Fortsetzung des Austausches zwischen dem Psychologen Volker Bracke und Beate Lindemann-Weyand

Um die Seele zu öffnen, sich anzuvertrauen und um schließlich über die Brücke zu gehen, braucht jeder Mensch ein Minimum an Vertrauensvorschuss. Eine kindliche Seele, die von Menschenhänden schwer verletzt wurde, verfügt oft nur noch über ein gebrochenes Vertrauen.Vermutlich wird es im therapeutischen Setting einen sehr langen Zeitraum in Anspruch nehmen einen gewissen manchmal auch nur minimalen vertrauten Rahmen miteinander zu schaffen?

Bracke: Wie Sie schon sagten, ist ein Vertrauensvorschuss (den man übrigens nicht braucht, sondern geben muss) seitens des/der PatientIn nötig, gerade bei Beziehungstraumata aber natürlich auch eine schwierige Frage. Warum sollte sich jemand, der ausge­rechnet durch Personen, denen er oder sie anvertraut war, gewaltsame und grenzüber­schreitende Erfahrungen machen musste, unbekannterweise vertrauensvoll in einen Kontakt mit mir (als Therapeut) begeben? Genau das ist ja sein/ihr Problem, das sich nicht einfach als Vorbedingung abschütteln lässt. Ich würde allerdings positiv unterstellen, dass schon die Suche nach Hilfe und die Kontaktaufnahme einen großen ersten Vertrauensschritt darstellt, selbst wenn dieser möglicherweise durch den Druck zustandekommt, die eigene Situation nicht mehr zu ertragen. Genau damit vertraut man sich wieder jemandem an. Und trotzdem wird die innere Anspannung und Unsicherheit vorerst bleiben, in der dieses „Vertrauen-Wollen“ dem vielfach erlebten, gespeicherten und bestätigten Misstrauen gegenübersteht. Deshalb ist es oftmals beiderseits harte innere Arbeit, diesen Rahmen zu schaffen – manchmal ist das ein großer Teil der eigentlichen Therapie! Immer wieder ist die Vertrauensfrage erneut zu überprüfen, die Stabilität der Beziehung, die eigene Offenheit, das Erleben, ver­standen zu werden und gut aufgehoben zu sein. Es ist heute therapeutisches Allgemeinwissen, dass mehr als jede spezielle Methode die therapeutische Beziehung heilsam wirkt. Sie ist die Basis, auf der jegliche Methoden angewandt werden, und gleichzeitig die Voraussetzung dafür, die u. U. hart erarbeitet werden muss. Dazu gehört therapeutischerseits die Sicherheit, die eigenen Grenzen und die des/der PatientIn einzuhalten, aber auch die Konfrontation der/des PatientIn damit, wie die Konfliktseiten von Vertrauen und Misstrauen sich auf den aktuellen Kontakt miteinander auswirken.

Die Betonung des Beziehungsaspekts kommt m. E. in einem Schreiben meines Kollegen Oliver Schubbe vom Institut für Traumatherapie in Berlin (September 2013) zum Ausdruck, das ich hier gerne zitiere: „In den letzten Jahren haben wir eine zunehmende Vielfalt traumaspezifischer Behandlungs­ansätze kennen gelernt. Sie unterscheiden sich im Wirkungsgrad, aber offensichtlich führen sehr unterschiedliche Vorgehensweisen zum Ziel. Die eine richtige Methode gibt es nicht. Je früher die Traumatisierung begonnen hat, desto wichtiger ist ein individuelles und auf die Bindung bezogenes Vorgehen. Die eine umfassende Theorie gibt es auch nicht, die erklären könnte, warum die wirksamen Verfahren und Methoden wirken. Es gibt aber immer mehr gemeinsame Prinzipien und Wirkweisen.“ Womit wir wieder beim Thema Individualität in der Psychotherapie wären …

Lindemann-Weyand: Ich möchte ein inneres Dilemma kurz an meinem persönlichen Beispiel erläutern. Als ich noch ein Kleinkind war, und bereits entsetzlich erschüttert innerlich, von bereits vor meiner Adoption stattfindendem Super- Gau, bemühte ich mich einerseits nun wieder zu vertrauen, denn mir blieb um zu überleben auch nichts anderes übrig-andererseits sagten alle meine Alarmglocken, dass ich dies auch in der neuen Familie nicht könnte. Was sich einerseits leider fatalerweise bewahrheitete, und andererseits waren es an anderen Stellen doch meine vorherigen Erfahrungen, die mich in den Alarmzustand versetzten. Mir wurde beispielsweise von Personen versichert, dass ich mich täusche, aber dann folgte leider genau das, was mein Alarmsystem auch schon richtigerweise als zerstörerisch ausgemacht hatte. Verstehen Sie?

Bracke: Durchaus, und auch ohne Missbrauchs- oder Gewalterfahrung sollten die Alarmglocken läuten bei Sätzen wie „Sie müssen mir vertrauen!“ oder „Das müssen Sie mir glauben!“ Muss man eben gerade nicht, sondern man tut es dann, wenn die eigene Wahrnehmung (inkl. Verstand und Intuition) Gründe und Kriterien kennt und bestätigt findet, die eine Situation als sicher und einen Menschen als vertrauenswürdig ausweisen.

Lindemann-Weyand: Bei einem Kind klingeln diese Alarmglocken meiner Ansicht nach schon sehr deutlich – jedoch kann es sich auf Grund seines Abhängigkeitsverhältnisses zu den Menschen, die ihm die Existenz sichern, dem nicht entziehen. Es erlernt, um in dieser Familien-Situation zu überleben, sich selbst und anderen etwas vorzumachen – zum Beispiel eben, dass die Menschen um es herum es in Wirklichkeit gut meinen, und es – das Kind – sich gründlich täuscht, falsch liegt und vielleicht sogar „spinnt“ – was ihm vielleicht auch noch des Öfteren von Menschen im Umfeld gesagt wird. Wenn es nun während des Aufwachsens die Realitäten permanent verdrehen muss, um zu überleben – sind es dann vermutlich nicht die Alarmglocken die nicht mehr gehört werden, sondern sie werden als Erwachsene permanent umgedeutet, Wahrheiten werden verdreht – um nicht zu merken, in welcher Situation man da eigentlich aufwachsen muss und musste. Das sich nicht öffnen können ist ja einerseits und zum Glück dem Menschen als Schutz vor weiteren Verletzungen inne.

Bracke: Ja, allerdings muss ich dem als therapeutischer „Veränderungs-Agent“ entgegenhalten: solche Schonhaltungen oder Schutzmechanismen können selbst wiederum zur Belastung werden, weil sie auch die Möglichkeit neuer und besserer Erfahrungen einschränken. Das kennen Schmerz- und Angstpatienten nur zu gut: man bewegt sich wenig, um den Schmerz zu minimieren, fördert damit aber weitere Verspannungen und Schmerzen; wer aus Angst vor Fahrstühlen nicht Fahrstuhl fährt, bestätigt sich jedes „Nicht-Mal“ wieder, wie gefährlich Fahrstühle sind und wie gut es ist, es nicht zu tun. Ähnliches gilt in der Beziehungsgestaltung: Misstrauen schützt vor erneuten Übergriffen, verhindert aber auch neue positive Erfahrungen, wenn es zu sehr verallgemeinert wird. Ein Kommentator zu Teil 1 unseres Gesprächs hat das ironisch überzeichnet: „Es gibt viele Leute, die kennen Fälle, wo Psychotherapie Schaden angerichtet hat. Am besten nie Psychotherapie machen! Es gibt viele Leute, die kennen Fälle, wo Medikamente Schaden angerichtet haben. Am besten nie Medikamente nehmen! Die meisten Menschen kennen Fälle, wo Lebensmittelskandale Schaden angerichtet haben. Am besten nie Lebensmittel essen! Und in Warstein gibt es Fälle, wo in der Atemluft Legionellen Schaden angerichtet haben. Am besten nie atmen! Damit geht man auf ´Nummer Sicher´”. Aus einigen anderen Kommentaren spricht dagegen die misstrauische Seite, die ich durchaus auch als Schutz verstehe, obwohl ich zu bedenken geben möchte, dass dieser Schutz andererseits oft wiederum verletzend wirkt.

Lindemann-Weyand: Dass ein Misstrauen, das wenig differenziert Personen trifft und diese verletzt, ist natürlich eine der schwierigen Seiten des Misstrauens. Auch darin gebe ich Ihnen Recht. Allerdings, aus eigener Erfahrung möchte ich anmerken, dass es viele Dinge gibt, die entweder erst nach langer Zeit – wieder, oder erstmals – möglich sind. Oft nicht zu dem Zeitpunkt, an dem man das ja selbst gerne hätte (man darf nicht vergessen, dass man vieles ja gerne könnte und würde, es aber oft mitunter über Jahrzehnte einfach nicht geht!), sondern erst, wenn die Zeit reif ist, und manche Wunde innerlich vernarben konnte. Und es gibt auch Dinge, die sich nicht verändern oder vielleicht nur in einem nicht wirklich tiefgreifenden Maß. Trotz vieler Bemühungen und Kämpfe und sich auf Neues einlassen wollen. Oft werden Betroffene von sich selbst, aber auch intensiv von der Umwelt aufgefordert, sich doch endlich zu verändern und sich zu öffnen, zu vertrauen. Das kommt als zusätzlicher Schmerz und Belastung oft hinzu, man wird damit den Betroffenen oft wirklich gar nicht gerecht.

Bracke: Ich beziehe mich mal auf das „von sich selbst“ (was die Umweltforderung betrifft, habe ich Ihnen schon zugestimmt). Vermutlich ist es oft diese Ambivalenz, die einen großen Teil der Schwierigkeit – sowohl in therapeutischen als auch in alltäglichen Beziehungen – ausmacht: „ich will mich öffnen und wieder Vertrauen fassen, aber ich will mich auch vor jeder möglichen neuen Verletzung schützen“.

Lindemann-Weyand: Ist es nicht auch aus Ihrer Sicht oftmals aussichtslos und kann auch Therapie nur Werkzeuge vermitteln, wie man mit der inneren nicht mehr zu heilenden Verletzung umgehen kann, statt zu vermitteln man könne das alles schon wieder „in Ordnung“ bringen.

Bracke: Es kommt eben darauf an, wie man das „in Ordnung“ definiert: man wird die eigenen Erfahrungen nicht mehr los, sie bleiben Teil der eigenen Geschichte, es wird neue Verletzungen (hoffentlich kleinerer und oberflächlicherer Art) geben. Und eine Art Ordnung ist vielleicht dann erreicht, wenn die eigene Geschichte einigermaßen erzählbar ist und einen Menschen nicht mehr wie bisher überwältigt; wenn man genug Möglichkeiten hat, sich gegen Angriffe konkret zu schützen, sie zu erkennen, sich zur Wehr zu setzen; und wenn dann die guten Beziehungs­erfahrungen im heutigen Leben überwiegen …

Lindemann-Weyand: Das klingt für mich sehr schlüssig. Ist es nicht eigentlich eine sehr konstruktiv ausgerichtete Leistung des traumatisch verletzten Gehirns, durch Alarmzeichen den Betroffenen helfen zu wollen, das was schädigt im Vorhinein als Solches auszumachen und ggf. Maßnahmen zu treffen wie: Flucht- Erstarrung- Kampf?

Bracke: Ja klar, das sind ja auch die für uns wie für alle Säugetiere angemessenen und biologisch angelegten Reaktionsweisen in Gefahrsituationen. Problematisch wird es dann, wenn es bei einer dieser Reaktionen über lange Zeit und in verschiedensten, auch ungefährlichen Situation bleibt. Ständige Flucht, ständiger Kampf oder ständige Erstarrung sind höchstens sehr beschränkte und beschränkende Überlebenstechniken.

Lindemann-Weyand: Und es sind Reaktionen, die das tägliche Leben äußerst anstrengend machen, auch körperlich! Ich finde es wichtig, dass man das Betroffenen auch verdeutlicht und diese Folge anerkannt wird. Ich musste beinahe 40 Jahre alt werden um aus der ständigen „Hab-Acht- Stellung“ immer wieder Mal rauszukommen. Vorher hatte ich das gar nicht bemerkt – weil das für mich der Normalzustand war- ständig in Hochspannung zu leben. Ich wunderte mich auch, wieso mich jeder Tag so maßlos angestrengt hat. Als ich das endlich begriff, bekam ich viel mehr Verständnis für mich. Und Verständnis für sich selbst haben, das ist glaube ich etwas, das sehr wichtig ist für einen Menschen, vor allem wenn er ständig auf das eigene und das Unverständnis anderer trifft. Was meinen Sie, wie können innerlich derart erschütterte Menschen herausfinden, ob ihnen dann in der Therapie wirklich jemand gegenübersitzt, mit dem sie mit der Zeit so etwas wie ein Mindestmaß an gerechtfertigtem Vertrauen aufbauen können?

Bracke: Am liebsten würde ich Ihnen diese Frage selbst stellen, weil Sie als jemand, die damit Erfahrungen gemacht hat, auch Fachfrau für die Antwort sind.

Lindemann-Weyand: Zuerst einmal braucht dieser Prozess des Kennenlernens – wie Sie ja es ja auch schon ausführten – sehr lange. Ich sehe es in der Rückschau auf meine Therapie­erfahrungen in der Vergangenheit so vor mir: die Beziehung mit dem/der TherapeutIn ist ein Netz das geknüpft wird, und es wird mit der Zeit tragfähiger. Allerdings kann es dazu kommen, dass man von sich aus wieder Fäden löst, oder auch abreißt, weil einem die Verbindungen zu gefährlich erscheinen. Man meint, dass man doch etwas wahrgenommen hat am Gegenüber das einen an das erinnert, was einen einst verletzt hat. Da will man ja nicht dasitzen und die Fäden in der Hand belassen und womöglich wieder überwältigt werden. Das können Sekunden sein, in denen ein ganzer Teil des Netzes zerrissen wird. Wenn man allerdings merkt, dass das Gegenüber ehrlich reagiert, mit Verständnis, dann kann das auf jeden Fall helfen und man kann wieder Fäden knüpfen und auch in einem gewissen Maß zulassen, dass die von der anderen Seite auch geknüpft werden.

Für sehr wichtig halte ich außerdem, dass man mit der Zeit lernt, zu verbalisieren, was einen erschreckt hat, oder woran man kaut und warum, denn es ist zu viel verlangt, dass der andere das ohne Worte versteht – TherapeutInnen sind ebenso wenig Übermenschen wie andere Leute. Und man selbst – denn die Ansprüche, die man an andere stellt, stellt man oft ja auch an sich – auch nicht. Sich und das eigene Verhalten reflektieren, aber ebenso das was man am Gegenüber bemerkt mit einbeziehen und deutlich zum Thema zu machen – das ist in meinen Augen sehr wichtig. Alles was ich unter den Tisch kehre – auch wenn es aus verständlicher Angst geschieht – kann sich nicht ändern, weil man sich auf diese Weise im Kreis dreht.

So gesehen ist in meinen Augen eigentlich das aller Wichtigste, dass man so ehrlich zu sich und dem Gegenüber ist, wie man nur kann. Außerdem ist die Ehrlichkeit und Echtheit, die man am Gegenüber ausmacht – und als Betroffene/r hat man dafür meist ein außergewöhnlich gutes Gespür, auch wenn man natürlich dann noch lange nicht weiss warum genau der andere unehrlich scheint und was dahinter steckt – auch äußerst wichtig um sich überhaupt auf diesen Kennenlern-Prozess einlassen zu können. Sich mit seiner misstrauischen Seite dem Gegenüber auf dennoch achtsame Art und Weise zu zeigen halte ich für eine Art Boden auf dem man gut die ersten und weitere Schritte gehen kann!

Bracke: Das finde ich sehr gut beschrieben, und es macht ein kleines bisschen deutlich, welch ein schwieriger Prozess damit verbunden ist. Aus meiner – therapeutischen – Sicht geht es neben allen konkreten, inhaltlichen Themen immer wieder um die Überprüfung der eigenen Wahrnehmung und der angesprochenen Ambivalenz: „bin ich (als PatientIn) hier gut aufgehoben und in der Lage, mich auf neue Erfahrungen einzulassen, oder erlebe ich mich gerade wieder in der bekannt-gefürchteten Situation, wo ich mich gegenüber einer anderen Person schützen muss?“ Und besonders wichtig ist dann die weitere Frage nach den Kriterien, an denen ich (also die/der PatientIn) diese immer wieder zu treffende innere Entscheidung festmachen kann. Diese Fragen sollten im Austausch mit dem/der TherapeutIn besprechbar sein, und auch deren Offenheit dafür, auf diese Weise die therapeutische Beziehung immer wieder zu reflektieren, wäre ein wichtiges Kriterium für die gemeinsame Vertrauensbasis (denn auch TherapeutInnen brauchen ein sicheres Gefühl in der Arbeitsbeziehung!). Wie sehen Sie das?

Lindemann-Weyand: Ja, ich sehe das genauso wie Sie!

Bracke: Wenn ich es mir recht überlege, sprechen wir gerade viel auf zwei Ebenen gleichzeitig: sowohl über die gemeinsame therapeutische Arbeit in der Zweiersituation als auch über den Kontakt zwischen Betroffenen und Therapeuten als Gruppen, um den es uns ja anfangs ging. Für beide passt das Bild vom Brückenbau, hier wie dort muss man berücksichtigen, dass es eine solide Steinbrücke werden soll, dass dafür aber auch die Steine erst im Steinbruch herausgebrochen, geklopft und zum Brückenstandort transportiert werden müssen. Vielleicht haben wir beide jetzt ein bisschen den Weg zwischen Steinbruch und zukünftiger Brücke gebahnt …

Lindemann-Weyand: Das ist ein schönes Bild. Lieber Herr Bracke, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

Teil 1:
Brückenbau zwischen professionellen Helfern und Betroffenen