihrer Sicht geschehen?
Die staatlichen Verjährungsfristen müssen aufgehoben werden, denn die Opfer wagen, wenn überhaupt, oft erst nach Jahrzehnten, die Taten anzuzeigen. Außerdem müssten die Verbrechen von externer Seite aufgeklärt werden. Wenn die Mafia sagen würde, wir klären unsere Verbrechen selbst auf, würden sich alle an den Kopf fassen. Verbrecher können ihre eigenen Verbrechen nicht wirkungsvoll aufklären, auch die Kirche nicht.
Dabei gibt es doch Bestrebungen zur Aufklärung, auch Benedikt XVI. wurde gelobt, er habe viel bei der Aufklärung bewirkt.
Diese Ansichten werden in den Medien verbreitet. „Benedikt entlässt 400 Priester“, solche Schlagzeilen. Ratzinger war die rechte Hand Wojtylas. Was hat er als Papst denn für die Opfer getan? In Deutschland speist man die Opfer mit etwa 5000 Euro ab, dann soll Ruhe sein. Das ist nicht einmal die Hälfte eines monatlichen Bischofsgehalts. Viele Opfer, von denen eine große Zahl in schlimmen sozialen Schwierigkeiten steckt, nehmen das Angebot an.
Wie sehen Sie die Rolle von Papst Franziskus in der Debatte um die Aufklärung von sexuellem Missbrauch?
Franziskus könnte derjenige sein, der endlich etwas ändert. Aber es genügt nicht, eine Kommission zum Thema zu berufen. Die Verbrechen müssen aufgearbeitet werden, auch wenn es weh tut. Vielleicht muss die Kirche ihre Güter für die Entschädigung der Opfer verkaufen. Aber nur durch die Aufarbeitung der Fälle könnte das Vertrauen wieder gestärkt werden und der Glaube an Jesus wieder aufblühen.
Zur Person: Norbert Denef, Jahrgang 1949, wurde als Kind und Jugendlicher sexuell missbraucht. 35 Jahre nach den Taten sprach er erstmals über die Verbrechen. 2010 gründete er einen der inzwischen größten Opferverbände in Deutschland, das Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt, kurz netzwerkB. Denef ist Sprecher des Verbands.
Das Interview führte Julius Müller-Meiningen, Italien- und Vatikan-Korrespondent
Mehr auf netzwerkB:
Heiligsprechung von Johannes Paul II.
Den folgenden Kommentar habe ich gerade online der Rheinischen Post geschickt, die heute verlauten ließ, gegen die Heiligsprechung von JP2 protestierten nun linkskatholische Grüppchen. Vom Fall Marcial Maciel Degollado keine Rede. So werden die Schäfchen von dieser Zeitung für Politik und christliche Kultur verscheißert.
„Schon zu Beginn der langen Amtszeit von Johannes Paul II. (1978-2005) war im Vatikan bekannt, dass Pater Marcial Maciel Degollado, der Gründer der Legionäre Christi, beschuldigt wurde, zwanzig Seminaristen sexuell missbraucht zu haben. Johannes Paul hat anscheinend nie etwas gegen diesen Sexualverbrecher, der auch Kinder missbraucht hat, unternommen. Im Gegenteil: Er hat sich von Maciel auf seinen ersten drei Mexikoreisen (1979, 1990, 1993) begleiten lassen. Noch im Jahr 2004 ehrte er Maciel außerdem dadurch, dass er ihm in einer Zeremonie im Vatikan die Leitung des päpstlichen Notre Dame Centrums in Jerusalem übertrug. Erst nach dem Tod des Papstes wies dessen Nachfolger Maciel an, ein zurückgezogenes Lebens des Gebets und der Buße zu führen.
In seiner jüngsten Erklärung streitet der Vatikan nicht ab, dass Johannes Paul nicht gegen Maciel vorgegangen ist. Er gäbe aber keine persönliche Verwicklung. Soll das heißen, dass der für Missbrauchsfälle zuständige Kardinal Ratzinger ihn nie informiert hat oder nur, dass er sich nie um den Fall Maciel gekümmert hat? Es bleibt der Eindruck bestehen, dass dieser Papst wenig an der Aufklärung und Prävention von Missbrauchsfällen interessiert war und stattdessen zumindest über Maciel schützend seine Hand gehalten hat. Vorbild war er hier nur im negativen Sinne, denn anscheinend war den meisten römisch-katholischen Bischöfen das Ansehen ihrer Kirche wichtiger als das Leid der Opfer.“
Mehr zum Fall Maciel:
http://www.reimbibel.de/Johannes-Paul-Marcial-Maciel-Degollado.htm
Lieber Norbert…
ich stehe kritisch der Amtskirche gegnüber,
warum müssen im 21.Jahrhundert noch Menschen HEILIG gesprochen werden,Jesus lebte mit den Armen,und die der Hilfe bedurften,
Salz in Deine Wunden,kann ich gut nachemfpinden…
als betroffene Mutter,eines meiner Kinder wurde von einem Priester vergewaltigt……
und in einer kirchlichen Einrichtung für Schutzbefohlene wurde die Würde der behinderten Tochter und deren Rechte verletzt……
Lieber Herr Denef, nach alledem was bisher über die gesamte Problematik und die Reaktionen der Verantwortlichen bekannt wurde ist nicht mehr damit zu rechnen, dass weitere Zugeständnisse seitens der RKK gemacht werden. Vielmehr liegt grosses Interessen darin, dass nicht mehr nachgefragt wird und möglichs schnell ggf. eine biologische Lösung kommt, früher oder später und das Problem entweicht. Man betrachtet das Problem bereits als erledigt und die Betroffenen nur noch als lästig, sie mögen künftig schweigen. Die RKK hat Zeit und schaut in die Zukunft. Das betrifft auch die Geschehnisse ausserhalb der RKK, wo Politik auch nicht anders agiert.
Schade eigentlich in einer westlichen wertegemeinschafts-Welt in der immerzu von Frieden, Verständigung, Rücksichtname, Nächstenliebe und Umgangskultur die Rede ist. Das scheint aber nicht die Realität zu sein.
Was zählt sind Macht und der schnöde Mammon, auch in der RKK.
Der Einzelne und seien es auch viele Einzelne haben da wenig Chancen.
@hugo:
Sie haben mit Ihrem Kommentar sicher in weiten Teilen Recht, aber die Katholische Kirche befindet sich seit einigen Jahren in einem Wettbewerb mit vielen anderen Religionen. Nicht in Deutschland – hier verzichtet man auf die Gläubigen, denn das Geld kommt auch ohne diese vom Staat und von jeder Menge Unternehmen an denen man von Deutschland aus beteiligt ist. Es geht um Asien und Afrika, und dort geniesst die Katholische Kirche nur einen „guten Ruf“, wenn man es sich in Europa nicht ganz verscherzt. In den USA ist die Katholische Kirche hier schon „unten durch“, und bald werden weitere Diözesen Pleite gehen, weil den Missbrauchsopfern Entschädigung zu zahlen ist. Bringt man die Vergehen und Verbrechen der Katholischen Kirche der Neuzeit ins Internet, werden diese von anderen Religionen dazu genutzt, den Leuten in Afrika und Asien die Augen zu öffnen. Es sollte das Motto gelten: „Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde!“, dann muss niemandem Angst sein und werden, dass die Katholische kirche für diese Dinge nicht abgestraft werden wird.
Wie sagte doch dereinst der nun heiliggesprochene Johannes Paul II: „Non abbiate paura!“