Von der Gewalt, der Blind- und Taubheit der Erwachsenen

von Beate Lindemann-Weyand

Für Überlebende sexualisierter, aber auch nicht sexualisierter Gewalt, existieren zahlreiche und sehr unterschiedliche Gründe für ein Schweigen. Ein Schweigen das manchmal bis zum Tod gelebt wird.

Manchmal trifft der Tod früh ein, dann kann oft nicht mehr nachvollzogen werden, warum der mitunter auch junge Mensch den Suizid seinem Leben vorgezogen hat. Vielleicht hat er einen Abschiedsbrief, ein Tagebuch hinterlassen? Oder sogar Worte, Worte, die vielleicht auch schon während der Kindheit fielen, aber nie ankamen, weil sie  von den Umstehenden einfach fallen gelassen wurden. Sie wollten, sollten, konnten nicht verstehen?

Sind es vielleicht die Erwachsenen, die keine Ohren haben um zu hören, keine Augen um zu sehen? Sind es wirklich die Kinder, die nichts sagen? Sind es die Kinder, die lernen müssen? Oder sind es die Erwachsenen, die sich nicht eingestehen können oder wollen, dass sie blind und taub sind?

Das kleine Kind hatte vielleicht gesagt, dass der grosse Bruder „komisch“ sei,  es schrie vielleicht dass es nie mehr mit dem Nachbarn alleine schwimmen gehen wollte, oder dass es nicht gerne zur Tante ginge, weil die sie immer so festhalten würde. Daraufhin fielen vielleicht die Antworten Erwachsener auf die zarten Worte des Kindes „ die meinen das nicht so. Die sind doch nett… was Du immer hast… Du bist einfach schwierig..…“ und Ähnliches.

Oder das Kind spielte mit seinen Puppen das nach, was es erfahren musste: es presste die Unterleiber aneinander, entblösste seinen eigenen Unterleib. „Was machst Du denn da?“ Die Blicke der Mutter griffen peinlich berührt um sich, drückten den Rock des Mädchens panisch hinunter. „Du spinnst wohl.“ Vielleicht folgte eine Ohrfeige ob des ungebührlichen Verhaltens.

Gebilde, vielleicht Himmelskörper, wurden von dem Jungen aufs Papier gebracht, die merkwürdige Fontänen in die Luft spritzten. Seile wurden abends an der Türe aufgespannt. Als die Mutter das zwischen Stühlen aufgespannte „Chaos“ von Stühlen und Schreibtischbein reisst und brüllend fragt „warum ist Dein Zimmer nur immer so ein Schweinestall“ antwortet er leise „Es ist eine Falle für Verbrecher“.

„So ein Unsinn, Verbrecher!“ Nie wird er den schmalen Strich vergessen, der der Mund im zornigen Gesicht seiner Mutter war, mit dem sie aus dem Zimmer ging, die Seile in den Händen. Kein Blick auf die Bilder, auf seinem Schreibtisch, sondern streng die Türe zu und „Ruhe“.

Kann man das Schweigen nennen?? Oder ist das eines von vielen Schweigen brechen gewesen und ein weiteres nicht Hören und zum Schweigen verurteilen?

Schweigen existiert in unserer Gesellschaft auch über nicht sexualisierte Gewalt. Nicht nur, dass aktuell die Gewalt gegen Kinder immer noch als Privatsache der Eltern an ihrem „Eigentum Kind“ behandelt wird, es existieren auch- fragt man z.B. ganz unkompliziert bei Menschen im Umfeld nach- zahlreiche Mythen wie „ das hatte ich auch verdient, ich brauchte das, ich war ein schwieriges Kind, oder das Berühmte „es hat mir nichts geschadet“.

Das alles dient unter anderem zur Rechtfertigung der damaligen Erwachsenen und dem Verdrängen des Schmerzes, den das Kind in dieser ungleichen Macht-Situation erfuhr.

Auch bei mir selbst existieren immer noch Überreste dieser Verdrängung. Nachdem ich viele Jahre erst einmal einen Teil meiner erfahrenen sexualisierten Gewalt aufarbeiten musste, um überhaupt weitermachen zu können, und nicht nur irgendwie jeden Tag zu überleben – stellte ich nach und nach fest: ja, auch ich bin geschlagen worden.

Auch diese Gewalt ist teilweise unter Bergen von Schutt vergraben, auch hier habe ich verdrängt. Da wo ich nicht verdrängt habe und ich das Geschlagen werden wie Bilder eines Films vor meinem inneren Auge sehen kann, taucht jedoch ein „Phänomen“ auf, das mir damals half den Schmerz nicht zu spüren: ich ging einfach aus meinem Körper heraus.

Erinnern kann ich mich an höchste körperliche Anspannung, in die ich geriet, sobald ich spürte, dass es gleich dazu kommen würde, wieder an den Haaren gezogen oder geschlagen und brutal gezwickt und gedrückt zu werden, und dann machte es „schwupp“ und ich spürte den Schmerz nicht mehr.

Mein Inneres schützte mich auf diese Weise den körperlichen Schmerz nicht zu spüren, er wurde per Dissoziation in andere Bereiche meines Seins geschoben.

Ja, denn es hätte mir wehtun müssen.

Auch die seelische und emotionale Qual wurde abgespalten. Denn eigentlich hätte es mir unerträglichen Schmerz bereiten müssen von den Personen, denen ich vertraute, und die ich liebte, geschlagen zu werden.

Auch die Angst, die ich damals heftig aufflammen spürte, die ich beim Erinnern immer noch als ganz kurze Sequenz wahrnehme, muss sich irgendwo anders hin begeben haben.

Was war stattdessen meine Reaktion auf diese plötzlichen Gewalt-„Anfälle“ von Bezugspersonen? Ich erinnere mich an körperliche Erstarrung, und die Wahrnehmung von Hitze auf meiner Haut- nicht von Schmerz. Bis es vorbei war.

Ich weinte sogar- nachdem ich etwas Routine hatte, älter war- extra, damit man mich loslässt, aufhört, erinnere mich aber, dass ich das nicht auf Grund von Schmerzen tat. Eine weitere Reaktion war das Gefühl um mich schlagen zu wollen, was ich aber unterdrückte, ebenso wie meine Wut, die ich in den Momenten austauschte gegen totale Anpassung, denn nur so, das wusste ich, würde es irgendwann enden.

Nachdem das Trommelfeuer, das „übers Knie legen, die Haar – Zieherei, vorbei waren, folgte die nächste Stufe: ich war an allem schuld, ich hatte Erwachsene so weit gebracht und ich musste mich bessern. Gut erinnere ich mich an viele Stunden weinend in meinem Zimmer, an die schluckende Angst nicht mehr geliebt zu werden weil ich mich wieder schlecht benommen hatte, weil ich ein schlechter Mensch war. Nicht umsonst wurde ich „der Tyrann, Monster, Nervensäge, Despot….“ genannt. Sowieso waren immer die Kinder an allem schuld, und je jünger, desto mehr. Das böse Kind, das seine Eltern zu Grunde richtet. Vermengt mit der vorhandenen Religiösität um mich, fühlte ich mich wie eine Sünderin, die immer Schuld hat.

Weitere Gebote und Verbote waren unter anderem, bloss nicht zu zeigen, wer man wirklich ist, denn das ergab in dem Familiensystem eine explosive Mischung, die darin gipfelte, für echte authentische Gefühle geschlagen oder veräppelt oder erniedrigt zu werden und sich danach schuldig fühlen zu müssen, dass man durch das blosse DASEIN und so sein wie man war „provoziert“ hatte und zur Sünderin auf der Suche nach Buße wurde.

Viel Zeit verbrachte ich weinend in meinem Zimmer, immer mit der Angst im Nacken, dass ich nicht mehr geliebt und daraufhin wieder (ich bin ein Adoptivkind in dieser Familie gewesen) verstossen werde. Ich wartete und hoffte und ich betete, dass man mich wieder in die menschliche Gemeinschaft, in die Familie aufnehmen würde und ich wurde sehr wütend, auf mich, weil ich so ein schlechtes Kind gewesen war.

Um das alles zu überstehen, passte man sich so gut an wie nur möglich, entsprechend der Rolle die einem zugewiesen wurde. Wie diese gestaltet war und wie und wer ich auf Grund dessen „sein“ durfte, musste ich jeden Tag wieder aufs Neue herausfinden, um nur ja nicht wieder die lebende Provokation zu sein.

Geschwiegen habe ich als Kind nicht! Oft überfielen mich Wutanfälle, auch in Situationen, die für die anderen lustig waren, wenn Worte fielen, die ich nicht verstand, wenn ich aufgezogen wurde, wie „sensibel“ ich sei, und vieles mehr, das ich auf Grund meines Alters nicht intellektuell, sehr wohl aber emotional verstehen konnte. Dieses gefühlsmässige Verstehen, diese bodenlose Ungerechtigkeit, die ich sehr wohl bemerkte, gegen die ich aber wie gegen eine Wand, machtlos war.

Meine Wut brach mein Schweigen, meine Wut brachte mir Bärenkräfte, meine Wut war meine Hilfe noch am Leben zu sein, denn ohne sie hätte ich nicht mehr existiert, wäre ich überwiegend ein erniedrigtes „Ding“ gewesen- aber das war ich nicht, auch wenn sich meine wilde, lebendige Persönlichkeit tief in mein Innerstes zurückgezogen hatte, um dort die Zeit bis zum Erwachsenenalter zu überleben.

Durch die Diskussionen um das Schweigen, durch das mutige Verlassen des Schweigens und des Sprechen Lernens ausgelöst, fiel mir nach und nach auf, wie oft ich in meinem Leben nicht geschwiegen habe, wie oft aber von mir eine andere Sprache erwartet wurde, die ich auf Grund der Gefährlichkeit von dieser Sprache für meine Existenz, aber nicht sprechen wollte.

Das Misstrauen war nicht nur deshalb tief eingebrannt, weil die Menschen, die es betraf es verdient hatten, sondern auch deshalb, weil es, wenn ich mein Schweigen auch wortlos brach, wieder und wieder bestätigt wurde.

Nicht zu Letzt ist die Reaktion auch der heutigen Umwelt, der Gesellschaft in der wir leben, den politischen Vorraussetzungen, die geschaffen wurden, alles andere als hilfreich!

Was kann passieren, wenn das Schweigen gebrochen wird, real, im Heute, in unserer Gesellschaft?

Ich zähle einige Möglichkeiten der von Aussen auf einen zukommenden „Risiken“ auf:

Verlust des Jobs

Verlust der Familie

Verlust von Freundinnen und Freunden

Verlust der Freundlichkeit von Nachbarn

Alleine diese vier Möglichkeiten können den Verlust des kompletten Sicherheitsnetzes bedeuten!

Weiter wären da:

Keine Möglichkeit mehr ein Mindestmass an Rechtsprechung, auch zur Sicherung der Existenz, auf der eigenen Seite zu haben, da Taten verjährt,

Riskieren von Anzeigen, da Taten verjährt,

Herzlose , eiskalte Sprüche „..ist doch so lange her… gib doch endlich Ruhe… hör doch auf….

Jetzt vergib doch endlich, das macht Dich heil…..“

oder auch

SCHWEIGEN, ignorieren….

Etikettierungen, Erniedrigungen

Oder überbordendes, entmündigendes Mitleid

Haltloses Unverständnis wenn man kein „angenehmes“ Opfer ist,

sondern über Eigenschaften verfügt, die ein armes, bedauernswertes Opfer nicht haben darf!

Sonst kann es nämlich wirklich nicht schlimm gewesen sein…..

Das Schweigen brechen können bedeutet, viel mehr Mut aufzubringen als viele andere Menschen es jemals tun müssen oder sich vorstellen können. Noch dazu ist Fakt, dass man etwas offenbart, für das man selbst gar nicht verantwortlich ist, sondern als Opfer eines Verbrechens! Behandelt wird man aber als wäre man selbst daran schuld!

Dieses Schweigen zu verlassen bedeutet sich unabhängig machen zu können von dem Sicherheitsnetz, bedeutet, dass man irgendwo anders einen Halt finden kann, und muss, der ausserhalb dessen liegt, was heute unsere Gesellschaft überwiegend immer noch ausmacht. Leider ist das eine Erfahrung die viele schon machen mussten und machen.

Durch die politische Arbeit von netzwerkB, die Mündigkeit, den Mut, die ich spüre, habe ich persönlich noch mehr Hoffnung bekommen, mein Schweigen zu brechen. Von Heute auf Morgen ist aber auch das nicht geschafft, denn meine eigene Sprache wiederzufinden bedeutet Vielfältiges.

Durch die lieben Menschen in meinem Leben und durch das netzwerkB und den Menschen, die netzwerkB sind, fühle ich mich gestärkt.

Das ist es nicht alleine, denn die grösste Solidarität erfahre ich von mir selbst, das ist mein starker Grundstein in mir, den ich immer hatte!

Aber ich brauche die Unterstützung von anderen, zu sehen, zu spüren, wir können etwas bewegen, für uns Betroffene, wir bewegen uns, wir ändern etwas! Damit das Schweigen zu brechen, unsere individuelle ureigene Sprache zu finden und zu sprechen, wie jeder Einzelne sie sprechen mag und kann, leichter wird! Zusammen ist vieles möglich!


Jetzt netzwerkB noch stärker machen …