Von Christoph Lüttgen
BONN. Im Strafrecht gilt der Grundsatz: Je schwerer ein Delikt mit Strafe bedroht ist, desto länger kann es geahndet werden. Für Straftaten aus dem Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen sieht das Strafgesetzbuch Verjährungsfristen zwischen fünf und 30 Jahren vor.
In den meisten Fällen gelten die Taten jedoch nach zehn bis 20 Jahren als verjährt. Zwar hat der Gesetzgeber den Beginn der Verjährungsfristen im vergangenen Jahr vom 18. aufs 21. Lebensjahr des Opfers heraufgesetzt. Dennoch müssen Betroffene häufig feststellen, dass ihnen die Rechtsordnung keinen Weg mehr zur gerichtlichen Aufklärung und Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts bietet.
Denn bis Missbrauchsfälle bekannt und die Täter verfolgt werden, dauert es oft Jahre. „Traumatische Ereignisse im Kindesalter werden oft verdrängt, so dass sich Opfer erst in späteren Lebensphasen – etwa nach einer Therapie – an die Tat erinnern und eine Strafanzeige erwägen können“, erklärt Tatjana Hörnle.
Die Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin hat im Auftrag des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung den Reformbedarf im Strafrecht mit besonderem Blick auf die strafrechtliche Verjährung von sexuellem Missbrauch untersucht. „Die Interessen der Opfer finden im derzeitigen Strafrecht zu wenig Berücksichtigung“, ist die Expertin überzeugt.
„Die Verjährungsfristen nach sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen müssen endlich aufgehoben werden“, fordert Andreas Huckele, der zu den insgesamt 132 Schülerinnen und Schülern der Odenwaldschule in Heppenheim zählt, die zwischen 1965 und 1998 Opfer von Übergriffen durch Lehrer geworden sind. Jahrelang habe er geschwiegen, sich geschämt. Und als der heute 48-Jährige den Mut gefasst hatte, über das Erlebte zu sprechen, war es für eine strafrechtliche Verfolgung der Täter zu spät. Sein Fall war – wie alle an der Odenwaldschule bekannt gewordenen Taten – verjährt. Für Opfer, so Huckele, sei es unerträglich, wenn sie den Täter nicht als solchen bezeichnen dürften, weil der Missbrauch verjährt sei und sie ihn aufgrund ihrer Traumatisierung nicht selten erst nach Jahrzehnten benennen könnten.
Auch Norbert Denef hat Jahrzehnte gebraucht, bis er sich öffnen konnte. Als Kind ist er in seiner Heimatstadt Delitzsch in Sachsen erst von einem Priester und später von einem Organisten missbraucht worden. Als der heute 64-Jährige seine Peiniger anzeigen wollte, war es zu spät. „Verjährungsfristen bei sexueller Gewalt gegen Kinder nützen nicht den Betroffenen, sondern den Tätern. Der Täterschutz steht noch immer im Vordergrund der Gesetzgebung“, bedauert Denef, der sich als Gründungsvorsitzender der Interessenvertretung „netzwerkB“ den Kampf gegen die Verjährung von sexuellem Missbrauch auf die Fahne geschrieben hat. Weiter lesen…
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