DIE ZEIT –  Christ & Welt 26.07.2012

OPFER Wie die Pastorin Susanne Jensen gegen das Desinteresse am Thema Missbrauch ankämpft

Von Astrid Prange

Eine Theologie für Missbrauchsüberlebende? Gibt es so etwas? Susanne Jensen glaubt fest daran. Die Pastorin aus dem Kirchenkreis Eckernförde macht sich dazu viele Gedanken. „Mir ist es wichtig, meinen Leidensgenossen sa- gen zu können: Steht auf und erhebet eure Häupter!“, sagt die 40-jährige Theologin. Mit spektakulären Aktionen dreht sie den Spieß um. So predigt sie am Buß- und Bettag nicht ihrer Gemeinde, sondern ihrer Kirche Buße. Statt Vergebung fordert sie politische Einmischung.

Die Pastorin kennt sich aus mit den Gesetzen der Mediengesellschaft. Sie will auffallen und polarisieren, sie ist unbequem, radikal, und sie will in die Öffentlichkeit. „Nur die Medien haben geholfen, die Missbrauchsskandale auf- zudecken, von Kirchen, Schulen und Vereinen kam nichts“, lautet Jensens nüchterne Bilanz. Nein, „mediengeil“ sei sie nicht. Doch ohne öffentlichen Druck bewege sich eben nichts. Ihr Fazit: „Man muss die Kirche zu Aussagen regelrecht prügeln.“

Vor zwei Jahren sorgte Susanne Jensen zum ersten Mal für Schlagzeilen. Während eines Gottesdienstes in Berlin-Kreuzberg am 4. Juli 2010 sprach sie in der Predigt über ihre eigenen Missbrauchserfahrungen. Zwölf Jahre lang musste sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater ertragen. Heute hat sie aus Protest keine Haare mehr. Jeden Morgen schert sie sich ihren Kopf kahl. Ein paar Monate nach dem Kreuzberger Gottesdienst suchte sie sich ein zusätzliches Widerstandssymbol aus und legte sich als „provokante Zeichen- handlung“ ein Hundehalsband um.

„Die Homosexuellen haben ihre Schleife“, erklärt sie. „Warum sollen nicht auch die Missbrauchsüberlebenden ein Symbol bekommen?“ „Medial“ hat die Pastorin schon viel erreicht. Sowohl der Norddeutsche und Westdeut- sche Rundfunk als auch das „Hamburger Abendblatt“ berichteten über die unbequeme Protestantin. Auch im Bibel-TV war sie kürzlich zu sehen.

An „ihre“ evangelische Kirche hat sie besonders große Erwartungen. „Die Kirche könnte zeigen, dass sie das Thema Missbrauch als gesamtgesellschaftliches Problem begreift“, erklärt sie. Die anscheinend große Macht der Kirche und die gefühlte Ohnmacht der Opfer – dieses Ungleichgewicht bringt die Pastorin regelmäßig in Rage. „Wenn alle Bischöfe der Justizministerin einen Brief schrieben und die Abschaffung der Verjährungsfristen forderten, dann könnten wir das herrschende Unrecht abschaffen!“, ist sie überzeugt.

Doch bis jetzt verharren beim Thema Verjährung viele Würdenträger im Schreckzustand – in beiden Kirchen. Auch Politiker zeigen zurzeit eher ver- haltenes Interesse am einst so titel- trächtigen Thema Missbrauch. So wurde der Aktivist Norbert Denef (siehe Artikel oben) kürzlich bei seinem Protest vor dem Reichstag nur von der Polizei empfangen, Abgeordnete ließen sich nicht blicken.

Susanne Jensen ficht diese Ignoranz nicht an. Sie versorgt die Medien wei- ter mit Schlagzeilen. Der nächste Termin steht bevor: ein persönliches Gespräch mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig.

Quelle: 26. Juli 2012 DIE ZEIT Nr. 31