Kommentar von Kirsten Diercks

Wir erinnern uns: Vor noch nicht mal einer Woche traten die drei federführenden Ministerinnen im Kampf gegen sexuelle Gewalt vor die Öffentlichkeit und verkündeten… – ja, was eigentlich? Im Prinzip nichts, außer dass sie auf einem guten Weg seien, freilich ohne zu erwähnen, dass dieser aus Holz ist. Hoch schlugen die Wellen der Empörung in den Medien angesichts dieser offensichtlichen Untätigkeit und dem erbärmlichen Ergebnis, dass von den beschlossenen Hilfen noch nichts bei den Opfern angekommen ist. In vielen Zeitungen schaffte es diese Meldung auf die Titelseiten, kritische Kommentare gingen mit der Aufforderung, endlich etwas für die Opfer zu tun, einher. Und damit hatte es sich. Hier und da tauchte noch ein LeserInnenbrief auf, aber dann wurden auch schon wieder neue Säue durch die globalisierten Dörfer getrieben. Generell ist die Aufmerksamkeitsspanne für ein und dasselbe Thema in unserer heutigen schnelllebigen Zeit kurz, lässt man mal solche Evergreens wie die Eurokrise und Stuttgart 21 außen vor.
Mir ist aber aufgefallen, dass sich so eine Art Überdruss breit macht gegenüber allem, was mit sexueller Gewalt hierzulande zu tun hat – Vergewaltigungen in Indien z.B. sind da ein Kapitel für sich. Als Pola Kinski zu Jahresbeginn in ihrer Autobiographie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater schilderte, wurden seine Schandtaten z.T. damit relativiert, was für ein großartiger Schauspieler er doch gewesen sei. In der Süddeutschen Zeitung warf ein namhafter Feuilletonist Pola Kinski vor, keine Klischee-Vokabel ausgelassen und einen Voyeurismus bedient zu haben; seiner Ansicht nach hätte sie besser gar nicht an die Öffentlichkeit gehen sollen. Immerhin bezichtigte er sie nicht der Lüge.

Besonders negativ fiel mir jüngst ein Artikel des taz-Journalisten Jan Feddersen auf. Er beklagte sich über die zunehmende Zahl an Artikeln und Filmen über sexuelle Gewalt, deren Opfer und Folgen, wobei er die Tatort-Kommissarinnen Odenthal & Co. auf einem Kreuzzug gegen Sex im allgemeinen wähnte und diese die moralische Keule schwingen sah. Seiner Ansicht nach suggerierte die gehäufte mediale Thematisierung sexueller Gewalt, dass diese alltäglich sei – eine Ansicht, die er ganz und gar nicht teilte. Ich weiß ja nicht, was für eine Verdrängungsleistung der Mann in den letzten Wochen, Monaten, Jahren erbringen musste, um die Fälle, die aufgedeckt wurden, zu ignorieren oder ins Reich der Märchen & Mythen zu verbannen. Jedenfalls stellte er fest, dass da ein Säuberungsprozess in der Gesellschaft statt finde und Sex mittlerweile ein Schmuddel-Image habe, das noch schlimmer als in den miefigen 50er Jahren sei; alles, was mit Sexualität zu tun habe, sei als pfui! verschrien. Er verwechselte da ganz offensichtlich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen gleichberechtigten Erwachsenen mit sexueller Gewalt, denn nichts anderes sind Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe an Schwächeren, besonders perfide und extrem, wenn es sich dabei um Kinder handelt. Oder wollte er sich da zum Anwalt der sog. Pädophilen machen, die Kinder doch angeblich nur lieben und ihnen nie etwas zuleide tun würden, die also völlig zu unrecht von den miefigen Moralisten verurteilt würden? Wie viel Geist der 68er, dem zufolge freie Liebe auch sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen & Kindern beinhaltet, weht da noch durch die Redaktionflure der taz?

Ich fühlte mich beim Lesen des erwähnten Artikels sehr an die Missbrauchs-Debatte der späten 90er erinnert, hierzulande besonders geprägt von Katharina Rutschky – und geführt vor allem in der taz. In den USA hatte man auch schnell einen Namen für diese „Krankheit“: false memory syndrome; und tatsächlich verklagten vereinzelt PatientInnen unter viel Medienrummel ihre TherapeutInnen auf Schmerzensgeld, weil diese ihnen angeblich eingeredet hätten, sexuell misshandelt worden zu sein. Sicher gibt es den einen oder anderen Fall, wo den Kindern tatsächlich eingeredet worden ist, dass z.B. Papa sie unsittlich berührt habe, aber man darf doch bitte nicht alle Opfer unter Generalverdacht stellen! Und man sollte nie die Schuld- & Schamgefühle eines wirklichen Opfers unterschätzen, die es schweigen lassen, über Jahrzehnte hinweg, entschieden zu lange. Darum auch die Forderung nach Abschaffung der Verjährungsfrist für sexuelle Gewalttaten.
Und diese Forderung müssen wir gebetsmühlenartig wiederholen, bis sie endlich erfüllt ist – auch oder gerade wenn wir damit anderen Menschen auf die Nerven gehen! Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Thema immer wieder in der Versenkung verschwindet! Wir müssen gemeinsam und nicht zersplittert in sich zerstrittene Gruppen unseren Forderungen Nachdruck verleihen, dürfen uns nicht mit leeren Versprechungen abspeisen lassen! Wir werden jeden Tag von neuem an unser Leid erinnert – wir sollten die Gesellschaft daran erinnern, notfalls jeden Tag von neuem!
„Wer die Wahrheit nicht weiß, ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!“ (Bertold Brecht)


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