SEXUELLE BEFREIUNG

Aus: Christ & Welt Ausgabe 36/2013

Sexuelle Befreiung, sexueller Missbrauch – hängt das zusammen? Ja, denn dem linksalternativen Milieu ging es um Macht über Kinder, sagt Norbert Denef, Sprecher eines Netzwerks von Opfern.

Christ&Welt: Sie haben bis Anfang der 1980er-Jahre in der DDR gelebt. Wann haben Sie das Schlagwort von der sexuellen Befreiung zum ersten Mal gehört?
Norbert Denef:
Das war 1966, ich war damals 17 Jahre alt…

C&W: Also genau zu der Zeit, als Sie selbst missbraucht wurden…
Denef: Ich benutze das Wort „Missbrauch“ nicht, das ist Tätersprache. Es geht nicht um Missbrauch und Gebrauch, sondern um Gewalt. Als ich zehn Jahre alt war, hat sich zum ersten Mal der Priester meiner Gemeinde an mir vergangen, dann, als ich 16 war, der Kantor. Diese Zeit war doppelt schrecklich für mich. Einerseits fühlte ich mich durch die Erlebnisse gedemütigt, andererseits wurde öffentlich darüber diskutiert, ob Kinder sich nicht freiwillig für Sex mit Erwachsenen hergeben. Ich halte das Wort von der sexuellen Befreiung für völlig daneben.

C&W: Warum?
Denef: Was wurde denn da befreit? Es war doch so, dass sich darin lange angestaute Aggressionen lösten: die Unzufriedenheit mit der Adenauer-Zeit, die Wut auf die Nazi-Väter. Die sogenannte freie Liebe war keine Befreiung, es war ein neuer Zwang. Die Frau, die nicht mit jedem ins Bett wollte, galt als verklemmt. Die Mutter, die ihre Kinder nicht von Erwachsenen anfassen lassen wollte, galt als prüde. Dabei sind Liebe und Sexualität etwas Heiliges. In diesem ganzen antiautoritären Milieu ging es nicht um Liebe zum Kind, es ging aller Antiautorität zum Trotz um Macht. Als ich 1981 aus der DDR in die Bundesrepublik ausreisen durfte, kamen wir nach Frankfurt. Wir haben dort Demonstrationen der Spontiszene erlebt und waren erschüttert von so viel Gewalt. Da wurden Polizisten in den Main geworfen. Bis heute haben sich die Grünen nicht mit ihrem Verhältnis zur Gewalt ernsthaft auseinandergesetzt.

C&W: Der katholische Pfarrer, der sich an Ihnen vergangen hat, war aber gerade nicht geprägt durch die 68er-?Revolution, sondern durch die strenge Sexualmoral seiner Kirche.
Denef:
Das kann man so nicht sagen. Es war die Konfrontation von beidem. In der DDR wurde Westfernsehen geschaut, man sah, wie viel Freizügigkeit im Westen möglich war, und man sah, was im eigenen Land eben nicht möglich war.

C&W: Mehr als 30 Jahre vergingen, bis Sie über Ihre Erlebnisse sprechen konnten. Der Einfluss pädophiler Gruppen auf die Grünen wird auch erst 30 Jahre später öffentlich diskutiert. Weshalb diese lange Zeit?
Denef: Wer sexuelle Gewalt erlebt, steckt tief in einem Kreislauf der Gewalt. Man bleibt nicht Opfer, sondern gibt die Gewalt weiter. Sei es, indem man zuschlägt, sei es, indem man der Frau oder den Kindern die eigene Depression aufbürdet. Bis man merkt, dass sich dieser Kreislauf nur durchbrechen lässt, wenn man darüber spricht, vergeht viel Zeit. Ich habe 1993 gedacht: Alles muss raus. Ich habe darüber gesprochen und noch einmal zehn Jahre später die Täter angezeigt. Aber der Preis war hoch. Ich wurde der Verleumdung bezichtigt, ein Teil meiner Familie hat mit mir gebrochen.

Nehmen wir an, schon vor 20 Jahren hätte sich ein Mann gemeldet und gesagt: Ich bin im Kinderladen sexuell missbraucht worden. Was wäre dann passiert? Wer hätte ihm geglaubt? Die Muster sind immer dieselben, ganz gleich, ob der Täter der Kirche angehört oder dem Grünen-Milieu. Die Opfer sollen schweigen, sie stören nur. Da hat sich trotz der großen öffentlichen Diskussion seit 2010 nichts verändert. Das Einzige, was substanziell etwas verändern würde, wäre eine Aufhebung der Verjährungsfristen für Täter, aber dafür gibt es keine Mehrheit.

C&W: Die Passage aus dem Buch von Daniel Cohn-Bendit war lange bekannt. Skandalisiert wird sie erst jetzt. Haben Sie eine Erklärung dafür? Ist es, weil die Grünen, anders als die Kirche, per se als die Guten gelten?
Denef: Viele Journalisten stehen den Grünen nahe, das ist sicherlich ein Grund. Aber ich glaube, die Ursachen liegen tiefer. Auch der Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen und in der Odenwaldschule war lange bekannt. Über die Odenwaldschule zum Beispiel ist 1999 ein Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ erschienen, passiert ist danach nichts. Die sexuelle Gewalt wurde im reformpädagogischen Milieu schöngeredet. Knabenliebe, pädagogischer Eros und so weiter. Dabei müsste man nur Platon lesen, der war der beste Kinderschützer überhaupt. In seinem Werk „Das Gastmahl oder Von der Liebe“ schreibt er: „Es müsste ein Verbot geben, Kinder zu lieben, damit nicht auf etwas Ungewisses hin so viel Eifer verschwendet würde. Denn bei Kindern ist es noch ungewiss, wie sie am Ende sich entwickeln, ob zum Schlechten oder zum Guten der Seele und des Leibes. Die Guten nun geben sich selbst freiwillig dieses Gesetz; man sollte aber auch die Liebenden der gemeinen Art dazu zwingen.“ Kinderschutzgesetze, wie sie Platon gefordert hat, gibt es bei uns noch nicht, stattdessen haben wir Gesetze, die Täter schützen.

C&W: Aber das, was Teile der Grünen in den 1980er-Jahren zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts gefordert haben, war und ist doch nicht die Meinung einer Mehrheit der Deutschen. Die meisten Menschen halten Sex mit Kindern für ein Verbrechen…
Denef: Trotzdem haben nur wenige öffentlich gegen die Papiere der Päderasten Stellung bezogen. Es war vor allem die Frauenbewegung, und die sind in die Emanzen-Ecke gestellt worden. Eine Mehrheit der Deutschen ist sicherlich nicht dafür, dass Erwachsene sich ungestraft an Kindern vergehen können; aber der Druck aus der Bevölkerung ist auch nicht so groß, dass im Bundestag eine Mehrheit für eine Aufhebung der Verjährungsfristen zustande kommt. Ich habe beim Bundesparteitag der SPD gesprochen. Hinterher waren alle sehr betroffen, Hannelore Kraft und Manuela Schwesig haben mich unter Tränen umarmt. Hätte der Saal abgestimmt, es hätte eine Mehrheit für die Aufhebung der Verjährungsfristen gegeben. Aber niemand hat sich getraut, aufzustehen und zu sagen: Ich wurde auch sexuell missbraucht, ich habe auch als Kind Gewalt erlebt. Das macht man nicht als Politiker oder als Vorstandsmitglied eines Unternehmens. Dann gilt man nämlich als beschädigt und unfähig, eine Entscheiderposition zu übernehmen. Opfer ist auf Schulhöfen immer noch ein Schimpfwort. Solange das so ist, werden Opfer abgespeist mit einer kleinen Entschädigung. Aber in Wirklichkeit will keiner etwas mit ihnen zu tun haben.

C&W: Helfen öffentliche Diskussionen den Opfern?
Denef:
Aber sicher. Ich habe früher gedacht: Ich bin ganz allein in meinem Elend. Nur mir ist so etwas passiert. Durch das Internet habe ich gemerkt: Ganz vielen geht es genauso. Und: Ohne Öffentlichkeit hätte die Kirche das Thema ausgesessen, die Grünen haben sich auch nicht aus eigenem Antrieb mit ihrer Vergangenheit beschäftigt.

C&W: Sind die Grünen für Sie noch wählbar?
Denef: Ich gehe nicht wählen. Ich war lange ein Anhänger der Grünen. Ich würde auch jetzt nicht behaupten, dass alle Grünen Apologeten von Kinderschändern sind. Aber ich erwarte vom reformbereiten Teil der Grünen eine Unterstützung für die Opfer von sexueller Gewalt. Diese Bereitschaft sehe ich noch nicht.    

C&W: Sie wollen eine Stiftung gründen und eine Art „Nobelpreis
der Versöhnung“ verleihen. Wer hätte ihn als Erster verdient?
Denef: Platon.

C&W: Und von den Lebenden?
Denef: Da fällt mir gerade niemand ein.

C&W: Als der Missbrauchsskandal in der Kirche bekannt wurde, hieß es:
Daran ist die verklemmte Sexualmoral schuld, bei den Grünen heißt es jetzt: Die sexuelle Revolution ist schuld. Kann man überhaupt so allgemeine Aussagen machen? Sexuelle Gewalt findet doch auch ohne Institution und ohne ideologische Rechtfertigung statt.
Denef: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir fragen immer zuerst: Wer hat Schuld? Es gibt natürlich die besseren Schlagzeilen, wenn Sie dafür den Zölibat oder die Kommune 1 verantwortlich machen können. Die ganzen Missbrauchsfälle in der Familie werden aber damit gar nicht erfasst. Die entscheidende Frage ist: Wie viel Gewalt ist in mir und wo kommt sie her? Wie viel Elend ist in mir und was tue ich, um es nicht merken zu müssen? Alice Miller hat ein tolles Buch darüber geschrieben: „Du sollst nicht merken“. Wir werden dazu erzogen, nichts zu merken, besonders die Männer. Wir fühlen unser eigenes Leid nicht. Als ich von der katholischen Kirche 450?000 Euro Entschädigung gefordert habe, da kam vom Bistum sinngemäß die Frage zurück: „Worin besteht denn Ihr Schaden? Sie haben doch Frau und Kinder, ist doch alles okay.“ Zuerst dachte ich: Die haben ja recht. Ich hätte fast mit der Sache abgeschlossen. Aber dann habe ich gelernt, mir meiner Beschädigungen gewahr zu werden. Seitdem kämpfe ich, gebe oft Interviews, trete im Fernsehen auf. Ich bin fast so etwas wie ein Vorzeigeopfer.

C&W: Brauchen Sie Publikum?
Denef: Ich habe früher am Theater gearbeitet, ich weiß, dass Publikum süchtig machen kann. Jeder ist in Gefahr, und erst recht jemand, der in der Kindheit geschädigt wurde. Ich prüfe mich jeden Tag. Und ich habe ein Umfeld, das mich erdet. Die Arbeit am Charakter nimmt nie ab, sagte Goethe.

C&W: Sind Sie ein selbstbewusster Mensch?
Denef: Als selbstbewusst würde ich mich nicht bezeichnen. Ich habe lernen müssen, zu genießen, Kraft zu tanken. Es gibt immer mal wieder Selbstmordgedanken, aber ich weiß damit zu leben.

Norbert Denef, 1949 in Delitzsch geboren, ist Vorsitzender des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt (netzwerkB). Denef selbst wurde als Jugendlicher von einem Priester und einem Kirchenmusiker missbraucht. Das Bistum Magdeburg zahlte ihm 2005 nach langem Kampf eine Entschädigung von 25000 Euro. Denef ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

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