Worum geht es eigentlich wirklich beim Missbrauch von Menschen


(Foto: Norbert Denef / Engelsburg – Fluchtburg und Gefängnis der Päpste)

Ein Gastbeitrag von Martin Miller

In den letzten Monaten wurden wir mit den sexuellen Missbrauchsvergehen der Katholischen Kirche, die lawinenartig die Öffentlichkeit überrollten, konfrontiert. Opfer meldeten sich allerorts, die Kirche versuchte zuerst tapfer, ihr Verschulden zu verharmlosen, bis die ganze Affäre so schlimme Ausmasse annahm, dass sie sich „dieser unangenehmen Angelegenheit“ stellen musste. Selbst die Politik sah sich bemüssigt, sich mit dem Problem beschäftigen zu müssen. Man gründete den „Runden Tisch“, der mittlerweile in der Versenkung verschwunden ist und irgendwo unter Ausschluss der Öffentlichkeit sein Dasein fristet. Gerade deswegen lohnt es sich trotzdem, nachdem der Pulverdampf sich verzogen hat, sich dem Missbrauchsthema allgemein und im Speziellen in der Kirche, intensiver zu widmen. Worum geht es eigentlich wirklich beim Missbrauch von Menschen, und welche destruktiven Konsequenzen für die Betroffenen bewirken Missbrauchserfahrungen? Welche Absichten treiben die Täter an, und welche psychischen Strukturen werden beim Opfer angesprochen und zerstört?

Bei der Analyse dieses Skandals geht es vor allem um den intentionalen, absichtsvollen, bewusst ausgeübten Missbrauch. Meistens beabsichtigt der Täter, die Schwächen und die Gutgläubigkeit des anderen für seine Interessen auszunützen. Dabei geht der Täter strategisch gewieft und konsequent auf sein Ziel zu. Meistens wird ein Abhängigkeitsverhältnis eiskalt ausgenutzt. Als Aussenstehende wundern wir uns oft, warum denn die Opfer nicht merken, was mit ihnen geschieht? In ihrem neusten Buch „The Trauma Myth“ von Susan Clancy, beschäftigt sich die Autorin mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs aus der Perspektive der kognitiven Psychologie.(Psychologie des Denkens) In ihren Studien stellte sie fest, dass die traumatisch bedingten Erfahrungen in diesem Zusammenhang die Minderzahl der Fälle ausmachen, weil diese mit massiven physischen Misshandlungen gekoppelt sind.

Die meisten Missbrauchsfälle werden zwar in der konkreten Situation als stressig aufreibend erlebt, aber nicht als traumatisch. Dies ist auch der Grund, warum diese Opfer sexuellen Missbrauchs so lange ihre Missbrauchserfahrung verdrängen, um sie(Missbrauchserfahrung) besser vergessen  zu können. Findet nun eine öffentliche Diskussion zu diesem Thema statt, dann werden die Opfer mit ihren Missbrauchserfahrungen von früher konfrontiert und beginnen, ganz anders mit diesem Thema umzugehen. Sie reflektieren ihr Erleben und werden sich gewahr, dass jemand anderer sie in feindseliger Absicht betrogen und ausgenutzt hat. Als Erwachsene sind sie nun kognitiv in der Lage zu erkennen, wie ihnen bös mitgespielt wurde, dann, wenn die Tat strafrechtlich verjährt und gerichtlich nicht mehr aufgearbeitet werden kann. Die Autorin stellte in ihren Untersuchungen fest, dass diese Menschen erst durch das Bewusstwerden der Tat unter psychischen Folgeerscheinungen leiden  und psychische Störungen entwickeln. Diese Störungen sind oft nicht die Folge einer Verdrängung, sondern die Konsequenz der Erkenntnis. Besonders belastend für die Opfer ist der Umstand, dass sie bei der Reflexion ihres Erlebens nicht mit der Tat als solcher konfrontiert werden, sondern vor allem mit der verachtenden Einstellung und Handlungsweise des Täters. Nicht unbedingt die Tatsache des sexuellen Missbrauchs beherrscht in erster Linie die Aufmerksamkeit, sondern die Feindseligkeit des anderen, die man als Opfer damals nicht durchschaut hat. Beim Täter haben wir es mit einem Menschen zu tun, der das eigentliche Verbrechen mit dem Mantel der Scheinheiligkeit verbirgt. Als Betroffener des Missbrauchs wird man  Opfer einer Wahrnehmungsstörung. Der Täter vermittelt einem gezielt ein Erleben in der Beziehung, das automatisch bestimmte Verhaltensmuster aktiviert. Der Täter will das Vertrauen mit einem  blinden Gehorsam herbeiführen und schafft es durch Raffinesse, im anderen ein Verhalten zu erzeugen, damit er  nicht merkt, was da mit ihm gespielt wird. Das Opfer durchschaut den Betrug nicht. Es ist deshalb interessant, tiefergehend die Strategien und Handlungsweisen von missbrauchenden Tätern vom sozialpsychologischen Standpunkt aus zu analysieren.

Der Sozialpsychologe Robert B. Cialdini (Psychologie des Überzeugens, 2008) hat sich mit der Psychologie der Beeinflussungsprozesse beschäftigt. Folgende Fragestellungen interessierten ihn:

Welche Faktoren führen dazu, dass eine Person das tut, was eine andere möchte? Welcher Techniken bedienen sich Menschen, die jemanden willfährig machen wollen? Für unsere Überlegungen stellte Cialdini simpel folgende Frage: Wie kommt es, dass eine auf eine bestimmte Weise geäusserte Bitte abgelehnt wird, wenn das Begehren aber auf andere Weise gestellt wird, man diesem willig nachkommt? Cialdini nennt den geschickten Umgang mit den psychologischen Prinzipien der Beeinflussung auf das Verhalten anderer Menschen süffisant „weapons of influence“.

Cialdini betont, die Anwendung dieses Wissens ist mit hohen ethischen Einstellungen verbunden. Es ist legitim, andere Menschen von unserer Meinung zu überzeugen. Werden diese psychologischen Möglichkeiten als „Waffe“ gebraucht, handelt es sich   eindeutig um einen Missbrauchsmodus. Es werden bewusst natürliche Verhaltensmuster anderer Menschen ausgenutzt, um diese  ausbeuterischen Ziele zu erreichen. Besonders treten diese Mechanismen bei Machtmissbrauch auf.

Laut Cialdini verhelfen grundlegende sozialpsychologische Prinzipien zu einem entscheidenden Einfluss auf das menschliche Verhalten – verhelfen mit  verschiedenen Taktiken der Manipulation zum Erfolg. Die Grundlage dieses Prozesses bilden genetisch bedingte und durch Lebenserfahrung ausdifferenzierte Verhaltensmuster, die durch bestimmte Umweltreize automatisch aktiviert werden. Wir reagieren unbewusst und können diese Reaktionen kaum durchschauen und kontrollieren. Es sind biologische Verhaltensweisen, die aufgrund von Hinweisreizen ausgelöst werden. Meistens haben diese Reiz-Reaktionsmuster einen lebenserhaltenden Sinn. Werden diese Verhaltensmuster durch verbrecherische Absicht aktiviert,  reagieren wir darauf unbewusst, meistens mechanisch. Schon hängen wir am Haken und sind manipulierbar. Dabei handelt es sich beim Menschen um kognitive Muster, die es uns erleichtern, unsere Beziehungen effizienter zu gestalten. Es sind kulturell erworbene shortscuts (Urteilsheuristiken), die es uns erleichtern, Entscheidungen zu treffen.

Wenn ich in meiner Arbeit mit Missbrauchsopfern konfrontiert werde, begegne ich diesen mentalen Verhaltensregeln.

Der Täter begründet seine Bedürfnisse in einer Art, die Hinweisreizen gleichkommen und erwünschtes Verhalten auslösen: Kinder aus einem religiösen Elternhaus sind für die Täter (Geistlichen) ein leichtes Opfer. Der Täter findet für sein Verbrechen die Legitimation, als Priester der Stellvertreter Gottes zu sein.

Motto: Gott hat mir selbst den Auftrag gegeben, dies mit Dir zu machen. Widersetzt Du Dich, dann versündigst Du Dich und bist undankbar.

Dank des anerzogenen Glaubensschemas im Kopf, kommt das Opfer (Kind) nie auf die Idee, dass es sexuell missbraucht wird. Dank dieses Glaubenssatzes – der Priester hat immer Recht – kann der Konflikt durch Reduktion der kognitiven Dissonanz verdrängt werden.

Cialdini unterscheidet bei der Verhaltensantwort zwischen automatischer und kontrollierter Verhaltensantwort. Bei der einen Art reagieren wir unvermittelt unüberlegt, automatisch, bei der kontrollierten Verhaltensantwort sind wir in der Lage, uns argumentativ und kritisch mit den verlangten Verhaltensanforderungen auseinanderzusetzen.

Ein Kind ist zu einer solchen kognitiven Leistung noch nicht fähig, vielleicht erst später als Erwachsener. Deshalb erlebt das Opfer auch später negative psychische Folgeerscheinungen aufgrund von Erkenntnis.

Weiter sind solche Begehren immer noch mit Angst einflössenden flankierenden Massnahmen gekoppelt. Um Willfährigkeit zu erreichen, werden die Opfer mit lebensbedrohenden Konsequenzen konfrontiert: Wenn Du mir nicht gehorchst, dann kommst Du nicht in den Himmel.

Sämtliche verhaltensrelevante religiöse Interventionsmöglichkeiten werden angewandt, um das Ziel zu erreichen. Das anerzogene kindliche Verhaltensmuster funktioniert dann, wenn das Kind gehorcht, fühlt es sich automatisch im Recht und in Ordnung. Wenn es sich verweigert, muss das Kind sich schlecht und sündig fühlen. Das normale Verhalten wird durch ein solches Missbrauchserleben pervertiert. Bei diesen Missbrauchsvorgängen kommen Cialdinis Beeinflussungsprinzipien, seine „weapons of influence“ perfekt zur Geltung. Schauen wir uns mal den Missbrauchsprozess aus der Opferperspektive an:

  • Da sich der Priester so sehr um das Kind kümmert, steht es diesem gegenüber in der Schuld:- Ich kann nicht nur nehmen, sondern ich muss auch geben.- Wenn ich gläubig bin, dann darf ich nicht  zweifeln. Um der inneren Ordnung willen, mache ich alles, was von mir gewollt wird.- Ich habe mit dem Priester dermassen gute Erfahrungen gemacht, wieso sollte dies hier nicht zutreffen.- Ich habe den Priester doch so gerne, ich kann ihn jetzt nicht enttäuschen, ich mache es aus Liebe.

    – Der Priester als Stellvertreter Gottes ist eine absolute Autorität, die ich nie und nimmer in Frage stellen darf.

    – Ich bin auserwählt und habe beim Priester eine bevorzugte Position. Mache ich nicht mit, dann verliere ich alle meine Privilegien.

Diese Gedankenwelt kann der Täter bei Kindern durch geschicktes Manipulieren erzeugen. Er nutzt den naiven Glaubensfundus des Kindes für seine verbrecherischen Bedürfnisse schamlos aus. Dieses Manipulationsmuster kann auf alle Bereiche des Lebens übertragen werden: Politik, Wirtschaft, Beziehungen im Allgemeinen,  die Odenwaldschule.

Jahrzehnte später wird sich das frühere Kind als Erwachsener bewusst, was ihm angetan wurde. Nun stellt sich für uns die Frage, welche psychischen Folgen eine solche Missbrauchserfahrung beim Opfer hinterlässt. In erster Linie wird grundsätzlich das Vertrauen in andere Menschen fundamental erschüttert. Dem Opfer gelingt es nicht mehr, in Beziehungen Vertrauen aufzubauen. Misstrauen und Isolation sind die Folgen eines Missbrauchs. Dadurch werden ihm die emotionalen Grundlagen einer guten Beziehungsgestaltung genommen.

Vertrauen ist laut Niklas Luhmann ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“. Die  Erfahrung aus der Vergangenheit ermöglicht es einem, zukünftige Ereignisse zu antizipieren. Vertrauen ist quasi eine „riskante Vorleistung“ gegenüber Bezugspersonen. Mitmenschen werden durch Vertrauensbildung in der Beziehung berechenbarer, aber ein Restrisiko bleibt, enttäuscht zu werden. Wird Vertrauen durch Missbrauch zerstört, entsteht eine Misstrauenshaltung, die eigentlich die Kehrseite der Vertrauensmedaille ist.

Die negative Erfahrung bestimmt die zukünftige Beziehungsgestaltung des Opfers. Seine Chance, eine befriedigende Beziehung zu leben, wird kompromittiert.

Wir fragen: Haben all die Bemühungen und Entschuldigungen der Katholischen Kirche gefruchtet, das Misstrauen der Opfer zu verringern und unsere Zweifel zu zerstreuen? Ich denke nicht.

Bis jetzt habe ich bei den Vertretern der Kirche keine Bereitschaft gesehen, die den Missbrauch der kirchlichen Autorität hinterfragt.

Warum nicht?

Wenn die Kirche ihre Schuld bekennen würde, dann muss sie zwangsläufig ihre systemischen Strukturen in Frage stellen. Dann stehen  autoritäre, antidemokratische, bisweilen menschenverachtende Verhaltensweisen  der führenden Kirchenvertreter ebenfalls zur Disposition.

Weiter stellt sich die Frage, ob die Kirche deshalb die sexuellen Verfehlungen nicht nachhaltig verfolgte, weil die sexuellen Missbräuche sich von den üblichen Machtmissbräuchen der Kirche nicht wesentlich unterscheiden. Der sexuelle Missbrauch der Kirchenvertreter ist somit systemimmanent, er ist nicht etwas Aussergewöhnliches, sondern normal. Erst die öffentliche Diskussion entlarvte die eigentliche Perversion des Machtgebarens der Katholischen Kirche.

Die Opfer der Kirche können ihr Erleben nur verarbeiten, wenn sie lernen, verführerisches Verhalten generell zu durchschauen. Diese Fähigkeit hat dann mit allumfassendem Misstrauen nichts zu tun, sondern mit dem Umstand, das Gebot:

  • „Du sollst nicht merken“,

nicht mehr zu befolgen. Die Kirche kann in Zukunft ein derart flächendeckendes Missbrauchsverhalten nur eindämmen, wenn sie ihr Machtsystem grundsätzlich überdenkt.