Laufend aktualisiert gehaltene Seite von netzwerkB
Stand: 12. Dezember 2012

Medizinisch nicht indizierte Beschneidung von männlichen Minderjährigen

Wir haben im Juli 2012 diskutiert, wie wir uns zur medizinisch nicht indizierten Beschneidung von männlichen Babys, Kleinkindern, Kindern und Jugendlichen öffentlich positionieren sollen, weil diese Frage oft als Angelegenheit der Religion und nicht als Frage des Kinderschutzes dargestellt wird.

Auch die Sklaverei, das Abhacken von Händen bei Diebstahl, Steinigung bei Ehebruch, das Verbrennen von angeblichen Hexen und Ketzern, Ehrenmorde aus zum Beispiel innerfamiliären Gründen, Genitalverstümmelung bei Mädchen, ebenso auch sexualisierte Gewalt gegenüber Schwächeren ist „eine jahrtausendealte Tradition“. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln kann zu einer humanitären und kindgerechten Welt.

Wir möchten uns von der Gewalt gegenüber Kindern lösen. Kinder haben einen Anspruch auf ein Leben ohne Gewalt, Schmerz, Trauma und Eingriff in die körperliche und genitale Selbstbestimmung.

Dieser Eingriff birgt Risiken in sich. Wenn überhaupt, dann sollte der betroffene Mensch darüber selbst entscheiden können, wenn er dazu voll in der Lage ist, also ab einem Alter von 18 Jahren.

Es wird geschätzt, dass mindestens 30 % der entsprechenden Gruppen in Deutschland, bei denen dieses „Ritual“ noch Sitte ist, ihre Kinder allein aus sozialem Druck ihrer Religionsgemeinschaft beschneiden lassen.

Man sollte nicht glauben, dass die Bedingungen zumindest im Krankenhaus so ideal sind. In Deutschland überleben allein 20.000 Menschen pro Jahr eine Infektion nicht, die sie in einem deutschen Krankenhaus erlitten haben, von anderen Komplikationen ganz zu schweigen. Die ärztliche Ethik gebietet es, Eingriffe auf Verlangen der Eltern nur dann vorzunehmen, wenn sie medizinisch indiziert sind.

Der deutsche Gesetzentwurf hingegen sieht nicht mal zwingend eine Betäubung vor. Früher dachte man, Säuglinge empfänden keinen Schmerz. Heute weiß man, dass das Schmerzempfinden in den ersten Lebensmonaten sogar höher ist, weil das schmerzunterdrückende System noch nicht funktionsfähig ist. Die Kinderärzte sowie Psychotherapeuten wissen, dass die Babys und Kinder von diesem Eingriff ein Trauma erleiden. Ebenso bleiben die psychosexuelle Folgen unberücksichtigt.

Das Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012 kam anlässlich des Falls eines Jungen zustande, weil es bei einem – ärztlich fehlerfrei – beschnittenen Jungen zu massiven Blutungen gekommen war. Blutungen nach diesem Eingriff sind nicht unüblich. Der Junge wurde ein Notfall. Die Mutter, eine blinde Tunesierin, versuchte daraufhin, sich das Leben zu nehmen. Sie sprang aus dem Fenster. Vor diesem Urteil herrschte in den Kliniken und Arztpraxen Rechtsunsicherheit.

Die Berufsverbände der Kinderchirurgen, Kinderärzte, Urologen, Kriminalbeamten und eine Gruppe von mittlerweile über 700 Ärzten und anderen Wissenschaftlern distanzieren sich von der Beschneidung von Minderjährigen aus religiösen Motiven.
Bei dem Eingriff handelt sich um eine medizinisch unbegründete und somit unzumutbare Körperverletzung, auch wenn er von Ärzten durchgeführt wird.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie begrüßte das Landgerichtsurteil im Sinne der ärztlichen Ethik. Das nun ergangene Urteil gebe Rechtssicherheit und unterstreiche das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes: „Gerade Kinderchirurgen, die nicht einwilligungsfähige Kinder mit Einwilligung ihrer Eltern operativ behandeln, müssen hier strenge und klare Maßstäbe ansetzen. Nur die elterliche Einwilligung zu einer Operation, die dem Kind nach Abschätzen des Nutzen und des Risikos medizinisch zum Wohle gereicht ist rechtswirksam. Dieser Sachverhalt ist aber bei der Beschneidung kleiner Knaben ohne Einwilligungsfähigkeit außerhalb der medizinischen Indikation nicht erfüllt.“
http://www.dgkch.de/index.php/presse/189-pressemitteilung-juli-2012

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (bdkj) mahnte angesichts der „fundamentalistischen Züge der Debatte“ und der „Bagatellisierung dieser Form der Körperverletzung durch die Beschneidungsbefürworter“, es müsse das Kindeswohl und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit an erster Stelle stehen. Verbandspräsident Wolfram Hartmann wies auf „lebenslange körperliche und vor allem seelische Verletzungen” hin. Für die Politik scheine der Rechtsfrieden „mehr zu zählen als das persönliche Trauma“.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article108314004/Kinderaerzte-Koerperverletzung-wird-bagatellisiert.html

Wolfgang Bühmann, Urologie-Facharzt in Sylt-Westerland und Pressesprecher des Berufsverbandes der deutschen Urologen, ist entschieden gegen eine Beschneidung von Kindern unterhalb der Volljährigkeit und damit ohne Einwilligungsfähigkeit aus religiösen Gründen, selbst wenn diese in Narkose erfolge. „Wenn es keine medizinischen Gründe für den Eingriff gibt, dann handelt es sich eindeutig um Körperverletzung. Das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit steht eindeutig über der Religionsfreiheit der Eltern.“
http://www.tagesspiegel.de/politik/beschneidung-aus-medizinischer-sicht-was-bei-dem-eingriff-passiert/6806700.html

In einem gemeinsamen Aufruf von mehr als 700 Medizinern und Juristen, darunter Dr. Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Düsseldorf, Prof. Dr. Holm Putzke, Jurist an der Universität Passau, Prof. Dr. Maximilian Stehr und Prof. Dr. Hans-Georg Dietz, Kinderchirurgen an der Kinderchirurgischen Klinik der Universität München, werden Bundesregierung und Bundestagsabgeordnete aufgefordert, das Kindeswohl in den Mittelpunkt zu rücken: „Es herrscht eine bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung gegenüber den kleinen Jungen, denen durch die genitale Beschneidung erhebliches Leid zugefügt wird“.
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/offener-brief-zur-beschneidung-religionsfreiheit-kann-kein-freibrief-fuer-gewalt-sein-11827590.html

In seiner Sitzung vom 19. Juli 2012, in der Ferienzeit zustande gekommen, gab der Deutsche Bundestag – auf Druck der großen Religionsgemeinschaften hin – den Kinderschutz dennoch preis und nahm eine Traumatisierung der Betroffenen billigend in Kauf.

Die Debatte des Bundestages am 19. Juli 2012
http://www.youtube.com/watch?v=VnciPO32Wo4
 Sitzungsprotokoll als PDF herunterladen… 

Dabei stellt sich der Deutsche Bundestag nicht nur den Erkenntnissen der Kinder- und Jugendmedizin entgegen. Der deutsche Bundestag verstößt gegen die Menschen- und Bürgerrechte:

Nach Artikel 2 des Grundgesetzes hat „jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“. Dies ist nach Auffassung von netzwerkB gerade bei minderjährigen Kindern das höhere Recht.

Nach § 24 der UN-Kinderrechtskonvention haben die Vertragsstaaten, zu denen auch Deutschland zählt, „alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen zu treffen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“.

Der Sozialausschuss des Europäischen Parlaments faßte am 2. Oktober 2012 einen Beschluss über die körperliche Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen:
EU Committee on Social Affairs, Health and Sustainable Development Children’s right to physical integrity. 

Nach § 1631 Abs. 2 BGB galt bisher: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Dieses Recht wird durch das geplante Gesetz zur Legalisierung von Knabenbeschneidungen ausgehöhlt.

Auch der Ethikrat des Deutschen Bundestags beugte sich am 23. August 2012 dem Druck der Religionsgemeinschaften.
Am Freitag, den 28. September 2012 fand im Bundesministerium der Justiz die erste Anhörung zum Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Beschneidungen statt.

Der Gesetzesentwurf formuliert einen neuen Paragraf 1631 d im Recht der elterlichen Sorge des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Der Eingriff darf ohne Arzt vorgenommen werden. Es ist nur von einer „im Einzelfall angemessenen und wirkungsvollen Betäubung“ die Rede. Der Kinderschutz wird gesetzlich ausgehebelt.

Das Gesetz wurde am 10. Oktober 2012 im Kabinett behandelt und soll in Kürze vom Bundestag beschlossen werden.
2012/10/2012-10-11_Gesetzesentwurf_Beschneidung.pdf

Der Entwurf wurde am 2. November 2012 dem Deutschen Bundesrat zur Besprechung vorlegt. Der Bundesrat hatte keine Einwände. Die Bundesregierung drängt darauf, das Gesetz noch im November 2012 zu verabschieden. Ein genauer Termin hierfür steht noch nicht fest.

Eine größere Gruppe von Bundestagabgeordneten legte am 8. November 2012 einen Gegenentwurf zum Entwurf der Bundesregierung vor, der ein Schutzalter von 14 Jahren vorsieht. [Gesetzesentwurf zur Beschneidung ab 14 Jahren]

netzwerkB hält den Gesetzesentwurf der Bundesregierung für verfassungswidrig.

netzwerkB verbleibt bei seiner Position: Verletzungen an Kindern dürfen nicht bagatellisiert werden. Gewalt bleibt Gewalt auch und besonders an Menschen, die noch kaum eine eigene Stimme haben. netzwerkB fordert einen verbesserten Schutz der Kinder, sowohl Mädchen als auch Jungen, vor Verletzung und Gewalt. Die Beschneidung aus religiösen Motiven muss bis zur Volljährigkeit verboten sein.

Pressemitteilungen und Beiträge zum Thema

Gesetz zur Beschneidung wurde am 12. Dezember 2012 beschlossen:
Bundestag hat beschlossen – religiöser Brauch bleibt

Pressemitteilung von netzwerkB vom 11. Dezember 2012
Gesetz zur Zulässigkeit der Beschneidung von männlichen Minderjährigen

An den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 11. Dezember 2012
Stellungnahme zum von der Bundesregierung vorgeschlagenen Gesetz zur Zulässigkeit der Beschneidung von männlichen Minderjährigen

Pressemitteilung von netzwerkB vom 23. November 2012
Rechtsausschuss des Bundestages befaßt sich mit Gesetzesentwürfen zur Beschneidung

Gesetz zur Beschneidung soll bald verabschiedet werden.
Pressemitteilung von netzwerkB vom 17. Oktober 2012
http://netzwerkb.org/2012/10/17/gesetz-zur-beschneidung-soll-bald-verabschiedet-werden/

Wenn Pillermann und Muschi.
Beitrag vom 8. Oktober 2012
http://netzwerkb.org/2012/10/08/wenn-pillermann-und-muschi/

Helsinki-Erklärung 2012 zum Recht auf genitale Selbstbestimmung
Erklärung von NOCIRC vom 3. Oktober 2012
http://hpd.de/node/14114

Mein Körper gehört mir. Kinder sind keine Besitztümer ihrer Eltern, sondern eigenständige Träger von Menschenrechten.
Beitrag vom 22. August 2012
http://netzwerkb.org/2012/08/22/mein-korper-gehort-mir/

Routine Infant Circumcision with Doctor.
Beitrag vom 8. August 2012
http://netzwerkb.org/2012/08/28/routine-infant-circumcision-with-doctor/

Contra Beschneidungsgesetz- „Die Politik reagiert reflexhaft, nicht reflektiert“.
Focus online vom 24. Juli 2012
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/contra-beschneidung-die-politik-reagiert-reflexhaft-nicht-reflektiert_aid_786545.html

Verletzungen an Kindern dürfen nicht bagatellisiert werden.
Pressemitteilung von netzwerkB vom 22. Juli 2012
http://netzwerkb.org/2012/07/22/verletzungen-an-kindern-durfen-nicht-bagatellisiert-werden/

Offener Brief zur Beschneidung „Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein“.
Beitrag vom 21. Juli 2012
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/offener-brief-zur-beschneidung-religionsfreiheit-kann-kein-freibrief-fuer-gewalt-sein-11827590.html

netzwerkB lehnt die Beschneidung von Kindern aus religiösen Motiven als Gewalt gegen Kinder ab.
Pressemitteilung von netzwerkBvom 20. Juli 2012
http://netzwerkb.org/2012/07/20/netzwerkb-lehnt-die-beschneidung-von-kindern-aus-religiosen-motiven-als-gewalt-gegen-kinder-ab/

Pressemitteilung des Landgerichts Köln vom 26. Juni 2012
http://www.lg-koeln.nrw.de/Presse/Pressemitteilungen/26_06_2012_-_Beschneidung.pdf


netzwerkB Fördermitglied werden – auch beitragsfrei!
Jetzt eintragen … http://netzwerkb.org/mitglied