Am kommenden Mittwoch kommt der ehemalige „Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ für einen Rückblick zusammen. Der Tisch hat wenig bewirkt. Aus Sicht von Norbert Denef war es nicht anders absehbar.

Als Anfang 2010 ein Rundbrief des damaligen Schulleiters des Berliner Canisius-Kollges an die Ehemaligen an die Presse geriet, wandten sich in den folgenden Monaten viele Betroffene weiterer Einrichtungen an die Öffentlichkeit. Deutlich wurde vor allem, dass man es viel häufiger mit sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt zu tun hatte, als man ahnte. Offenkundig wurde es, dass die Verbrechen über Jahrzehnte hinweg erfolgten, häufig mit mehreren Tätern und gegebenenfalls mit dem Wissen oder sogar der eigenen Tatbeteiligung der Personalleitungen. Die Täter suchten sich ihre Opfer wohlüberlegt aus. Die Betroffenen blieben innerhalb der großen Mehrheit der Nichtbetroffenen isoliert und schwiegen über Jahrzehnte.

Die Bundesregierung veranlasste noch im Frühjahr 2010 das Zusammenkommen eines Runden Tischs „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ unter der Leitung von drei Ministerinnen und mit der Beratung von Antje Vollmer, die zuvor den Runden Tisch Heimerziehung geleitet und abgewickelt hatte.

Der Runde Tisch Heimerziehung war noch auf Veranlassung des deutschen Bundestags zustande gekommen. Sein Auftrag umfaßte bereits hier die Aufarbeitung von Gewalt in verschiedenen Formen, ferner Vernachlässigung und Ausbeutung. An ihm saßen unter einer Masse von Vertretern verschiedenster Organisationen etwas verloren drei ehemalige Heimkinder mit Sitz und Stimme. Allerdings verwehrte man diesen drei VertreterInnen mit Beschluss im April 2009 das Hinzuziehen einer eigenen juristischen Beratung. Als der Verein ehemaliger Heimkinder drei andere Vertreter zum Runden Tisch senden wollte, wurde ihm das von Antje Vollmer und zuletzt sogar vom Kammergericht Berlin verwehrt. Die Ergebnisse, die für die Betroffenen unter den etwa 1 Mio ehemaligen Heimkindern in Deutschland erreicht wurden, sind in unseren Augen mehr als dürftig. Man billigte den Opfern Sachleistungen, wie zum Beispiel Therapiekosten zu.

Am Runden Tisch Kindesmissbrauch, der im April 2010 zum ersten Mal zustande kam, ging es um die Betroffenen im privaten und im institutionellen Bereich. Dieser Tisch besaß lediglich das Mandat der Bundesregierung, aber nicht des Bundestages. Alle größeren Organisationen, die in der Jugend- und Kinderarbeit tätig sind, waren vertreten, insbesondere die kirchlichen Organisationen. Die Verbände und Initiativen Betroffenen blieben ganz außen vor. Ab November 2010 gab es Arbeitstreffen, zu denen einzelne Betroffene nicht-namentlich und nicht-öffentlich eingeladen wurde. Für uns aus der Sicht einer Interessenvertretung käme dies einer Situation gleich, in denen ein Konzern nicht mehr mit Betriebsrat und Gewerkschaften, sondern nur mit einigen ausgewählten, namentlich nicht genannten Mitarbeitern  sprechen will. Im Frühjahr 2011 wurde von der Politik sogar eine „Bundesinitiative“ gegründet, die aber von vielen Initiativen seitens der Opfer ausdrücklich nicht mitgetragen wurde, auch nicht von netzwerkB. netzwerkB schrieb von 2010 bis 2012 eine ganze Serie von Briefen an drei Ministerinnen mit der Bitte, am Runden Tisch mit Sitz und Stimme teilnehmen zu dürfen. Es gab keine Antwort.

Begleitet wurde der Runde Tisch von einer von der Bundesregierung berufenen Bundesbeauftragten, Christine Bergmann, deren langjähriger Mitarbeiter Johannes-Wilhelm Rörig das Amt Ende 2011 übernahm. Der Beauftragte kann sich sein Aufgabenspektrum selbst gestalten. Diesen selbst gestellten Aufgaben stehen zwar ein Budget, aber eben keine erteilten Befugnisse gegenüber. Ähnlich besitzt auch der Runde Tisch kaum Befugnisse. Wir fragten Herrn Rörig, warum wir keine Antwort von den Ministerien erhielten. Er sagte, er habe darauf keinen Einfluss. Die Politik habe Angst vor netzwerkB, sagte Rörig. Wir fragten uns daraufhin still, warum die Politik vor den Opfern mehr Angst hat als vor den Tätern.

Der Runde Tisch grenzte viele Themen praktisch aus, wie eine Reform des deutschen Strafrechts und des Rechtssystems für Schadensersatz. Besprochen wurden  freiwillige Selbstverpflichtungen der Institutionen mit viel Papier und Empfehlungen. Eine weitere Kommission wird nun Rahmenrichtlinien erarbeiten, wie Bund, Länder und auch die Krankenversicherungen eingebunden werden können. Es geht darum, wie Hilfen für die Opfer zur Verfügung zu stellen. Nach anfänglich ablehnender Haltung beteiligen sich unter anderem die kirchlichen Organisationen an einem Hilfsfonds, an dem sich vor allem aber auch Bund und Länder beteiligen sollen. Die Gründe für die Probleme bei der Umsetzung liegen jedoch auf der Hand:  Die Bundesländer und ebenso auch die Krankenkassen waren am Runden Tisch nicht vertreten.

Derweil liegen einige wenige Gesetzesentwürfe verschiedener Bundestagsfraktionen auf Halde. netzwerkB schrieb den Präsidenten des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert, an, ob es nicht möglich wäre, an einem einzigen gemeinsamen Gesetzesentwurf zur Verbesserung der Opfer von Gewalt zu arbeiten. Trotz mehrere Nachfragen erhielten wir von Herrn Lammert nie eine Antwort. Ein Gesetzesentwurf zur Verlängerung der Verjährungsfristen der SPD wurde im Bundestag am 27. September 2012 diskutiert. Der Entwurf war genau zwei Jahre alt. Beschlossen wurde nichts. Allein die Betroffenheit über das eigene Nichtstun schien sich an diesem Abend im Bundestag sogar quer über alle im Bundestag vertretenen Parteien zu erstrecken.

Zugleich werden auch eine Reihe von Studien in Auftrag gegeben, zu denen eine Hotline-Aktion der Bundesmissbrauchsbeauftragten zusammen mit dem Runden Tisch zählten. Solchen Studien liegt zumeist dasselbe Muster zugrunde: Die Opfer haben die Möglichkeit, anonymisiert über erlebte Verbrechen zu sprechen. In der Regel fehlt es dabei an ausreichender Hilfe, falls Krisen wie zum Beispiel nächtliche Panikattacken auftreten. Eine Beratung für weitere rechtliche Schritte und Vorgehensweisen fehlt. Die Anonymisierung führt auch dazu, dass weitere Aufklärungen von Brennpunkten nicht erfolgen. Am Ende werden also mehrere hundert Seiten Bericht auf einer Pressekonferenz präsentiert. Einem Opfer selbst wird über einer eventuellen Beileidsbekundung hinaus nicht geholfen.

Seit nunmehr fast genau drei Jahren wird die Öffentlichkeit mit der Illusion hingehalten, man tue etwas. Wir sehen aber keine Taten. Wir erkennen nicht einmal solche Ansätze beim Runden Tisch. Freiwillige Selbstverpflichtungen ergeben keinen Sinn, wenn die beteiligten Institutionen keinen wirklichen Beitrag zur Aufklärung durch unabhängige Sachverständige und keinen Beitrag für eine wirkliche Entschädigung leisten wollen.

Aus unserer Sicht ist es lange überfällig, dass die Fristen für Straftaten wie „Schwerer sexueller Missbrauch“ und ähnliche Delikte, bei denen die Opfer lebenslang unter den gesundheitlichen Folgen leiden“, aufgehoben werden. Während sich hierzulande die Täter und die beteiligten Organisationen hinter den Fristen verstecken und den Opfern sogar mit Unterlassungsklagen drohen können, ist eine solche Gesetzesänderung in der Schweiz vor wenigen Monaten, auch rückwirkend im Rahmen der alten Verjährungsfristen, erfolgt.

Wir brauchen dringend eine Reform des Schadensersatzsystems, denn die bisherigen Zahlungen kamen kaum über ein Almosen hinaus. Sie entwürdigen die Betroffenen. Wenn für die gleichen Delikte in den Vereinigten Staaten auch Kompensationen für das erlittene Leid und die Folgeschäden von über 1 Million US-Dollar möglich sind, fragen wir uns, warum die Opfer in Deutschland an die sozialen Hilfesysteme weiterverwiesen werden. Eine Entschädigung muss den tatsächlichen Schaden ausgleichen, dazu zählt zum Beispiel auch der Verdienstausfall bei längerer Arbeitsunfähigkeit aufgrund stationärer Therapien und mehr.

Wir brauchen dringend eine Überarbeitung des Strafrechts, damit nicht die gleichen Delikte an Kindern weniger geahndet werden als bei Erwachsenen. Ebenso bedarf es einer Anzeigepflicht, damit Vorgesetzte nicht mehr straffällig gewordenes Personal vor einer Bestrafung schützen und versetzen kann.

Insbesondere bedarf es vor allem eines Impulses an die Politik, über die Gefahr und die Folgen von Gewalt, gegenüber den Betroffenen und Angehörigen als schreckliche Lebenswirklichkeit endlich offen zu reden. Diese Politik hat immer noch nicht gelernt, dass Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausnahmslos nicht zu entschuldigen ist. Ebenso müssen wir an der Vision einer gewaltlosen Gesellschaft für alle arbeiten und uns als Solidargemeinschaft begreifen. Wir haben die Hoffnung, dass die Politik eines Tages bereit ist, mit den Opferverbänden direkt zu sprechen.
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