von Norman Schultz

Vielen Betroffenen ist dieser Umstand bekannt. In den Traumakliniken oder sonstigen Kliniken schnürt die Belegschaft schnell ein enges Regelkorsett, dass die Belange der Betroffen strukturieren soll. Jeder soll sich gleich seiner individuellen Besonderheiten den allgemeinen Regeln beugen. Schließlich könne eine geordnete Therapie nur erfolgen, wenn wir alle den Anweisungen des Personals folgen. Es gibt eben nur eine Medizin für alle.

Der angemaßte Therapieerfolg verkommt hier zur autoritären Geste. Wir wissen alle: Das Personal stellt den Betroffenen in erster Linie ruhig, um ihren Job machen zu können und vor allem keine Zwischenfälle zu haben. Institutionen sind so in erster Linie darauf ausgerichtet allen erdenklichen Zwischenfällen vorzubeugen und nicht in erster Linie zu therapieren. Mehrfachtraumatisierte Betroffene wissen daher auch: Der Therapieerfolg ist zumeist gering. Die vielen Kunsttherapien und Gespräche sind nur wenige Tropfen, stattdessen bräuchte es schlicht Verständnis und Zeit, um heilen zu dürfen. Da aber Institutionen unter Rechtfertigungsdruck stehen, geht es bei vielen Institutionen unserer Gesellschaft vor allem darum, einen versteckten Lehrplan durchsetzen, der zumeist dem Heer der beschäftigten selbst nicht bewusst ist (Ein anderes Beispiel des verdeckten Lehrplans im Hinblick auf die Schule, wurde bei „Bewusstes Lernen“ dargestellt: http://www.bewusstes-lernen.de). In diesem versteckten Lehrplan geht es um die Sicherung der Institution selbst, die sich durch die Einhaltung von Regeln erhält.

Kein Geld für individuelle Lösungen

Trotz der erwähnten, geringen Chance auf Erfolge aber können Therapien schlecht oder gut gemacht werden und so ist es eine Farce, dass, wo Therapieplätze teilweise 5000 Euro pro Person kosten, das Personal für individuellere Lösung angeblich nicht zur Verfügung steht. Stattdessen verstehen es die Institutionen das Individuum in ein festgelegtes Gefüge einzubinden, das kaum noch Raum für Individualität lässt. Der angebliche Praktiker lobt hier die bessere Handhabarkeit der „Individuen“ durch genaue Regeln, sieht allerdings nicht, dass er das Individuum dort, wo es nicht passt, eben gerade mit seiner Regel, wie eine theoretische Menge behandelt. Ich will es so sagen: Der Klient wird zum Objekt. In allen Institutionen, Krankenhäusern, Traumakliniken, Schulen werden wir hier in die Regelkreise geleitet und müssen folgen, wie Objekte, die an der Regelverfassung selbst aber keinen Anteil haben. Selbst müssen wir uns unter den gestellten Diagnosen von vielleicht auch krankhaften Heilern pathologisieren lassen.

Geltende Regeln in Demokratien, die keine Gültigkeit haben

Ach, ich kann es nur einfügen, weil es mir so am Herzen liegt: In einer Demokratie sind gerade unsere Institutionen nicht demokratisch, sondern autoritär. Menschen, die sich helfen lassen wollen, bleibt wenig übrig als der „überirdischen“ Kompetenz der Betreuer zu folgen. Diese haben oft tatsächlich jahrzehntelanges Wissen über Problemfälle, vor allem wie diese Problemfälle mit geschickter Gesprächsführung ruhig gestellt werden. Diese Verfechter der Antidemokratie in unserer Demokratie berufen sich auf geltende Regeln. Wir sollen ihren geltenden Regeln, die sich in einer autoritären Praxis schließlich bewährt haben folgen, wissen dabei aber nicht, dass nur die Gültigkeit von Regeln Gerechtigkeit verschafft.

Gültigkeit haben Regeln nur, wenn sie im Diskurs durch die Betroffenen geprüft werden können. Wir von netzwerkB hatten diese Argumente bereits in den Thesenpapieren zur Aufhebung der Verjährungsfristen ausgeführt: Die Unterscheidung von Geltung und Gültigkeit ist basal. Nur weil Regeln gelten, sind sie noch lange nicht gerecht und gültig. Ganz im Gegenteil: Sie müssen von den Diskursteilnehmern als gültig bestimmt werden.

Problemstellung

Nun nach dieser zähen theoretischen Einleitung, kommen wir zum konkreten Fall, den ich doch nur allgemein umreißen möchte. Das enge Korsett des betreuten Wohnens in einer Stätte der Diakonie schnürrt die Beziehung eines jungen Paares ein, wenn diese Beziehung überhaupt noch existiert. Der Kontakt, war nach langen Phasen des Auf und Abs aufgrund der Entfernung beschränkt. Doch nun sollte er doch wieder intensiviert werden. Dank der Regelinstitution aber wird dieser auf wenige Stunden wochentags beschränkt. Die vielen Telefonate und E-mails stellten den Kontakt zuvor auf eine harte Probe und sie ersetzten nicht den wirklichen Kontakt der Familie.

Vielleicht können hier einige unter den Betroffenen nachvollziehen, dass in einer Beziehung bei Betroffenen ein erhöhter Bedarf an Sprache besteht. Dort müssen Themen und Ängste geklärt werden, Verhaltensweisen verhandelt sein, Regeln des sozialen Umgangs bestimmt und ständig neu bestimmt werden. Doch hier funktioniert es nicht, denn es handelt sich nicht um „betreutes Wohnen“, sondern um „kontrolliertes Wohnen“.

Die Frau selbst ist nach eigener Aussage beziehungsunfähig. Diese Frage bedarf der komplizierteren Kommunikation. Vielleicht darf ich noch so vieles sagen: Ihr einziger, verbliebener, sozialer Kontakt hat Besuchszeiten von 14 – 18 Uhr in der Woche. Die sozialen Umstände interessieren den Leiter der diakonischen Stätte, wo sie nun zum betreuten Wohnen untergebracht ist, wenig. Es gehe schließlich nur um das Wohl ihres Kindes, so als gehöre dazu nicht ein Sozialleben der Mutter, eine Beziehung. Aus dem selben abstrusen Grunde, können nun die Regeln nach Aussage des Leiters nicht angepasst werden.

Der Leiter der Institution zeigt dabei sein Mitgefühl, doch die Regeln selbst MÜSSEN eingehalten werden. Traditionell bestehen diese in Riten und gelten „eben“. Die Gültigkeit wies er somit nur durch die Geltung aus. Er könne hingegen nachvollziehen, dass Kontakt auf zwischenmenschlicher Ebene, nach langer Zeit der Abwesenheit notwendig ist, aber SEINE Regeln gemäß der Umstände ändern, kann er PRINZIPIELL nicht. Ach, es ist ungemein schwierig, diesen Umstand hier zu umreißen, doch vielleicht ist es nicht wichtig, den individuellen Fall hier aufzurollen, sondern exemplarisch das allgemeine Problem in den Blick zu nehmen, denn in Deutschland läuft womöglich unser grundlegendes Verständnis von Regeln schief. Früher da war die Gewalt der Institutionen noch offensichtlich: In Zwangsjacken wurden geschädigte abgeführt und traumatisiert, heute ist die Zwangsjacke der Institutionen schwerer zu durchschauen.

Wie sich Institutionen ihre Regeln genehmigen

Institution genehmigen sich Regeln um endlose Diskurs auszusetzen und einen schnellen Alltag zu ermöglichen. Nun ist es schon lange in der Theorie bekannt, dass diese theoretische Herangehensweise Ungerechtigkeiten im praktischen Bereich produziert, denn der einzelne Betroffene, für den die Regel nicht zutreffen kann, leidet an der Regel. Betroffene sexualisierter Gewalt erfahren diese Gewalt in den Institutionen, die sich doch ihrer Heilung angeblich verschrieben haben. Der Betroffene wird pathologisiert und hinsichtlich seiner abnormalen Umstände klassifiziert, dann verwaltet. Die Institution vermittelt sogleich ihre Regeln, um die geordnete Heilung der doch ungeordneten Seele einzuleiten. Doch viele Betroffene bezeugen hier das generelle Problem der Universalisierung: Keine Diagnose trifft den individuell Betroffenen. Immer steht etwas über, immer trifft etwas nicht zu, immer entdeckt sich der Betroffene nicht im theoretischen Geschrobel des Klinikpersonals. Gerade hier ist der deprofessionalisierte Kontakt wichtig, ein zwischenmenschlicher Bereich, wo es um den ganzen Menschen geht und wohin die theoretischen Konzepte der Betreuer nicht hinreichen können, doch hinsichtlich der professionalisierten Institutionen soll es diesen Bereich nicht geben. Stattdessen gerät hier das Lob der Regel zum Dogma. Unter dieser Regel soll der Betroffe starr zum braven Regelsoldaten erzogen werden.

In Münster ergeben sich dann abstruse Situationen: Gerade haben die erwachsene Mutter und die erwachsene Tochter noch bei sich in der „betreuten“ Wohnung gekocht, schon lugt der Aufseher rein und mahnt, dass an einem Samstag die Besuchszeit bis 20 Uhr nicht überschritten werden darf. Die Mutter muss die Wohnung verlassen? Geht es hier etwa um das Wohl des Kindes oder beschneidet man hier schlicht soziale Kontakte?

Regeln als Machtmittel

Die Revolte gegen die Regeln zieht eine Verschärfung der Regeln nach sich, so dass letztlich die Regeln wie Beugehaft fungieren. Jegliche Argumentation mit Gründen gegen den Unsinn bestimmter Regeln bleiben auf der Strecke. Das Personal stellt sich schlicht taub und trifft die Entscheidung. „Wir können ja gehen.“ Das heißt: Die Regeln sind starr und ihre Individuen müssen das Fluide werden, ein strapazierfähiges Ich-Gewebe zu Gunsten einer angeblich eindeutigen Heilung.

Doch welche Regeln haben Geltung? Für uns von netzwerkB war dabei seit jeher klar: Wenn wir die Regeln, die wir uns auferlegen, nicht entwirren können, dann werden wir niemals in die tieferen Gründe hineinfragen, die das Leid unserer Gesellschaft bestimmen; dann werden wir niemals verstehen, warum sich die sexualisierte Gewalt über Generationen und Jahrhunderte weitergab. Wir brauchen daher weniger Dogmen, die uns in Form von Regeln daher kommen, sondern wir müssen immer wieder die Gründe aufrollen und gesellschaftliche Konsequenzen ziehen. Bei den meisten Instituionen allerdings läuft das schief und die Regel wird zu erneuten Gewalt.

Regeln und ihre Beziehung zu Gründen

Ein kleiner, weiterer theoretischer Exkurs muss an dieser Stelle sein: Die Gründe für die transgenerationale Gewalt können nur anhand von Regeln dargestellt werden. Gründe sind genau genommen, das Aufdecken von Regeln. Eine Regel aber, die unser Verhalten normativ bestimmen soll, kommt nicht aus dem luftleeren Raum, sondern muss begründet sein. Diese Begründung ist selbst wieder eine Regel. Dieser Akt von tieferer Erkenntnis hat kein Ende, Regel, Begrüdung, Regel, Begründung, Regel… Dieses jedoch bringt ständig bessere Regeln hervor, die unser Miteinander friedlicher machen können. Das heißt: Wir müssen das „Warum?“ des Kindes fördern und zulassen. Dieses „Warum“ hinterfragt immer wieder den Sinn unserer Regeln und lässt uns falsches erkennen. Jede Begründung ist dabei vorläufig und trifft niemals ganz ihr Ziel, sondern „Begründung“ ist ein anhaltender Prozess von gesellschaftlicher Neubestimmung. „Begründung“ ist die gesellschaftliche Regelfindung. Gerade hierzu müssen sich Institutionen, die das Soziale fördern sollen, herablassen: Wir meinen wahre Dialoge mit Betroffenen.

Den Prozess der Begründung mag die diakonische Hilfe, die im vorliegenden Fall geboten wird, jedoch nicht. Es geht neben den anvisierten Therapieerfolgen eben auch um den Erhalt von Machtstrukturen. Im gesonderten Fall werden gar die Sozialkontakte durch die strengen Besuchsregeln auf das Klinikumfeld zusammengeschnitten. Wie sollten junge Mütter, noch Kontakt nach Außen herstellen, wenn jeder Besuch nach 18 Uhr unterbunden wird?

Regeln und Kindererziehung

Vielleicht verstehen hier einige, was ich sage, aber ich möchte es noch einmal an einem unserer zentralen Themen bei netzwerkB demonstrieren: Das Fundamentale in der Erziehung ist nicht die Regel, sondern die Begründung. Auch diesen Satz verstehen wohl nur wenige in der diakonischen Einrichtung in Münster. Doch wir behaupten hieran müssen wir arbeiten. Diese Form der Erziehung ermöglicht uns später, eine Gesellschaft, die in die Gründe unseres gesellschaftlichen Elends hineinfragt. Nur wenn wir mit unseren Kindern gemeinsam nach den Maßstäben der Vernunft Regeln erarbeiten, nur dann wird sich diese Gesellschaft so verändern, dass unsere Kinder keine Regeln mehr blind akzeptieren, sondern Regeln gerecht gestalten wollen. Nur Kinder, die stetig „Warum?“ fragen dürfen, wobei wir das Warum ernst nehmen und bei denen wir nicht auf  Konsequenz beharren, werden verstehen, dass es nicht um Konsequenz und feste Regeln geht. Es geht um ein flüssiges, soziales Miteinander, nach dem sich die Regeln erst bestimmen. Es geht um eine Gesellschaft, die sich Freiräume schaffen darf, in denen Menschen mit verschiedenen Interessen leben und verschiedenen Lebensplänen. Es geht um die Grundlage für all unser praktisches Handeln, die Idee des Guten oder im Namen unserer Gesellschaft um die Frage der Gerechtigkeit.

Nur wenn wir gegenüber unseren Kindern hinsichtlich der Regeln auch nachgiebig sind, wenn wir so zum Beispiel erkennen, dass wir uns selbst in unser eigenes Regelkorsett versteinert haben, wenn wir dann umkehren, mit ihnen neue, angemessene Regeln finden, nur dann lehren wir die nachhaltige Möglichkeit zur Freiheit. Was ist diese Freiheit? Eine Verwahrlosung? Nein, diese Freiheit besteht aus der Vernunft einem gesetzgebendesn Verfahren folgen zu wollen, gemeinsam in einer Gesellschaft. Diese Freiheit besteht in der demokratischen Fähigkeit, Regeln zu bewerten, sie auszusetzen, wenn sie keine Gültigkeit haben und konstant nach Regeln zu suchen, die das Höchstmaß an individueller Freiheit erlauben. Kinder lernen diese Freiheit, welche als Diskurs zwischen Partnern (Eltern und Kindern) die Grundlage jeglicher Regel bildet.

Wie sollen wir die Institutionen bewerten, die ihre Regeln als Beugehaft einsetzen und sich hinter dem Deckmantel der Konsequenz verstecken?

Vielleicht dämmert es hier allen Regelfanatikern, das ihre angebliche Praxis die Einschnürrung in die Theorie ist, an der die Betroffenen leiden. Die Institutionen geben Regeln, die nur theoretisch sind, weil sie in der Praxis irgendwann ihre Tauglichkeit verlieren. Aus diesem Grund können wir von netzwerkB der Diakonie in Münster, wie womöglich viele Betroffene in ihren Traumakliniken, ein hohes Maß an Inkompetenz bescheinigen.

Kommen wir zurück zu dem besprochenen Fall: Bei diesen Regelerfindern kommt eine Frau, die zerbrochen an der sexualisierten Gewalt, die ihr widerfahren ist, auf den Prüfstand. Das Kindeswohl ihres Kindes steht gewiss im Vordergrund und daran besteht kein Zweifel. Doch diese Frau hat ihr Kind noch niemals angeschrien. Im Gegenzug verfolgt sie ein Höchstmaß an Begründung für ihr Kind. Keine Regel, die bei ihr nicht diskutiert werden darf und keine konventionelle Regel, die im Individualfall nicht neu bestimmt werden dürfte. Ist dieses Kind regellos, weil es sich an den Regeln beteiligt? Für diese Frage haben viele schon eine Antwort. Wir aber behaupten: Das Kind entwickelt sich vielleicht frei von elterlicher Gewalt und wird dort nicht gewalttätig. Doch hier versagt der angebliche Praktiker in der diakonischen Stätte, der lieber seine Objekte theoretisiert und sie als Einheitsobjekte strengen Regeln unterwirft. Der Leiter dieser diakonischen Stätte in Münster hat viel Verständnis, doch auf Diskurse zu SEINEN Regeln lässt er sich nicht ein.

Natürlich machen Eltern Dinge falsch, so wie wir alle Fehler machen. Doch wir sind auch bereit nach den Kriterien der Vernunft unsere Fehler zu diskutieren, wenn wir denn verstehen, dass unsere Regeln in Gültigkeitsverfahren bestätigt werden müssen. Diese Frau hat sich nun entschieden in diese Institution zu gehen, weil sie Angst hat, dass sie das Höchstmaß an Energie, die wir überhaupt für unsere Kinder und für eben diese Diskurse aufwenden müssen, vielleicht nicht mehr geben kann. Bisher konnte sie es. Doch sie will Hilfe und wird in erster Linie sozial beschnitten.

Hier beginnen für viele Betroffene die neuen Ungerechtigkeiten und so auch bei ihr: Die andere Seite, das Heer an Sozialpädagogen, das sich um den Platz von 10.000 Euro versammelt, ist nicht bereit ihre Regeln mit ihr zu bestimmen, sondern stülpt ein Korsett über.

Auch müssen wir fragen: Gerade wo es nicht um „universale“ Regeln geht, sondern um „konventionelle“ wie etwa das Besuchsrecht oder das Ausgangsrecht, sollte da nicht Platz für die Differenz sein? Ist es nicht das, was Foucault zu Recht an uns Preußen kritisierte? Der an den Regeln gezähmte Gleichmacher ist deutsch. Bei einem Platz aber der 10.000 Euro kostet, bleibt die Besuchszeit ungeachtet aller Umstände von 14 Uhr bis 18 Uhr beschränkt. Zeit, in der ein Kind Aufmerksamkeit verlangt und das sensible Gespräch mit dem anderen nicht möglich ist. Der Austausch von Gefühlen, die ambivalent über die Spielhorizonte des Kindes hinausgehen, ist nicht möglich, weil das Kind an erster Stelle kommt. Übersieht die Leitung daher die Bedeutung einer elterlichen Beziehung und reduziert diese Leitung alles auf die geregelten Bahnen eines oberflächlichen Primärkontakts? Ja, das tut sie.

Eine Gruppe von Sozialarbeitern, die die Regel selbst zum Kernbestand jeglicher Gesundung erhebt, kann hierbei nicht sehen, dass diese Frau aus einer intuitiven, gewaltlosen Beziehung zu ihrem Kind ihnen bereits überlegen ist. Sie will Hilfe, doch stattdessen beschneiden sie ihre Sozialkontakte. Ihr geht es nicht darum ein Kind zu verziehen, ihm zu schaden. Sie tut alles für ihr Kind, mehr noch als der Regelfetischismuss von ihr verlangt. Wenn dann aber ein Kind im Mittagsschlaf versunken ist und abends nicht mehr müde sein kann, dann kommen die Sozialarbeiter und zählen eins und eins zusammen. Sie machen ein Kreuz für auffälliges Verhalten und fragen nicht. Sie ist schnell als eine schlechte Mutter bestimmt, auch weil sie ihre Vergangenheit kennen. Sie ist schließlich krank. Die Sozialarbeiter pathologisieren die unwesentlichen Bestandteile, denn dort wo Menschen doch für nichts anderes als pathologisches Regeln ausgebildet sind, dort wird das Unwesentliche zum Wesentlichen und das Wesentliche zum Unwesentlichen.

Das Wesentliche: Die Institution will nicht sehen, dass Menschen unter bestimmten Umständen Zeit brauchen, um zugleich an einer komplizierten Beziehung zu arbeiten, einer komplizierten Familie, die nicht in die Regelwerke der Praktiker passt. Sie sehen es nicht.

Die Mitarbeiter dieser Einrichtung in Münster aber glauben wohl tatsächlich, dass die bloße Einhaltung der Regel der Grundbestand von sozialer Arbeit wäre. Es zeigt den Missstand in der Diakonie Münster wie womöglich auch in den vielen Traumakliniken und Institutionen in Deutschland. Individuelle Vermittlung, die Kernkompetenz jedes guten Arztes, gibt es sehr selten.

Wo sollte bei der jungen Frau im kontrollierten Wohnen das Problem sein, wenn abends NACHDEM DAS KIND IM BETT IST, noch wichtige Worte gewechselt werden würden?  Wo sollte auch das Problem sein, wenn andere mit dem Kind am Abendessen partizipieren? Wenn diese Frau es doch will?

Ach und können wir es vielleicht gar generalisieren: An der letzten Klinik sind schon viele Pläne ins Wasser gefallen. Diese Frau wollte verreisen, Sozialkontakte stärken, Sozialkontakte in einer Gesellschaft, die immer mehr Mobilität abverlangt und die Kontakte in die Welt zerstreut, doch ein Aussetzen der Regeltherapie war nicht möglich. Diese Freiheiten gefährdeten angeblich die Therapie. Aber vielleicht war es nur die Rechtfertigbarkeit der Therapie vor den Finanzkräften?

Von den Regelwänden

Doch die Regelfanatiker in Münster erheben eine Tradition der Regeln zum Kernbestand unserer Gesellschaft. Wir sehen hier, dass an den Schalthebeln eben jene Regelsoldaten sitzen, die sich dann hinter ihren Regelwänden verstecken, auf die alle Betroffenen auflaufen müssen. Sie sind Entscheider, so wie es einst unsere Eltern für uns waren, die unhinterfragbar uns als Objekte ihrer Regelleidenschaft sahen. In Münster haben sie sich mit ihren Regelwerken angefreundet, um ihren Job zu praktizieren. Wir, die Betroffenen, wir in diesen Institutionen, und vor allem die, die früh die maßlosen Regeln der Erwachsenen erdulden mussten, werden hier ein weiteres mal mit der blinden Gewalt einer autoritären Geste übermannt. Für uns gibt es kein Weiterkommen, selbst und vor allem wenn wir Gründe haben, spüren wir unsere verbleibende Ohnmacht.

Aufhebung der Verjährungsfristen und Regeln

Und ist es nicht auch so bei unserem nunmehr jahrewährenden Kampf für das Recht gegen die Peiniger zu klagen? Wie viele haben zum Beispiel Grund zur Klage gegen ihre Täter, doch werden aufgrund von angeblich regulatorischen Verjährungsfristen daran gehindert? Es ist die gleiche Mauer der Regelglaubenden gegen die wir anlaufen. Der Regelsoldat kämpft gegen uns auf allen Ebenen.

netzwerkB im Bundestag

Als sich netzwerkB mit Lischkas, Ruprecht und Lamprecht zum Gespräch zur Aufhebung der Verjährungsfristen im Bundestag einfand, trafen wir auf die gleiche Ignoranz gegenüber dem Diskurs, wie wir sie nun in Münster sehen. Es war von vornherein geklärt, dass das folgende Gespräch nur eine Klärung der Aktenlage zum Gegenstand hatte. Die Ohnmacht der Betroffenen mit ihrem letzten, verbliebenen Werkzeug der Vernunft, war auch dort bereits ausgemacht. Nach den rechtlichen Regeln bereits von der Gesellschaft verraten, sollte sich auch dort die Ohnmacht vor dem Regelwerk nochmals bestätigen. Zwar hatte die Bundesdeligiertenkonferenz der SPD Norbert Denefs Antrag, die Verjährungsfristen aufzuheben, einstimmig angnommen. Gerade die direkte, wirkliche Perspektive seines Vortrages überzeugte jeden von dem Unrecht der Verjährungsfristen. Tatsächlich das Mitgefühl war bei den Vertretern der Parteien gegeben, doch bei allen Gründen der Vernunft zogen Lischkas, Lamprecht und Ruprecht eine Regelwand auf, gemäß der sie stock und steif behaupteten, dass die doch nachvollziehbaren Gründe für eine Aufhebung nicht ausschlaggebend sind. Mehr als peinliches Mitleid hatten sie für die Betroffenen nicht. Sie behaupteten stattdessen, in unserem Land gäbe es Regeln, die wir nach welchen Gründen auch immer schlichtweg befolgen müssten. Die preußische Attitüde das Regelkorsett zu loben, anstatt es im Zweifel verändern zu wollen, beherrschte das Gespräch. Es war ein Gespräch, weil sich zeigte, dass ein Diskurs zur Aufhebung der Verjährungsfristen bereits beendet war, bevor er begann. Die letzte Stimme, die die Betroffenen erhoben, ihr Verweis auf die Vernunft verblieb stumm angesichts geltender Regeln, die doch aber nach Gründen keine Gültigkeit hatten.

Die Kirche und die Autorität ihrer Regeln

Und hier steht nun diese Frau vor den Masken einer verqueren Regelmoral. Ihre freundlichen Blicke bringen Verständnis auf. Ja, sie haben viel Verständnis. Wir alle haben schon diese Gesprächstrategie erfahren. Sie sagen, dass sie uns verstehen, aber das andere seien nunmal die Regeln. 10.000 Euro für einen Mutter-Kind-Platz im Monat und bei der basalen Kompetenz, den Individualfall zu prüfen, versagt die Institution.

Konventionelle Regeln

Der Leiter der kirchlichen Stätte bescheinigte ihr stattdessen, wie wichtig zum Beispiel die geregelte Konvention der Essensaufnahme wäre, so wie überhaupt der Ritus das Hauptaugenmerk einer gesunden Beziehung wäre. Ist dies in der Diakonie der Ritus, den eine Kirche über die Jahrtausende so lieb gewann? Seien wir ehrlich, ist es nicht jener Ritus, der der Kirche so lange Autorität verlieh? Die Kirche regierte mit diesen Riten und gerade sie wollen die Traditionen beibehalten, weil sie nicht nur ihr humanistisches Gut darstellen, sondern weil sie zumeist ihr Machtmittel sind. Seien wir ehrlich: ist die Frage der Essensaufnahme vielleicht nicht universell gültig, sondern nur eine deutsche Konvention? Könnte es andere Gesellschaften geben, wo nicht um punkt 12 gegessen werden muss und deren Gesellschaft nicht zerfällt? Egal wir behaupten unsere Regeln gerne, ohne Begründung, weil sie auch Macht sind. Nein, die Idee des Ritus ist nicht nur ein Machtmittel der Kirche, sondern der Institutionen im Allgmeinen.

Doch sollte ich nun nicht auch fragen: Haben wir aus vielleicht derselben Macht der Gewohnheit unsere Kinder so lange geschlagen? Ist es vielleicht die Macht der Regeln, die wir auch nun in Münster lernen, die uns später unseren Kindern die sinnlosestes Vorschriften ohne Wenn und Aber machen lässt?

Vernunft und Macht

Wenn wir von netzwerkB auf die Machtzentren treffen, sind unsere Argumente zumeist bedeutungslos. Wir seien doch die Opfer, die sich wegducken sollen. Wie nun in der diakonischen Stätte in Münster sind wir alle betroffen von der theoretischen Ohnmacht vor den angeblichen Praktikern. Diese Ohnmacht charakterisiert Betroffene von Gewalt: Unsere einzig verbliebene Stimme, diese Stimme nach all den Jahren der Gewalt, die Stimme der Vernunft, diese Stimme, sie hört niemand, sondern wir werden nur wieder mit Gewalt therapiert. Mit dieser Stimme sagen wir dennoch, dass wir uns nicht beugen, denn das, was uns widerfuhr hielten nur andere für richtig, aber es war nicht richtig. Uns widerfuhr ein fremder Regelhaufen, ohne Vernunft, nur als Macht. Dieses Werk der Macht aber hat in unserer Gesellschaft viele Strukturen und die Institutionen führen sie fort. Viele Betroffenen haben diese Gewalt bereits erfahren.


Jetzt netzwerkB noch stärker machen …