Aufmerksamer und vorsichtiger: Die katholische Kirche schult ihre Mitarbeiter im Kampf gegen sexuellen Missbrauch.

Hildesheim. Im Regal stehen Kinderbibeln, auf dem Regal steht ein silbernes Kruzifix. Draußen streichen Hühner um das katholische Pfarrhaus von Holle-Sottrum. Hier drinnen geht es darum, einen eigenen Standpunkt zu finden. Und zwar im Wortsinne. Knapp ein Dutzend Männer und Frauen geht zwischen Schildern herum, die auf dem Boden liegen: „Normal“, „Grenzverletzung“, „Sexueller Übergriff“ und „Sexueller Missbrauch“ steht darauf.

Ein Diakon und eine Kita-Mitarbeiterin sind gekommen, Ministrantenbetreuer und Sternsingerbegleiter. Lauter Leute, die in der Kirche mit Kindern zu tun haben. Und jetzt sollen sie sich zu verschiedenen Fragen positionieren, ganz physisch, indem sie sich auf die Schilder stellen: Darf die Küsterin einem Messdiener den Gewandknopf zumachen? Die meisten Schulungsteilnehmer bleiben irgendwo zwischen „Normal“ und „Grenzverletzung“ stehen. „Besser, sie fragt vorher“, sagt ein Mann. Die anderen nicken.

Dürfen Betreuer bei einer Freizeit im selben Zelt schlafen wie die Jugendlichen? „Haben wir früher immer so gemacht“, sagt eine Frau. „Geht heute aber nicht mehr, die brauchen ihre Privatsphäre“, sagt eine andere. Beifälliges Grummeln. Darf der Kaplan mit Ministranten bei Facebook befreundet sein? Oder mit ihnen in die Sauna gehen? Dürfen Betreuer ein weinendes Kommunionkind in den Arm nehmen? Und muss man seine Oma küssen, auch, wenn man nicht will?

Viel hängt von der Situation ab und davon, wie gut sich die Personen kennen. „Oft gibt es die eine, richtige Antwort nicht“, sagt Heike Jemand. „Aber das Nachdenken hilft, mehr Sensibilität für das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz zu entwickeln.“ Die Sozialpädagogin leitet die kirchliche Fortbildung „Prävention von sexualisierter Gewalt“. Sie verteilt in Sottrum und anderswo Broschüren, zeigt Filme, diskutiert mit Teilnehmern über Täterstrategien und die verborgenen Signale, die Opfer oft aussenden.

Jeder soll geschult werden

„Missbrauchte Kinder berichten im Schnitt sieben Erwachsenen von ihren Erlebnissen, bis ihnen geholfen wird“, sagt sie. Vielleicht liegt das daran, dass Kinder in ihrer eigenen Sprache sprechen. Oder daran, dass Erwachsene nicht hinhören. Im Jahr 2011 wurden in Deutschland 12 444 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt: „Experten schätzen, dass die wirkliche Zahl bei 300.000 liegen könnte“, sagt Heike Jemand im Sottrumer Pfarrhaus. „Jedes fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge sind irgendwann betroffen.“

Der Kurs in Sottrum soll helfen, das zu ändern. Rund 16.000 Mitarbeiter schreibt das Bistum Hildesheim derzeit an, alle Haupt- und Ehrenamtlichen, vom Priester bis zur Jugendleiterin – und bittet sie zu dieser Präventionsschulung. Es ist eine sehr nachdrückliche Bitte: „Wer nicht teilnimmt, kann künftig in der Kinder- und Jugendarbeit nicht mehr mitmachen“, sagt der Hildesheimer Weihbischof Heinz-Günter Bongartz. Die Schulung ist das größte Fortbildungsprojekt in der fast 1200-jährigen Geschichte des Bistums. In den Kirchengemeinden sorgt sie für Gesprächsstoff: Ist das wirklich nötig – einen ganzen Tag ans Bein zu binden? Gilt man jetzt etwa als Pädophiler, wenn man nicht teilnimmt? Oder gerade, wenn man teilnimmt? Die Unsicherheit ist groß.

„Wir nehmen das Thema sehr ernst – und dazu haben wir allen Grund“, sagt Weihbischof Bongartz. Vor vier Jahren, als viele Fälle von sexuellem Missbrauch in der Kirche ans Licht kamen, war er die kirchliche Ansprechperson für Betroffene. Sein Bistum appellierte damals an Opfer, sich mit der Kirche in Verbindung zu setzen. „Ich hoffte, dass sich niemand melden würde“, sagt Bongartz. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte.

„In vielen Gesprächen habe ich seither ein Gespür dafür bekommen, wie Menschen durch den Missbrauch in ihrer Seele gebrochen werden“, sagt er. Rund 60 Opfer haben sich gemeldet, an 38 von ihnen leistete das Bistum „Anerkennungszahlungen“ von insgesamt 113 000 Euro. Vermutlich 25 Priester sind in dem Gebiet, das etwa die Osthälfte Niedersachsens umfasst, seit 1945 zu Tätern geworden. Sein Blick auf die eigene Kirche habe sich dadurch gewandelt, sagt der Weihbischof: „Ich habe entdeckt, welche dunklen Seiten sie haben kann“, sagt er. „Und wir haben Konsequenzen gezogen.“

Tatsächlich haben die Bischöfe Leitlinien verabschiedet, die bei Missbrauchsfällen die Zusammenarbeit mit staat­lichen Behörden klar festschreiben – ­sofern nicht die Opfer selbst schriftlich ­bitten, davon abzusehen. In Hildesheim müssen alle Kirchenmitarbeiter polizeiliche Führungszeugnisse vorlegen, von ehrenamtlichen Helfern wird jetzt eine schriftliche „Selbstverpflichtung“ verlangt. Früher wurden Pfarrer, die sich an Kindern vergangen hatten, gerne mal stillschweigend in die nächste Gemeinde versetzt: „Diese  Zeit des Vertuschens und Verharmlosens ist endgültig vorbei“, sagt Jutta Menkhaus-Vollmer, die seit zwei Jahren Präventionsbeauftragte des Bistums ist. Papst Benedikt versetzte weltweit 384 Priester in den Laienstand, Papst Franziskus prangerte die Taten jüngst als „Schande der Kirche“ an.

Nicht alle wollen sich damit zufriedengeben: „Das alles ist doch Augenwischerei, das dient nur der kirchlichen Imagepflege“, sagt Norbert Denef. Als Messdiener wurde er in seiner Heimatstadt Delitzsch über Jahre hinweg von einem Priester missbraucht. Nach Jahrzehnten kollabierte er psychisch, erst als Erwachsener brach er das Schweigen. „Bei der Aufarbeitung alter Fälle gibt es keine Transparenz in der Kirche“, moniert er. Der heute 64-Jährige spricht schnell, wenn er darüber redet. Seine hohe Stimme klingt so kindlich, als wäre ihre Entwicklung damals stehen geblieben. Emotionslos kann er nicht bleiben, nicht nach allem, was er erlitten hat.

Von der Politik fordert Norbert Denef eine Aufhebung der Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch, von der Kirche höhere Entschädigungszahlen. Er selbst hat vom Bistum Magdeburg 25.000 Euro bekommen – die nichts ungeschehen machen können: „35 Jahre Schweigen sind wie 35 Jahre Einzelhaft“, sagt er. Der Gründer der Betroffeneninitiative „netzwerkB“ verlangt für diese Zeit von der Kirche das, was unschuldig Inhaftierte als Haftentschädigung bekommen: einen Tagessatz von 25 Euro, dazu 100.000 Euro für Therapien – also insgesamt rund 450.000 Euro. Aber wie will man Leid auch beziffern? Wie den Wert einer heilen Seele bemessen? Den Preis eines Martyriums?

Die Vereinten Nationen zumindest haben Norbert Denef jetzt aus dem Herzen gesprochen: Der Vatikan stelle „die Reputation der Kirche und den Schutz der Täter über die Interessen der Kinder“, heißt es im jüngsten Bericht des UN-Kinderrechtekomitees.
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