Die Behörde für Justiz und Gleichstellung der freien und Hansestadt Hamburg veranstaltete am 8. Mai 2013 in den Räumen des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf eine Expertenanhörung zum Thema „Sexueller Missbrauch – Hilft eine Ausdehnung der Verjährungsfristen?“

Frau Senatorin Jana Schiedek wurde vertreten durch Herrn Dr. Ralf Kleindiek, Staatsrat der Behörde für Justiz und Gleichstellung, der die Expertenrunde, sowie weitere 40 geladene Gäste begrüßte, darunter auch Vertreter der Presse.

In Redebeiträgen von jeweils 15 Minuten haben folgende Teilnehmer der Expertenrunde zum Thema „Hilft eine Ausdehnung der Verjährungsfristen?“ ihre Position dargestellt und im Anschluss daran wurde gemeinsam mit den geladenen Gäste darüber diskutiert.

Moderiert von Prof. Dr. med. K. Püschel

  • Dr. Holger Schatz, JB: „Die aktuelle Rechtslage“
  • Norbert Denef, netzwerkB: „Erfahrungen aus der Sicht von Betroffenen“
  • Peter Giese, Opferhilfe e.V.: „Aus der Arbeit der Opferhilfe e.V.“
  • Wolfgang Sielaff, Weisser Ring: „Aus der Arbeit des Weissen Ringes“
  • Prof. Peter Wetzels, Universität HH: „Epidemiologie sexuellen Missbrauchs in Deutschland“
  • Inge Pape, LKA 42: „Erfahrungen im Umgang mit Opfern und Zeugen aus polizeilicher Sicht“
  • Dr. Ingo Schäfer, UKE: „Neuropsychologische Befunde zu Erinnerungen an sexuellen Missbrauch“
  • Prof. Peer Briken, UKE: „Leugnung bei Kindesmissbrauchern“
  • Jörg Keunecke, StA: „Ausdehnung der Verjährungsfristen aus der Sicht der staatsanwaltschaftlichen Sachbearbeitung“
  • Dr. Dirk Bange, BASfI: „Erfahrungen aus der Arbeit des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung“

Statement von Norbert Denef, netzwerkB: „Erfahrungen aus der Sicht von Betroffenen“

Sehr geehrter Herr Dr. Kleindiek, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Püschel, sehr geehrte Damen und Herren,

Ich möchte mich herzlich für die Einladung bedanken und für die Gelegenheit hier Ihnen von unserer Arbeit im netzwerkB zu berichten und aus Sicht von Betroffenen Antworten zu geben auf die Frage ob eine Ausdehnung oder Abschaffung der Verjährungsfristen für sexualisierte Gewalt sinnvoll ist.

Das netzwerkB, das Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt hat seine Wurzeln in einer Selbsthilfegruppe, in der bereits 1993 Männer und Frauen gemeinsam über die von ihnen erlebte sexualisierte Gewalt sprachen. Das Netzwerk, das sich über Jahre bildete, fand im April 2010 mit der Gründung eines gemeinnützigen Vereins einen formellen Rahmen. Seitdem sind wir gewachsen auf über 850 Mitglieder und werden täglich mehr.

Unter unseren Mitgliedern sind viele Menschen, die selbst sexualisierte Gewalt erlebten, aber auch Menschen, die betroffen sind von der sexualisierten Gewalt, die ihre Angehörigen oder Bekannten erfuhren.

Viele unserer Mitglieder leiden schwer unter den Folgen der ihnen zugefügten Gewalt. Sie leben nicht selten am Existenzminimum und haben Probleme ihr Leben zu organisieren oder soziale Bindungen einzugehen. So finden sie sich oft vom gesellschaftlichen Dialog ausgeschlossen. Wir vertreten ihre Interessen. Wir wollen nachhaltige Veränderungen schaffen, indem wir die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern, die sexualisierte Gewalt möglich machen.

Lassen Sie mich vor diesem Hintergrund direkt auf die Frage antworten, die uns hier zusammenbringt: Hilft unseren Mitgliedern und anderen Betroffenen die weitere Ausdehnung der Verjährungsfristen oder ihre Abschaffung?

Und ganz konkret: Hilft die weitere Ausdehnung der Verjährungsfristen oder ihre Abschaffung dabei eine Strafverfolgung der Taten möglich zu machen? Es wird Sie vielleicht überraschen, dies von mir zu hören, aber es ist tatsächlich so, dass auch ohne Verjährungsfristen nur in Ausnahmefällen eine Anklage zum Erfolg führen wird. Je länger die Taten zurückliegen, desto schwieriger wird die Beweisführung. Ja, es besteht sogar die Gefahr einer Retraumatisierung der Opfer, für den Fall, dass Täter in einem Strafprozess wegen Mangel an Beweisen wieder frei gesprochen werden müssen.

Ich möchte Ihnen erklären, warum wir Betroffene von sexualisierter Gewalt die Abschaffung jeglicher Verjährungsfristen dennoch fordern, insbesondere im Strafrecht – und zwar auch rückwirkend.

Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen, dass eng verbunden ist mit Nicht-Sprechen, mit Schweigen. Schweigen, aus Angst, Scham und Schuldgefühlen. Schweigen, weil man schweigen muss. Schweigen, weil beim Sprechen alles kaputt zu gehen droht: Familien zerbrechen würden, nichts mehr so wäre wie zuvor. Schweigen, weil man durch das Sprechen zum Außenseiter würde. Schweigen, weil die Schäden und das Leid, das man ertragen hat, so groß sind, dass man sie nur ertragen kann, nur weiterleben kann, wenn man nicht darüber spricht. Schweigen, weil Sprechen so schwer ist.

Neulich, nach einer Fernsehsendung, rief mich ein 86-jähriger Mann an und sagte mir, dass auch er als Kind sexuell missbraucht worden sei. Er sagte weiter: „Sie sind der erste, dem ich es erzähle“. Er stockte und weinte, wohlgemerkt mit 86 Jahren. Und das ist kein Einzelfall.

Meine Damen, meine Herren – ich wurde sexuell missbraucht. „Ich wurde sexuell missbraucht“, dass kann man nicht einfach so sagen. Dass muss man üben. Vor dem Spiegel. Ich, wurde, sexuell, missbraucht. Im Alter von 10 bis 18 Jahren. Von einem Pfarrer und einem Kirchenangestellten. Und ich habe 35 Jahre geschwiegen. Niemand hat davon gewusst. Schweigen, aus Angst, Scham und Schuldgefühlen und weil durch das Sprechen nichts mehr so ist, wie zuvor. Schweigen, weil die Sprache fehlt.

Bei manchen Betroffenen kommen Erinnerungen erst sehr später wieder zurück, sie spalten das Erlebte ab, sie müssen das Erlebte abspalten.

Sexualisierte Gewalt ist kein Knochenbruch, der einige Zeit schmerzt und dann wieder verheilt. Betroffene von sexualisierter Gewalt leiden ihr ganzes Leben. Je schwerer der Missbrauch, desto größer das Leiden und desto schwieriger wird das Sprechen.

Als Gesellschaft müssen wir dies anerkennen. Wir müssen verstehen, dass sexualisierte Gewalt und Schweigen Hand-in-Hand gehen. Wir müssen verstehen, dass Opfer nicht sprechen können. Wir müssen den Opfern zugestehen, dass sie schweigen dürfen, denn das Sprechen tut unendlich weh. Wir müssen bemerken, dass Wunden von sexualisierter Gewalt nicht gut verheilen. Sexualisierte Gewalt verursacht Langzeitschäden. Opfer leiden ihr Leben lang. Viele können nie darüber sprechen. Wir dürfen kein Opfer unter Druck setzen. Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, die das Sprechen möglich machen und bei denen Schweigen keine negativen Konsequenzen hat. Denn es ist gerecht, dass jemand der im Alter von 86 Jahren zum ersten Mal darüber sprechen kann auch darüber sprechen darf und aufarbeiten darf. Das müssen wir möglich machen. Wenn wir als Gesellschaft dies begreifen, dann sind die Konsequenzen einfach. Sexualisierte Gewalt darf nicht verjähren. Rückwirkend. Eine Verlängerung der Verjährungsfristen ist kein Fortschritt. Denn wollen wir tatsächlich einem 86-Jährigen zum Vorwurf machen, dass er nicht bereits vor 10 oder 30 Jahren gesprochen hat? Denn wissen Sie: Er konnte es nicht. Er konnte es nicht, weil er Opfer von sexualisierter Gewalt ist. Er konnte es nicht, weil er unter Langzeitschäden leidet. Durch die erlebte Gewalt wurde ihm die Sprache genommen. Und dafür dürfen wir ihn kein zweites Mal bestrafen. Ihm muss Gerechtigkeit widerfahren. Deswegen darf sexualisierte Gewalt nicht verjähren. Deswegen darf sie rückwirkend nicht verjähren. Deswegen ist eine Verlängerung der Verjährungsfristen kein Fortschritt.

Meine Damen und Herren, ich weiß, dass diese Forderung radikal ist. Sie ist sicherlich kein politischer Kompromiss, bei dem mit Jahreszahlen gefeilscht werden kann. Sie ist aber auch ‚radikal’ im ursprünglichen Sinne des Wortes, denn sie geht der Sache an die Wurzel, sie geht an den Ursprung des Themas.

Worum es hier geht, ist, dass wir sexualisierte Gewalt und die damit verbundenen Schäden anerkennen. Es geht darum Opfer nicht für ihr Schweigen zu bestrafen und damit ein zweites Mal zum Opfer zu machen, denn das Schweigen ist direktes Ergebnis der Tat unter der sie ohnehin leiden.

Es ist ungerecht, wenn ein Rechtssystem Täter belohnt, die in besonders perfider Weise dazu beigetragen haben, dass Opfer nicht über die Taten sprechen können und so die Tat geheim bleibt. Das können, das dürfen wir nicht ignorieren. Unser Rechtsfrieden ist von der Aufhebung der Verjährungsfristen nicht gefährdet. Er ist ohne die Aufhebung der Verjährungsfristen gefährdet. Deswegen darf sexualisierte Gewalt nicht verjähren. Auch deswegen darf sie rückwirkend nicht verjähren. Und auch deswegen ist eine Verlängerung der Verjährungsfristen kein Fortschritt.

Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass hier in dieser Runde sprechen zu dürfen und dass Sie sich dieses Themas annehmen, denn das tun nur wenige. Wenn Sie heute, wenn wir heute, tatsächlich den Entschluss fassen würden, dass sexualisierte Gewalt nicht verjähren darf, dann könnten Sie, dann könnten wir, diejenigen sein, die tatsächlich etwas für Betroffene von sexualisierter Gewalt getan haben. Es könnte Bewegung kommen in eine Sache, die für viele Menschen von ganz entscheidender Bedeutung ist. Denn würde den Betroffenen die Abschaffung der Verjährungsfristen für sexualisierte Gewalt nutzen? Ja, ganz erheblich. Sie würden spüren, dass die Gesellschaft sie nicht vergisst, dass sie in einem Rechtssystem leben, das die ihnen widerfahrene Gewalt angemessen behandelt. Ein Rechtssystem, das versteht, dass Opfer von sexualisierter Gewalt nicht sprechen können. Ein Rechtssystem, das die Langzeitschäden anerkennt. Es würde das Signal ausgehen, dass wir als Gesellschaft sexualisierte Gewalt, in ihrer Art, Bedeutung und ihrem Umfang erstnehmen.

Wie schon gesagt, die Forderung nach der Abschaffung ist radikal, sie geht der Sache auf den Grund. Und es ist keinesfalls einfach einen solchen Schritt zu gehen. Doch die Vergangenheit zeigt, dass es möglich ist. Aus jedem Krimi kennen Sie den Satz „Mord verjährt nicht“. Sicherlich wissen Sie, dass dies nicht schon immer so war. Erst 1979 hat die Bundesregierung unter Helmut Schmidt – nach langer öffentlicher Diskussion – die Verjährungsfristen schließlich ganz abgeschafft. Heute ist dies selbstverständlich.

Die Frage ist also nicht nur, ob eine Aufhebung der Verjährungsfristen den Opfern nützt, sondern ob Verjährungsfristen, das Konzept der Verjährungsfrist dem Ausmaß und der Art des Verbrechens gerecht wird. Die Frage ist, ob wir Opfern von sexualisierter Gewalt, deren Schädigung es ihnen nicht erlaubt über das Erfahrene zu sprechen, eine Frist setzen dürfen. Die Frage ist, ob wir die Langzeitschäden anerkennen und Konsequenzen daraus ziehen.

Meine Damen und Herren, ich würde mich außerordentlich freuen, wenn wir heute das Signal senden könnten, dass Hamburg den Versuch macht, etwas in der Republik zu bewegen. Und ich kann Ihnen versichern, dass eine Nachricht, „Hamburg setzt sich für die Aufhebung der Verjährungsfristen ein,“ den Betroffenen helfen würde. Sie könnten wieder hoffen, dass die Gesellschaft versteht was ihnen angetan wurde und sie nicht für ihr Schweigen bestraft und Schweigen nicht staatlich verordnet ist. Sie können hoffen, auf Bedingungen die sexualisierte Gewalt verhindert. Nur so können wir ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem auch ein 86-Jähriger sagen kann „ich wurde sexuell missbraucht“.

Vielen Dank.

Eine Veröffentlichung der Redebeiträge von allen Teilnehmern der Expertenrunde, sowie den Beiträgen in der Diskussionsrunde, ist durch die Behörde für Justiz und Gleichstellung in Hamburg geplant.