Die Politik macht es sich mit der Aufhebung der Verjährungsfristen leicht

Offener Brief an:

Dr. Ursula von der Leyen, MdB
Platz der Republik 1
Jakob-Kaiser-Haus
 Raum: 5.442
11011 Berlin
E-Mail: ursula.vonderleyen@bundestag.de
Telefon: 030/227 – 71659
Fax: 030/227 – 76234

Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen,

Die Politik macht es sich mit der Aufhebung der Verjährungsfristen leicht. Entsprechende Anfragen und Argumente werden schnell von den einzelnen Politikern an das Ressort „Justiz“ weitergegeben und dann mit Rechtsdogmatik abgewiesen. Von ihren eigenen Meinungen enthalten sich die meisten Politiker.

So war es auch zu erwarten, dass Sie, Frau Dr. von der Leyen, die Anfrage eines Mitglieds von netzwerkB schlicht an das Ressort „Justiz“ abgeschoben haben. Schließlich zitiert eine Vertreterin von Ihnen eine andere Meinung, die aus dem Ressort „Justiz“ kommt. Die Argumente bleiben juristisch unterkühlt und in Betracht der spezifischen Verbrechen der sexualisierten Gewalt unzureichend. Zentrales Argument lautet:

„Auch bei Ansprüchen wegen sexuellen Missbrauchs kann aber nicht ganz auf die Verjährung verzichtet werden. Dies dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden. Es gibt nur ganz wenige Ansprüche die unverjährbar sind. Dabei handelt es sich immer um Ansprüche, die sich auch nach längerer Zeit noch sicher feststellen lassen. Schadensersatzansprüche wegen sexuellen Missbrauchs sind keine solchen Ansprüche. Bei ihnen sind – wie bei anderen Schadensersatzansprüchen – Entstehung und Umfang häufig umstritten und umso schwerer feststellbar, je länger die Verletzung und der Schaden zurückliegen. Es wäre lt. BMJ nicht sinnvoll, diese Ansprüche von der Verjährung auszunehmen, denn unverjährbare Ansprüche, deren Voraussetzungen regelmäßig nach längerer Zeit nicht mehr bewiesen werden können, nützen den Opfern nicht.“

Die anhaltende Rechtfertigung auf Grundlage von historischer Anerkennung von Verjährungsfristen (ein Verweis darauf, dass etwas schon immer getan wurde und deswegen auch so weiter getan werden könne) wie auch die systematische Rechtfertigung von Verjährungsfristen (wobei das System gleichwohl auch ein historisches Gefüge darstellt) dies ist die gewohnte politische Mauer auf die netzwerkB trifft.

In diesem gesonderten Fall aber schlägt uns wieder eine Position entgegen, wobei wir davon ausgingen, dass diese schon längst als ausgeräumt galt. In der Antwort heißt es doch, die Schadensersatzansprüche seien umstritten und dies sei ebenso wie bei anderen Schadensersatzansprüchen auch. Die Antwort ist schockierend. Glauben Sie, Frau Ministerin, tatsächlich was ihre Mitarbeiterin unkritisch aus dem Ressort „Justiz“ übernimmt? Sollten sie als ehemalige Ministerin für den Bereich „Familie“ hier nicht einen anderen Blick haben?

Zunächst aber kurz zu Ihrer Behauptung, es gäbe nach zu langer Zeit keine Beweise, denn dies muss auch kurz ausgeräumt werden: Es gibt Betroffene, die haben Beweise. Sie haben Zeugen, es liegen wie im Fall von Norbert Denef Geständnisse vor und Betroffene haben vor allem nach intensiver Traumabewältigung, was Jahrzehnte dauern kann, vor allem ein klares Bewusstsein über das, was schließlich vorgefallen ist. Diesen sprechen sie mit Verjährungsfristen das Recht ab, zu klagen, indem Sie pauschal urteilen, es wäre nicht beweisbar. Sollte aber diese Beweisfrage zur Prüfung nicht endlich den Gerichten vorgelegt werden? Wieso obliegt es eigentlich Politikern dies zu beurteilen?

Aber kommen wir zu dem eigentlichen Skandal, der Tatsache nämlich, dass Sie objektive Schadensersatzansprüche bestreiten. Wir von netzerkB wie auch viele Psychologen, Psychiater, aber vor allem auch die normal denkenden Menschen erachten nach Konfrontation mit den tiefgreifenden Verbrechen an der kindlichen Psyche die Zusammenhänge zwischen sexualisierter Gewalt und schweren psychischen Schäden für unbestreitbar. Wir von netzwerkB behaupten, würden Sie sich mit dem Leid von Betroffenen intensiv auseinandersetzen, dann würden Sie nicht eine derartige Antwort aus dem Ministerium für Justiz weiterleiten lassen.

Lassen Sie uns, um das Ganze zu verdeutlichen auf den netzwerkB-Artikel „Weil meine Seele am überlaufen ist“ verweisen. Die Autorin beschreibt ihr Leid deutlich. Sie schildert in kurzen aber prägnanten Auszügen wie ihr Alltag von verschiedenen Zwangshandlungen durchzogen war und schwerwiegende Körperreaktionen ihren Alltag deutlich negativ beeinflussten. Der Text spricht an dieser Stelle für sich selbst:

„Abends stellte ich mir den Wecker, so dass dieser stündlich klingelte, damit ich bloß nicht tief einschlief – warum ich das tat, wusste ich zu der Zeit nicht. Es war einfach eine unerträgliche Angst da, das Gefühl zu ersticken und verrückt zu werden. Nach mehreren Zusammenbrüchen, deutete mein Arzt an, ich sollte mich in eine Klinik für Traumata begeben. Sechs Monate war ich in der Hölle des Unerträglichen, zu schwach um zu leben und zu schwach um mich umzubringen. Immer wieder hatte ich entsetzliche Träume, es waren Fetzen, Bruchstücke von Bildern, Personen, die nicht klar zu erkennen waren. Dazu immer wieder Erstickungsanfälle, Herzstörungen,Vaginalblutungen und andere Körperteilschmerzen, die unerträglich waren.“

Was dem Betroffenen aus Angst und Scham nur undeutlich ins Bewusstsein gelangt, was in der Vergangenheit, in der Erinnerung unterdrückt wird, können Außenstehenden mit halbwegs Gefühl sehr schnell eindeutig nachvollziehen. Die Autorin beschreibt dies sehr genau. Wir hoffen Sie haben die Kraft und nehmen sich die Zeit dies weiter zu lesen:

„Während der 6 Monate in der Klinik, setzten sich Bruchstücke von Erinnerungen zusammen. Durch die Traumaarbeit kam letztendlich meine Kindheit zurück, die mein ganzes Leben zerstörte. Der Opa war der Täter, er war ein Sadist, ausgeprägter Machtbezogener Mensch. Früher war er tätig in einem KZ, als Aufseher, aus dieser Zeit legte er mir immer und immer wieder Fotos, die er gemacht hatte, vor. Zu sehen waren Mütter und ihre Kinder in Massengräbern oder wie sie gerade brutal und bestialisch misshandelt und vergewaltigt wurden. Dies war sein Schweigemittel, ich musste ruhig bleiben, sonst wäre meine Familie umgebracht worden. Noch heute habe ich diese Fotos in meinem Kopf, am Tag und nachts in meinen Träumen.“

Wir laden Sie gerne dazu ein, zu diskutieren, welch dramatischen Folgen und in welchem präzisen Ausmaße die spezifischen Druckmittel der Täter Ängste, Depressionen und Zwangshandlungen auslösten, aber dass hier ein mehr als deutlicher Zusammenhang besteht, der zu berechtigten Schadensersatzansprüchen führt, können Sie als ehemalige Ministerin für Familie doch nicht wirklich bestreiten?

Die Autorin schreibt noch eindringlicher:

„Dann kam der Nazi-Opa und grinste, er zog sich komische Hosen (heute weiß ich, es war eine Naziuniform) an, Lederstiefel und eine Uniformjacke an und fing an zu schwitzen (dieser Geruch ist noch heute präsent), sobald ein Mensch in meiner Gegend diesen Geruch hat, bekomme ich Panikattacken. Ich musste ihm zum WC folgen, er hob mich auf den Toilettendeckel und fasste mich an, befriedigte sich an meinem Anus, zwischen den Beinen und ich musste ihn oral befriedigen. Auch seine sadistische Ader lebte er an mir aus. Noch heute rieche ich diesen Kerl. Nach dem er fertig war, verlief immer die gleiche Abwicklung – Wasserhahn auf – Mund unendlich spülen – meine Genitalien wusch er mit Hingabe und dann musste ich mich ganz brav an den Esstisch setzen. Er ging in die Küche und zerstampfte Bananen zu Brei, diesen musste ich mit wiederwillen essen.“

Ich hoffe Ihnen wird klar, dass es sich bei den Betroffenen, die wir vertreten, um Menschen mit zerschlagener Kindheit handelt. Verbrechen dieser sexualisierten Gewalt haben eine Qualität, die sich so nicht mit anderen Verbrechen gleichsetzen lässt (nicht im Hinblick auf Schadensersatzansprüche, aber auch nicht im Vergleich zu dem tiefen Schaden, der daraus erfolgt). Der Machteinfluss des Täters und dies über Jahre hinweg lässt schließlich aufgrund der Vielzahl von Taten keine einzelne Tat kausal zu einer spezifischen Reaktion in Bezug setzen, so wie sie es mit ihren mageren Zitaten aus dem Justizministerium präsupponieren. Der kausal eindeutigen Erfassung sind hier durchaus Grenzen gesetzt, gerade weil es so viele verbrecherische Taten eben in einer Kindheit sind und wir es ebenso mit komplexen Traumata zu tun haben. Gleichwohl aber sieht doch jeder Mensch mit Vernunft und Gefühl sofort ein, dass hier ein kausaler Zusammenhang zwischen allen Taten und den komplexen Folgebelastungen besteht und dass hier die Schadensersatzansprüche nicht umstritten sein können, wie Sie in Ihrem Schreiben tatsächlich behaupten.

Wenn Sie nach solchen Schilderungen, von denen es mehr als hundertausende entsprechende Schicksale gibt, tatsächlich darauf bestehen, dass die Zusammenhänge für den Gesetzgeber nur schwer nachvollziehbar seien und so die Schadensersatzforderung umstritten ist, dann fallen sie eben auf jene Rechtsdogmatik herein, die den Tätern seit Jahren geholfen hat, derartige Gräuel ohne Strafe zu vollziehen. Wir empfehlen Ihnen daher dringend, sich mit dem Leid der Betroffenen auseinanderzusetzen. Gehen Sie in die Traumakliniken, reden Sie vor allem mit Betroffenen und machen Sie die Entscheidung der Verjährungsfristen zu einer Entscheidung, die nicht von Rechtsdogmatikern ohne Blick für die tatsächlichen Umstände abhängt oder Ihnen schlicht reingereicht wird. Als Politikerin haben Sie mit ihrem Gewissen eine andere Verpflichtung. Machen Sie die Frage der Verjährungsfristen als ehemalige Familienministerin und auch als Ministerin für Arbeit und Soziales zu einer Gewissensfrage.

Sehr geehrte Frau Dr. von der Leyen,

weil Verjährungsfristen für Betroffene von sexualisierter Gewalt ungerecht sind bin ich seit dem 8. Juni 2012 in einen unbefristeten HUNGERSTREIK getreten:

http://netzwerkb.org/2012/06/08/ich-bin-im-hungerstreik-2/

Hoffnungsvolle Grüße

Norbert Denef


Für Journalisten-Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Norbert Denef, Vorsitzender
Telefon: +49 (0)4503 892782
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