(Foto: netzwerkB-Tagung in Scharbeutz)

Aktivisten kämpfen mit einem Brief von Heiko Maas gegen Verjährung

von Birgitta Stauber-Klein

Essen/Berlin. Es sind deutliche Worte, die SPD-Politiker Heiko Maas im Jahr 2010 fand. An Norbert Denef, Kopf der „Opferinitiative netzwerkB“, schrieb er damals: „Es darf einfach nicht sein, dass ein solches widerliches und grausames Verbrechen verjährt und die Täter ungeschoren davonkommen.“ Er setzte sich dafür ein, die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch aufzuheben. Heute ist Maas Bundesjustizminister.

Passiert ist bisher wenig. Lediglich das Alter des Opfers, ab dem die Frist einsetzt, wurde von 18 auf 21 Jahre angehoben. Nun plant die Koalition mit 30 Jahren. Ob dies dem Minister reicht, ließ er gegenüber dieser Zeitung offen. Dass netzwerkB seinen Brief verwendet, sei in Ordnung. Politiker sollten daran erinnert werden, was sie für richtig halten.

Der Linken-Abgeordnete Alexander Neu erklärte, er wolle persönlich Heiko Maas an sein Versprechen von 2010 erinnern. Auch der CDU-Abgeordnete Maik Beermann unterstützt die Forderung, die Verjährungsfrist abzuschaffen.

Das Leben nach dem Missbrauch

Drei Männer erzählen, wie Pädophile ihr Leben zerstörten

Bottrop. Alkoholsucht, berufliches Aus, Scheidungen: Drei Männer erzählen, wie Pädophile ihr Leben zerstörten. Mit den Taten abfinden können sie sich nicht. Nun hoffen sie, dass die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch fällt – damit sie ihre Täter auch noch nach 30 Jahren juristisch belangen können.

Ein Bundestagsabgeordneter, der bei einem internationalen Kinderpornoring Nacktfilme von Knaben bestellt haben soll: Als Markus Elstner von der Affäre Sebastian Edathy hörte, kam sofort seine eigene Geschichte wieder hoch. Die des zwölfjährigen Messdieners, der auserwählt war, beim charismatischen Kaplan an den Wochenenden zu übernachten. Was wie eine Auszeichnung wirkte, fügte dem heute 47-jährigen Bottroper schweren Schaden zu.

Elstner wurde schwer missbraucht. Gefügig machte ihn der junge Geistliche mit Alkohol – und mit Geld. „Ich kaufte mir davon ein Skateboard“, sagt Markus Elstner. Es trug den Schriftzug „Alien“. Der Bottroper hat es nie weggeworfen: „Als Außenseiter fühle ich mich noch immer.“

Der Täter ist als Kinderschänder bekannt und auch vorbestraft. Es handelt sich um Peter H., der 1979 unter Joseph Ratzinger vom Bistum Essen nach Bayern versetzt wurde, nachdem Übergriffe auf Kin­der bekannt geworden waren. Denn wie Markus Elstner erging es auch anderen Jungen. Doch statt Peter H. anzuzeigen, schickte das Bistum ihn zunächst von Bottrop nach Essen. Dort missbrauchte er weitere Kinder, darunter einen elfjährigen Jungen. Dessen Eltern sorgten dafür, dass H. aus dem Bistum verschwand, um in Bayern als Seelsorger unterzutauchen.

Während die Geschichte von Peter H. als charismatischem Pfarrer, der immer wieder die Gelegenheit bekommt, sich an Kindern zu vergreifen, nun erst beginnt, ist für Markus Elstner die unbeschwerte Jugend beendet. „Ich hatte keine Ahnung, was mit mir passierte, denn niemand hatte mich aufgeklärt.“ Die Bilder aber holen ihn heute immer noch ein.

Als sich im Jahr 2010 der Missbrauchskandal der katholischen Kirche entfaltete, als das Berliner Canisius-Kolleg oder das Bonner Aloisius-Kolleg als berühmt-berüchtigte Tatorte durch die Medien gingen, „da waren die Bilder wieder da“. Auch das Treiben des Peter H. ging durch die Presse. Seinem frühen Opfer Elstner wurde damals klar: „Es geht nie um die Opfer. Es geht immer nur um die Täter.“ Endlich, dreißig Jahre später, erstattete er Anzeige. Doch es war zu spät, der Missbrauch war verjährt. Peter H. musste sich nur für spätere Taten verantworten.

Bei vielen Opfern aus den 70er- und 80er-Jahren trat der Missbrauchskandal eine Lawine los. Endlich trauten sie sich, von ihren Erlebnissen zu erzählen. So wie Karl Görtz. Der heute 57-Jährige wurde von seinem Fußballtrainer missbraucht. Bis 2001 konnte er verdrängen, „dann ergriff ein Trauma von mir Besitz“. Es folgten ein Selbstmordversuch und das berufliche Ende des Industriemeisters. „Ich konnte meine Erlebnisse nicht mehr abschütteln“, erklärt er.

Zwei Mal kam er in die Psychiatrie. Eine Psychologin riet ihm, trotz Verjährung den Fußballtrainer anzuzeigen. „Ich unterschrieb die Aussage, dann habe ich von der Polizei nie wieder etwas gehört.“ Der Täter trainierte damals immer noch Kinder. „Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Das hat mich wahnsinnig gemacht.“

Peter Timmer (57) ist trockener Alkoholiker. „Es gab Zeiten, da habe ich täglich zwei Flaschen Wodka getrunken, um nicht zu Bewusstsein zu kommen.“ Gelehrt hatte ihn das Trinken Horst G., ein katholischer Pfarrer, der sich das Vertrauen des evangelischen Kindes erschlich. Vier Ehen hat der gelernte Schreiner hinter sich, auch einen Alkoholrückfall im Jahr 2010, als der Missbrauchskandal auf dem Höhepunkt war.

5000 Euro Entschädigung

Die katholische Kirche hat Timmer und Elstner als Missbrauchopfer anerkannt, ihnen Geld aus dem Entschädigungsfonds gezahlt. 5000 Euro für Elstner, 8000 Euro für Timmer. Beide konnten nichts damit anfangen, sie haben es sofort ausgegeben, verschenkt und gespendet. Obwohl sie von Hartz IV leben, weil sie viel zu unstet sind, viel zu belastet, um sich einem festen Job zu widmen. „Ich hätte mich als Nutte gefühlt“, sagt Timmer leise.

Seit einiger Zeit gehören Timmer und Görtz zur Selbsthilfegruppe, die Markus Elstner ins Leben rief. Nun will Elstner die Gemeinde aufrütteln und dafür kämpfen, dass die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch aufgehoben wird. Ob er damit nicht Ärger heraufbeschwöre mit Gemeindemitgliedern, die sich vor den Kopf gestoßen fühlen? „Hoffentlich“, sagt Elstner. „Ich bin doch im Recht.“

Kommentar

von Birgitta Stauber-Klein

Opferschutz geht vor Täterschutz

Wer als Kind missbraucht wurde, bleibt ein Opfer – lebenslang. Wer das Kind missbraucht, ist nur befristet ein Täter. Irgendwann kann auch die Anzeige der reinen Weste nichts mehr anhaben. Diese Gesetzgebung schützt eindeutig die Täter und lässt die Opfer mit ihrem verkorksten Leben hilflos zurück.

Die Alkoholsucht. Die Unfähigkeit, eine Beziehung zu führen. Die gescheiterte berufliche Entwicklung. Die Depressionen, die Selbstmord- versuche. Die Folgen des Missbrauchs sind häufig schwere Traumatisierungen, die ein normales Leben unmöglich machen.

Die Bilder, sagen Betroffene, kommen immer wieder hoch, mitunter jede Nacht. Bis sie so weit sind, den Täter anzuzeigen, kann es Jahrzehnte dauern. Ausschlaggebend kann sein, dass sie einen Täter wiedersehen. Oder sie erfahren, dass der Kinderschänder immer noch Kinder im Verein trainiert. Vielleicht haben sie auch durch eine Therapie begriffen, was überhaupt passiert ist.

Eine Anzeige kann helfen, die Taten zu verarbeiten. Wenn aber dem Opfer mitgeteilt wird, das Gesetz lasse aufgrund der Verjährung „keine Möglichkeit, die Anzeige zur Anklage zu bringen“, stehen die Opfer der Justiz ohnmächtig gegenüber.

Bei spektakulären Missbrauchsfällen dreht es sich meist um die Frage: Wie konnte es so weit kommen? Was ging im Täter vor? Nun ist es Zeit, den Blick auf die Opfer zu richten. Ein Ende der Verjährungsfrist ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Quelle: WAZ_26.02.2014

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