Offener Brief an die für die Umsetzung der Forderungen des sog. Runden Tisches zuständigen Bundesministerien für Familie, Justiz & Wissenschaft

Sehr geehrte Damen & Herren,

es erschüttert mich zutiefst, dass Sie nach über einem Jahr noch keine der im Maßnahmekatalog zur Aufarbeit sexuellen Missbrauchs aufgelisteten Forderungen, die zu einer Verbesserung der Situation der Opfer führen, umgesetzt haben! Es heißt, die beste Rache sei ein glückliches Leben – nur stellt sich vielen Betroffenen täglich die ganz elementare Frage: wovon? Es geht nicht bloß um eine qualifizierte therapeutische Versorgung, sondern um eine finanzielle Absicherung. Bislang tritt man als nur eingeschränkt oder gar nicht arbeitsfähige Person als Bittstellerin um Almosen auf, wird als mutmaßliche Sozialbetrügerin behandelt, die sich unrechtmäßig irgendwelche Leistungen erschleichen will, und muss sich rechtfertigen und erklären, weswegen man nicht arbeiten kann; und selbst wenn man sich als Missbrauchsopfer outet, wird einem oft schlichtweg nicht geglaubt, oder man muss sich den guten Rat geben lassen, dass man die Vergangenheit doch endlich mal ruhen lassen und hinaus ins Leben und arbeiten gehen möge. Nur ist die Vergangenheit ebenso wenig gnädig und lässt einen ruhen, wie die TäterInnen es einst gewesen sind. Es ist eine fortwährende Demütigung! Vielleicht sollte ich dem anonymen Begriff „Opfer von Kindesmissbrauch“ mal ein Gesicht geben und meine Geschichte erzählen.

Eine Bilanz, die sich sehen lassen kann:

Ich wurde 22 Jahre lang in meinem Elternhaus körperlich, psychisch und sexuell misshandelt, meine ersten 22 Lebensjahre lang, in denen ich mich an keinem einzigen Tag sicher fühlen konnte und nicht Gewalt ausgesetzt war. Mein Vater war Berufsoffizier und CDU-Politiker, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft – und der Ideologie der Nazis, vor allem in seinen Erziehungsgrundsätzen, treu geblieben: nur ja keine Zärtlichkeiten und kein Lob, damit man nicht verweichlicht oder sich etwas auf sich einbildet.

Schlechte Leistungen wurden bestraft, gute ebenfalls, denn gut war man nur, weil die Anforderungen zu niedrig gewesen waren, Misserfolge hatten zu unterbleiben, man durfte weder positiv noch negativ hervorstechen. Er hat mich nie eines Blickes gewürdigt und keine Gelegenheit ungenutzt gelassen, mir seine Verachtung zu zeigen. Für ihn war und blieb ich ein Nichts, trotz späteren Einser-Abiturs. Ich wusste, woran ich war. Bis zur Pubertät verging er sich an mir.

Meine Mutter war unberechenbar, eine Sadistin, die mich ebenso lustvoll wie ausdauernd quälte, die völlig willkürlich Regeln festlegte und wieder außer Kraft setzte, mir Befehle erteilte und mich umgehend dafür bestrafte, wenn ich ihnen Folge leistete, sich fortwährend Vergehen meinerseits ausdachte, für die sie mich bestrafen oder an meinen Vater verraten konnte, damit dieser die Strafe an mir vollzog. Sie schnüffelte in meinen gesamten Habseligkeiten auf der Suche nach etwas, das sie gegen mich verwenden konnte, und interpretierte sogar meine Schulaufzeichnungen in ihrem Sinne. In einem Moment konnte Sie die liebevolle Mutter sein und im nächsten übergangslos die keifende, prügelnde Furie. Sie liebte es, mich manchmal tagelang hinzuhalten, bis sie ihre Strafe vollzog, und zwar stets zu einem Zeitpunkt, wo ich mich schon in so etwas wie Sicherheit wog, und dann steigerte sie sich in eine wahre Gewaltorgie, immer mit diesem heimtückischen Grinsen im Gesicht, das ich wohl nie vergessen werde. Manchmal brachte sie mich nach einem solchen Exzess zum Arzt, dem sie irgendwelche Märchen über die Herkunft der schweren Verletzungen auftischte – notfalls hatte ich sie mir angeblich selbst beigebracht, sei es aus Ungeschicklichkeit oder aus purer Bösartigkeit -, die dieser ihr offenbar stets glaubte. Oder sie ließ mich hungern oder zwang mich, Ungenießbares oder Wiedererbrochenes zu essen; sie gab mir im Hochsommer tagelang nichts zu trinken und erzählte dem Arzt, zu dem sie mich, völlig dehydriert und schon derilierend, brachte, ich hätte ja nichts trinken wollen, was der Arzt ihr glaubte und wofür er mich ausschimpfte und die arme Mutter eines solchen Kindes bedauerte. Sie richtete mich zu, Männern zu gefallen, und ließ diese sich an mir vergehen, stolz darauf, was für ein gehorsames Kind sie doch erzogen habe, und bestrafte mich danach dafür, dass ich so ein verdorbenes Flittchen sei. Ich war noch nicht mal im Schulalter.

Die Verletzungen im Genitalbereich, die ich mir natürlich angeblich selbst zugefügt hatte, ließ sie manchmal tatsächlich medizinisch versorgen, meist behandelte sie selber – mit Öl & Mehl. Ich könnte noch stundenlang fortfahren…

Gleichwohl muss ich gestehen, dass nicht die körperlichen und auch nicht die sexuellen Misshandlungen für mich am schlimmsten waren, denn das waren zeitlich begrenzte Episoden. Wirklich schlimm, und das bis zum heutigen Tage, war der von permanenter Angst bestimmte Alltag mit meiner Mutter. Die Täterlogik, dass ich ja selber schuld sei und durch und durch verdorben, dass es also an mir liege, wie ich behandelt werde, ich müsste eben nur brav und gut genug sein, hatte ich mir schon früh zu eigen gemacht. Was auch den Vorteil hatte, dass ich mich nicht wirklich ausgeliefert fühlte, sondern glaubte, meine Eltern in ihrem Tun & Lassen beeinflussen zu können.

Nach außen hin waren wir eine heile Familie, und sollten doch mal Risse in der Fassade entstanden sein, war klar, wen man dafür verantwortlich machen und bestrafen würde. Ebenso klar war mir, dass mir niemand glauben und dass ich zur Strafe in ein Heim kommen würde, sollte ich nicht mehr den schönen Schein wahren oder gar mein Schweigen brechen. Im übrigen war es in Soldatenfamilien seinerzeit normal, Kinder zu schlagen, gerne in Gegenwart Außenstehender, um zu demonstrieren, wie gut man seine Kinder erziehe.

Mit 22 Jahren gelang die Flucht. Ich studierte Medizin, bekam meine Wunschtochter, die ich ohne Kita & Ganztagsschule erzog, denn derlei gab es damals dort, wo ich wohnte, noch nicht, und die heute eine selbstbewusste junge Frau ist und ihrerseits studiert.

Ich rannte wie besessen in meinem Hamsterlaufrad, um mich nur ja nicht erinnern zu müssen, ignorierte die Bedürfnisse meines schon damals chronisch erkrankten Körpers und erst recht meine seelische Befindlichkeit, arbeitete 20 und mehr Stunden am Tag – bis zum Umfallen.

Im Alter von 40 Jahren war ich erstmals gezwungen, mich mit meiner Biographie auseinanderzusetzen, denn ich konnte nicht länger davor weglaufen. Heute bin ich 44 Jahre alt und körperlich und seelisch schwer krank, sitze im Rollstuhl und in einer nicht barrierefreien Wohnung fest, in der ich nicht mal mit einem Rollator Bad & Küche betreten kann. Die im 1. Stock liegende Wohnung kann ich gar nicht allein verlassen, meinen Rolli die Stufen vorm Haus nicht runtertragen. Ich bin darauf angewiesen, dass mich hin und wieder jemand Gassi schiebt – und das wars.

Von gesellschaftlicher Teilhabe kann nicht mal ansatzweise die Rede sein. Seit über drei Jahren. Barrierefreier Wohnraum ist im Großraum Hamburg rar und kaum bezahlbar, nicht für jemanden mit Sozialer Grundsicherung, denn da entscheiden die PolitikerInnen, was angemessen ist und bezahlt wird, was hier in Norderstedt nach einer Absenkung der Mietobergrenzen bedeutet, dass gar kein Wohnraum mehr angemessen ist und ich eigentlich umziehen müsste, irgendwo raus in die Pampa.

Ärztliche Behandlung ist für mich meist unerreichbar, so dass es mir mittlerweile sehr schlecht geht. Mein Zustand sei mit dem Leben nicht mehr vereinbar, hat mein Nephrologe jüngst gesagt. Nachdem ich an eine sog. Traumatherapeutin mit Kassenzulassung geraten war, die meine negativen Energien in einem Bergkristall auffing, den sie dann in der Elbe versenkte, und mir sagte, ich müsste nur loslassen und vergeben und mir erlauben, dass es mir gut geht, habe ich jetzt glücklicherweise einen wunderbaren Therapeuten, mit dem ich mir in kleinen Schritten angucken kann, was mir angetan worden ist und welche verheerenden Schäden das in mir hinterlassen hat.

Meine Eltern trage ich als Täterintrojekte noch immer in mir, und sie machen mir bis heute das Leben schwer mit ihren wüsten Beschimpfungen, Schuldzuweisungen & Abwertungen; mehr als nur einmal haben sie mich an den Rand des Suizids getrieben. Bei meinem Seelenhandschuh, wie ich meinen Therapeuten nenne, erfahre ich erstmals Wertschätzung & Geborgenheit, und dafür bin ich sehr dankbar! Ohne ihn wäre dieser mutige Brief nicht möglich. Dankbar wäre ich auch, wenn Menschen wie mir endlich geholfen würde, damit auch wir in Würde leben und nicht nur irgendwie-irgendwo überleben müssen. Man darf nicht immer nur auf die TäterInnen schauen und noch härtere Strafen fordern, man muss auch mal den Opfern einen Blick, möglichst einen liebevollen, gönnen und ihnen die Zuwendung zuteil werden lassen, die sie schon als Kinder dringend gebraucht hätten.

Mit bemüht-freundlichen Grüßen,

Kirsten Diercks, Norderstedt