DIE ZEIT – Christ und Welt – Aus: Ausgabe 27/2012

Vom offenen Umgang mit sexueller Gewalt sind beide Kirchen noch weit entfernt

Die Meldung, die in der vergangenen Woche in vielen Tageszeitungen erschien, war kurz und bündig. „Die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) haben Vereinbarungen mit der Bundesregierung für einen verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch unterzeichnet“, heißt es dort in klarem Agenturdeutsch. Kernpunkt der Vereinbarung sei die Übereinkunft, fachliche Mindeststandards zur Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt in Kirchen und kirchlichen Organisationen einzuführen.



Noch Fragen? Lieber nicht. Denn wer sich den Wortlaut der Vereinbarung durchliest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Forderungen der Opfer hinter einem Wust von Leitlinien, Empfehlungen und „Präventionsanstrengungen“ zu verschwinden drohen. Was haben die Betroffenen von der Entwicklung einheitlicher Qualitätsstandards, von Forschungsprojekten, Fachtagungen und Online-Umfragen? So löblich es auch ist, dass sich Verantwortungsträger aus Politik, Kirche und Gesellschaft auf Schutzmaßnahmen im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch einigen: Sie könnten viel mehr tun, als eine „Vereinbarung zur Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch“ zu unterzeichnen.

Beide großen Kirchen beschränkten sich darauf, die Unterzeichnung der Vereinbarung per Pressemitteilung bekannt zu geben. Einer Pressekonferenz mit Nachfragen von Journalisten schienen sie sich nicht stellen zu wollen. Dabei gäbe es so viele unbeantwortete Fragen: Woher zum Beispiel kommt das Geld für die Fortbildungen rund um das Thema sexualisierte Gewalt für die Tausende von Ehrenamtlichen in den Bistümern und Landeskirchen? Warum ist der Gesetzesentwurf über die Verlängerung der Verjährungsfristen immer noch nicht vom Parlament verabschiedet worden? Warum ist das Thema sexueller Missbrauch ein „hochsensibler Bereich“ und ein „vermintes Gelände“, wie es in Kirchenkreisen heißt, wenn sich doch anscheinend alle einig sind, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessert werden muss?

Missbrauchsopfer Norbert Denef glaubt nicht mehr an wohlklingende Vereinbarungen. Der 63-Jährige, Mitbegründer des Netzwerks Betroffener, befindet sich seit dem 8.Juni im Hungerstreik. Wie der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, will sich auch Denef nicht damit abfinden, dass Täter schon fünf Jahre nach ihrem Vergehen rechtlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Warum leisten die Kirchen nicht gemeinsam mit dem Beauftragten der Bundesregierung Lobbyarbeit? Warum wurde die Forderung nicht in ihre Vereinbarung übernommen? Fürchten sich die Kirchen womöglich vor Prozessen gegen unentdeckte Täter in ihren eigenen Reihen? Fest steht: Von dem angestrebten offenen Umgang mit dem Thema sexueller Gewalt sind politische Parteien und auch die Kirchen noch weit entfernt.

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