„…Es ist wohl ein Privileg, als Mensch geboren zu werden, mit allem, was dies mit sich bringt. Glaubt man den Puranas, jenen antiken Volkserzählungen der Inder, so mussten sogar die himmlischen Geschöpfe, denen alles gegeben war und die nur Schönes, Gutes, Freudvolles kannten, irgenwann als Menschen geboren werden, damit auch sie das Gegenteil von alldem kennen lernten, um so den Sinn des Lebens zu verstehen. Und dies geht nur am eigenen Leib. Diese Erfahrung muss man selbst machen. Sie lässt sich nicht über Worte vermitteln, weil Worte an sich keinen Wert haben und keine Schmerzen bereiten. Gandhi wusste das und beherzigte es.

Eines Tages brachte eine Mutter ihren fünfzehnjährigen Sohn zu ihm. Dem hatte der Arzt jeglichen Zuckerkonsum verboten, andernfalls sei sein Leben in Gefahr. Da der Junge aber nicht hören wollte und sich weiter täglich mit Süßigkeiten voll stopfte, hoffte die Mutter, dass Gandhi ihr helfen könnte. Dieser hörte ihr zu und erklärte dann: ‚Im Moment kann ich nichts für euch tun. Kommt in einer Woche noch mal vorbei.‘

Als sie wieder bei ihm vorsprachen, nahm Gandhi den Jungen zur Seite und unterhielt sich längere Zeit mit ihm. Und seitdem rührte dieser schlagartig nichts Süßes mehr an. ‚Gandhi-ji, wie hast du das gemacht?‘, fragten ihn seine Jünger. ‚Ganz einfach‘, antwortete die Große Seele. ‚Ich habe mich selbst eine Woche lang allem Süßem enthalten, und als ich dann mit dem Jungen sprach, wusste ich, was das bedeutet, und konnte die richtigen Worte finden.‘

Ach, Gandhi!
Kurz bevor er ermordet wurde, fragte man ihn, wie die Botschaft seines Lebens lautete. Und er antwortete: ‚Mein Leben ist meine Botschaft.‘

Nur sehr, sehr wenige Menschen können das von sich behaupten. Und doch kann jeder von uns, auf seine Weise, nach etwas streben, mit dem sich sein Leben zusammenfassen lässt….“

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Tiziano Terzani
Noch eine Runde auf dem Karussell
Vom Leben und Sterben

Verlag: Hoffmann und Campe (2007)
ISBN-10: 3455076815
ISBN-13: 978-3455076813