Eingeständnis für das Versagen des Rechtsstaats

Offener Brief:

an:

Unabhängiger Beauftragter für Fragen des
sexuellen Kindesmissbrauchs
Johannes-Wilhelm Rörig
Glinkastraße 24
10117 Berlin

Sehr geehrter Herr Rörig,

„Kaum etwas kann das Leben und die Entwicklung eines Menschen so schwer und umfassend belasten, wie sexuelle Gewalt in der Kindheit.“ Das sind Ihre Worte.

Sie haben Recht: Sexueller Kindesmissbrauch hat weitreichende neurologische, biologische, genetische, körperliche, psychische, soziale Folgen, die die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und Produktivität, die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Lebensqualität sowie Lebenserwartung der Opfer – und damit ihr gesamtes Leben – nachhaltig negativ beeinflussen. Sexueller Kindesmissbrauch ist als sequenzielles Trauma zu verstehen, das heißt, es ist mit dem Ende der Gewalttaten nicht beendet, sondern dauert lebenslänglich an. Sexueller Kindesmissbrauch verursacht dazu volkswirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe.

Aus diesen und weiteren gewichtigen Gründen lehnt netzwerkB Verjährungsfristen für sexuellen Kindesmissbrauch ab.

In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 19.10.2011 nimmt Prof. Dr. Bernhard Weiner, Polizeiakademie Niedersachsen, zu den Gesetzesentwürfen zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Kindesmissbrauch Stellung. Die diesen Gesetzesentwürfen gemeinsamen tragenden Gründe seien, dass „in Kinderjahren missbrauchte Verletzte und Opfer so massiv traumatisiert sein [können], dass sie als Erwachsene erst nach Jahrzehnten in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen und gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“.

Auf welcher Grundlage der Terminus „nach Jahrzehnten“ auf ein (Bundesrat, Grüne) bzw. maximal zwei Jahrzehnte (SPD) Erinnerungsfrist für erwachsene Opfer reduziert wird, bleibt unklar.

Vor dem Hintergrund der fehlenden empirischen Grundlage für die sichere Annahme, dass der überwiegende Großteil der erwachsenen Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch sich innerhalb von ein bzw. maximal zwei Jahrzehnten das Schweigen brechen kann, und der Tatsache, dass die erhebliche Verzögerung im Anzeigeverhalten der Opfer ihre Ursache gerade in den Gewalttaten hat, über deren Verfolgungsverjährung nun diskutiert wird, bedeuten Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch faktisch das Paradox, dass statt dem Täter das Opfer für die (Folgen der) Straftaten haftet.

Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch verbessern NICHT die Rechtsstellung von sexuell missbrauchten Kindern, schon gar nicht nachhaltig, sondern sie verbessern einseitig die Rechtsstellung von sexuell missbrauchenden Tätern.

Der britische Kronanwalt Geoffrey Robertson, Gründer und Leiter der größten britischen Kanzlei für Menschenrechte und Anwalt u.a. von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch, nennt die deutschen Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch „einen schwerwiegenden Makel des deutschen Rechts“. „Die europäischen Länder müssen ihre unsinnigen, dem Code Napoléon zu verdankenden Verjährungsfristen für die Strafverfolgung von Vergewaltigung und Missbrauch von Kindern abschaffen“, schreibt der Menschenrechtsanwalt. Es gebe „keinerlei Rechtfertigung für eine Verjährung von Verbrechen, die den Opfern eine derartige Scham einflößen, dass viele erst 20 oder 30 Jahre später darüber sprechen können.“ Das englische Common Law kenne keine solchen Fristen, so Robertson, und es gebe „erdrückende Beweise dafür, dass die zeitliche Beschränkung der Strafverfolgung in den französischsprachigen Ländern es Hunderten von Missbrauchstätern erlaubt hat, der Gerechtigkeit zu entgehen.“ (Quelle: „Angeklagt: Der Papst“, 2011, S. 319)

Hauptsächlich drei Argumente führt Weiner für die Legitimation von Verjährungsfristen bei Straftaten nach § 176 StGB an. Zum einen die „Verhältnismäßigkeit, wonach eine drohende Rechtsfolge, die sich als Eingriff in Freiheits- oder Vermögensrechte realisiert, unverhältnismäßig erscheint“.

Hierzu stellt netzwerkB fest: Es ist nicht nachvollziehbar, was an einer drohenden Rechtsfolge, die sich als Eingriff in die Freiheits- oder Vermögensrechte des Täters realisiert, nach einer willkürlich definierten Frist „unverhältnismäßig“ sein soll, wenn demgegenüber die gezielt, wiederholt und systematisch durchgeführten Eingriffe der Täter in die Freiheits- oder Vermögensrechte ihrer Opfer unbefristet ihre massiv schädigende Wirkung entfalten.

Der Bezugsrahmen, wonach eine drohende Rechtsfolge auf gezielt, wiederholt und systematisch durchgeführten Straftaten gegen Kinder unter Einbezug der schweren, lebenslänglichen Schädigungsfolgen ab einem gewissen Zeitpunkt als „unverhältnismäßig erscheint“, muss klar als einseitig täterorientiert identifiziert werden.

Weiner argumentiert weiter mit dem „Rechtsfrieden und damit im Ergebnis der Rechtssicherheit. Es soll ein Schlussstrich gezogen werden“. Dieser Schlussstrich, der mit Eintritt der Verjährung unter den Fall gezogen werde, enthält laut Weiner die „Fiktion einer Aussöhnung des Täters mit der Gesellschaft, die ihm von nun an seine Verfehlung nicht mehr vorhalten will“.

Hierzu fragt netzwerkB: Wessen Rechtsfrieden und wessen Rechtssicherheit ist gemeint?

Weiner befürwortet Verfolgungsverjährung, damit ein „Schlussstrich gezogen werden“ kann. Doch nur für den Täter und ggfs. die Gesellschaft besteht überhaupt die Option eines „Schlussstrichs“. Für die Opfer gibt es diese Option nicht. Insofern muss das Argument vom „Schlussstrich“, der durch die Verfolgungsverjährung möglich werden soll, ebenfalls als hauptsächlich täterorientiert bezeichnet werden.

Der „Rechtsfrieden“, von dem Weiner hier spricht, sieht also die Opfer nicht vor. Das muss nicht verwundern, da Rechtsfrieden auch herrschen kann, wenn sich die Rechtsgemeinschaft mit zurückliegenden Rechtsverletzungen abgefunden hat, was bislang in Fällen des sexuellen Kindesmissbrauchs faktisch der Fall ist. Die Rechtgemeinschaft findet sich seit Jahrzehnten mit den Sexualstraftaten durch Väter, Großväter, Stiefväter, durch Priester, Lehrer, Betreuer an Kindern faktisch ab; die wenigsten von ihnen wurden jemals für ihre massenhaften Rechtsverletzungen (10 Millionen Betroffene in Deutschland, laut Häuser-Studie) zur Verantwortung gezogen. Daher besteht weder in der Rechtsgemeinschaft noch bei einzelnen „Sachverständigen“ wie Prof. Weiner ein Bewusstsein für das verletzte Rechtsgut (Opfer), bzw. die Dimension der Rechtsverletzungen. Nur so ist erklärlich, warum die „Fiktion einer Aussöhnung des Täters mit der Gesellschaft“ nach (noch) überwiegender Meinung Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schaffen soll.

„Bei schuldhaften, gar gezielten Übergriffen in wichtige fremde Interessen und Güter entsteht immer ein komplexer und schwerwiegender Konflikt zwischen den Beteiligten. Es geht dabei nicht nur um den handhaften Schaden an zerstörten Sachen (…). Es geht auch um den normativen Schaden an dem fremden Recht, das missachtet, geleugnet oder vernichtet worden ist. Dieses fremde Recht ist, anders als die zerstörten Sachen, nicht nur das Recht des Verletzten, sondern es ist zugleich das Recht aller, die zusammenleben. Nicht bestohlen, betrogen oder vergewaltigt zu werden, ist normativer Standard, ist nicht nur Einzelinteresse. Also beglaubigt sich in der Verteidigung des verletzten Einzelinteresses auch das allgemeine, das „öffentliche“ Recht, ja es beglaubigt sich die Zusammengehörigkeit aller, die von dem verletzten Recht nicht lassen wollen, auch und gerade dann, wenn und weil es verletzt worden ist; die kontrafaktisch an ihm und all den rechten festhalten, die für sie unverzichtbar sind: die ihre Rechtskultur ausmachen. Und also ist die Antwort auf die Verletzung nur dann angemessen, wenn sie mehr in sich enthält als das subjektive Interesse des Verletzten: wenn sie eine Antwort aller ist und deshalb die Botschaft enthält, dass das verletzte Recht nicht aufgegeben, sondern an ihm festgehalten wird“, so Dr. jur. Winfried Hassemer, Professor für Strafrecht an der Universität Frankfurt und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. (Quelle: „Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, Beck 2002, S. 17, Hervorhebung d.d.A.)

Die Sexualstraftäter gegen Kinder verletzen bewusst, gezielt, wiederholt und systematisch das Recht aller, die zusammenleben, ergo der Gesellschaft. Der Verzicht auf drohende Rechtsfolgen durch Verfolgungsverjährung, noch dazu unter Berücksichtigung der Tatsache, dass viele dieser Straftaten aufgrund ihrer traumatisierenden Wirkung nicht rechtzeitig zur Anzeige kommen können, stellt keinen „Rechtsfrieden“ her, sondern beschädigt im Gegenteil die Rechtskultur der Gesellschaft und damit den Rechtsstaat.

Als drittes Argument für Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch führt Weiner den „Schwund der Beweismöglichkeit“ an, um es gleich selbst wieder zu entkräften: „Ein Geständnis des Täters ist bei jeder Straftat auch nach langer Zeit noch möglich“, argumentiert Weiner zu Recht. Als zentralen Punkt in so genannten „Aussage gegen Aussage-Konstellationen“ stellt Weiner die „als glaubhaft beurteilte Aussage des Opfers“ in den Mittelpunkt: „Es macht im Regelfall keinen Unterschied, ob in derartigen Fällen [Sexualstraftaten] eine Tat 5, 10 oder 20 Jahre zurückliegt, da es entscheidend auf die Qualität der Aussage des Opfers ankommt.“ Eine „qualitativ gute Aussage“ ist seiner Ansicht nach „gerade bei traumatisierenden Ereignissen auch nach Jahrzehnten aussagepsychologisch grundsätzlich erwartbar“.

Verweis auf Opferentschädigungsgesetz ist Opfer verhöhnend

Dass die meisten Straftaten nach § 176 StGB allerdings überhaupt nie zur Anzeige kommen und daher strafrechtlich nicht verfolgt werden, ist Weiner durchaus bewusst: Unter III/4 b weist er auf das Opferentschädigungsgesetz als „dritte tragende Säule des Opferschutzes“ hin.

Tausende Sexualstraftäter begehen in Deutschland gezielt, wiederholt und systematisch über Jahre hinweg Straftaten. Bei der Aufdeckung bzw. Verfolgung dieser schweren Straftaten gegen den Rechtsstaat (!) setzt dieser Rechtsstaat hauptsächlich auf die Anzeige der Opfer, die aber aufgrund ihres Alters und der schweren Gewaltfolgen daran gehindert sind. Zumindest für lange Zeit. Mittels einer willkürlich festgelegten, bewusst die verzögernden Traumafolgen sowie den Charakter der Traumatisierung durch sexuellen Kindesmissbrauch (sequenzielle Traumatisierung) vernachlässigenden Verjährungsfrist wird der Großteil dieser Straftäter daher nie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Diese Tatsache akzeptiert Weiner stillschweigend, wenn er Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch statt eines wirksamen Strafrechts ein Opferentschädigungsgesetz (OEG) anbietet. Dieses Angebot grenzt an Verhöhnung. Es ist zudem ein Eingeständnis für das Versagen des Rechtsstaats, bzw. der Strafjustiz.

Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch haben ein Recht darauf, dass dieser Rechtsstaat das ihnen im Rechtssinne angetane Unrecht ahndet und für einen Ausgleich im normativen Sinne sorgt. Es geht um Rechtsansprüche, nicht um Entschädigungsansprüche (die sich selbstverständlich in der Folge der Feststellung der Rechtsverletzungen, bzw. Verletzungen Freiheits- oder Vermögensrechte der Opfer ergeben).

Das Opfer hat „ein lebendiges Bedürfnis danach, dass das Strafrecht im Prozess der Zuordnung die Rollen von Verletzer und Verletztem richtig markiert und verteilt, dass öffentlich und mit der Feierlichkeit des Strafrechts festgestellt wird, dass der Schaden, den das Opfer erlitten hat, nicht auf Zufall beruht, sondern auf kriminellem und auch verschuldetem Unrecht“, so Dr. phil. Jan-Philipp Reemtsma, Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Es sei „umso wichtiger, dass das Strafrecht und das Strafverfahren dasjenige vorbehaltlos und vollständig erfüllen, was in ihrer Macht steht: klarzustellen, auf wessen Seite das Recht und auf wessen Seite das Unrecht ist“. (Quelle: „Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, Beck 2002, S. 161ff, Hervorhebung d.d.A.)

Weiner begründet seinen Verweis auf das OEG weiter: „Die in diesem Rahmen wesentliche Besonderheit besteht darin, dass das Opferentschädigungsrecht keine Verjährung kennt“. Diese gesetzliche Möglichkeit biete „vielen Opfern die Chance, auch nach Eintritt der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Verfolgungsverjährung staatlicherseits die Anerkennung zu erhalten, dass ihnen Unrecht im Rechtssinne angetan wurde“.

Hierzu stellt netzwerkB fest:

1. Laut einer Studie der Hochschule Fulda im Jahr 2011 zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) und der Verfahrenspraxis in der Opferentschädigung erhalten lediglich zirka 1 – 2 von 100 polizeilich registrierten Opfern eine soziale Entschädigung. Rentenansprüche bestehen in weniger als einem Drittel der bewilligten Anträge. Laut der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ haben im Jahr 2008 nur 10,5 Prozent der Anspruchsberechtigten einen Antrag nach dem OEG gestellt. Nur wenige Betroffene erhielten eine spürbare Hilfe bei der Bewältigung körperlicher, seelischer oder wirtschaftlicher Tatfolgen. Bemängelt werden vom „Weißen Ring“ zudem die zu enge Fassung des Gesetzes und die oft äußerst restriktive Anwendung durch die Versorgungsverwaltungen der Länder.

Von „vielen“ Opfern, die eine Chance im Opferentschädigungsgesetz hätten, zu schreiben, ist also mehr als zynisch und entspricht nicht der Realität.

2. Wie oben bereits erwähnt, ist es eine rechtsstaatliche Bankrotterklärung, den Anspruch der Opfer auf die Feststellung, dass ihnen (und der Gesellschaft) Unrecht im Rechtssinne angetan wurde, auf das Opferentschädigungsgesetz zu verweisen. Noch Opfer verhöhnender ist der Fakt, dass Weiner die Chance auf staatliche Anerkennung des ihnen im Rechtssinne angetanen Unrechts mit der nicht vorhandenen Verfolgungsverjährung im OEG verknüpft, während er damit gleichzeitig die Legitimität der strafrechtliche Verfolgungsverjährung bei sexuellem Kindesmissbrauch begründet.

3. Gerade die Tatsache, dass das Opferentschädigungsgesetz keine Verjährung kennt, zeigt, dass es im Falle des sexuellen Kindesmissbrauchs ohne Verfolgungsverjährung geht. Weiner verweist in seiner Stellungnahme darauf, dass die staatlichen Verfolgungsbehörde der Amtsermittlungspflicht unterliegt und somit „in Fällen, die ansonsten längst verjährt sind, faktisch wegen einer Straftat ‚ermittelt‘“, schreibt Weiner.

Den Versorgungsbehörden ist es also auferlegt, selbst nach Jahrzehnten die Tatenumstände und die damit einhergehenden Schädigungen des Opfers festzustellen. Im Falle der Gewährung von Leistungen (sprich: Anerkennung der Gewalttaten und ihrer Folgen) sind sie gehalten, die übergegangenen Ersatzansprüche gegen den Täter geltend zu machen. Dies erfolgt dann im Zivilrechtsweg. Dann muss, so Weiner, das Opfer „in einem staatlichen Gerichtsverfahren, welches vom Staat gegen den Täter geführt wird, als Zeuge zur Verfügung stehen“.

Das heißt, im OEG gibt es keinen „Schlussstrich“, weder für den Täter, noch die Gesellschaft (für das Opfer gibt es ihn – wie bereits ausgeführt – sowieso nicht). Wenn der Staat seine Auslagen wiederbeschaffen will, interessiert ihn der so genannte „Rechtsfrieden“, also die „Aussöhnung des Täters mit der Gesellschaft“ überhaupt nicht. Stellt sich also die Frage, warum das monetäre Interesse des Staates den Ausschluss einer Verfolgungsverjährung legitimiert, während das Rechtsgut „Mensch (Opfer)“ dies offensichtlich nicht tun soll?

Hier zeigt im Übrigen der Argumentationsstrang Weiners erhebliche Inkonsistenz: Einerseits stellt er die Tatsache, dass das OEG keine Verjährung kennt, als gesetzliche Möglichkeit dar, dass „viele Opfer“ die Anerkennung erhalten, „dass ihnen Unrecht im Rechtssinne angetan“ worden sei. Gleichzeitig kritisiert er in diesem Zusammenhang, dass der „grundsätzlich erstrebenswerte Schlussstrich“ und der Rechtsfrieden nach gegenwärtiger Rechtslage (gemeint ist die Nichtverjährbarkeit im OEG) nicht erreicht würde. Er schließt diese Ausführungen dann mit der verwirrenden Feststellung, dass „Die Schaffung eines einheitlichen Verjährungstatbestandes insoweit weitgehend Kohärenz [schafft], und im Ergebnis auch zu mehr Opfergerechtigkeit [führt]“.

Es kann jetzt nur gerätselt werden, was genau Weiner hier vorschlägt: Plädiert er für die Vereinheitlichung eines Verjährungstatbestands, also auch hinsichtlich des OEG, um den „grundsätzlich erstrebenswerten Schlussstrich“ für die Täter und die Gesellschaft zu erreichen? Was daran wäre aber dann „im Ergebnis auch mehr Opfergerechtigkeit“, wo er doch selbst die Tatsache der Nichtverjährung im OEG als Ausweg für das Dilemma der verzögerten Erinnerung der Opfer und als Argument für die Legitimität von strafrechtlichen Verjährungsfristen vorbringt?

Diese erhebliche Inkonsistenz in Weiners Argumentation ist in der weiteren Verarbeitung seiner Stellungnahme unbedingt zu beachten.

Aktuell bleibt auch Weiner dabei, eine willkürlich auf maximal 20 Jahre festgelegte strafrechtliche Verjährungsfrist bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs zu befürworten.

Vor dem Hintergrund, dass es sich bei sexuellem Kindesmissbrauch um schwerste Menschenrechtsverletzungen handelt und es keinerlei empirische Grundlage gibt, die nachweist, dass sich der überwiegende Großteil der erwachsenen Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch bis zum Alter von 38 Jahren erinnert, bzw. es eher belastbare Hinweise gibt, dass dies nicht der Fall ist und deutlich später erfolgt, muss die Festlegung eines willkürlichen Zeitrahmens zur Verfolgungsverjährung bei sexuellem Kindesmissbrauch – egal welchen Umfangs – abgelehnt werden.

Unter IV. Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften empfiehlt Weiner insgesamt die angestrebte Vereinheitlichung der Verjährungsfristen (Straf- und Zivilrecht) und nennt sie „der Opfergerechtigkeit dienende Rechtsinstitute“, die damit „kohärenter ausgestaltet“ würden.

Für „nicht empfehlenswert“ hält er allerdings eine neue oder erweiterte Ausnahme der Hemmungsregelungen wie sie der Gesetzesvorschlag der Fraktion der Grünen vorsieht (Hemmung bis zum 25. Lebensjahr, BT Drs. 17/5774). Weiner begründet seine Ablehnung damit, dass durch die Beibehaltung der bisherigen Hemmungsregelung „aufwendige Gerichtsverfahren“ vermieden würden, da „wichtige Hemmungstatbestände im Einzelfall kompliziert zu berechnen“ seien und „neue unnötige Beweisprobleme“ schaffen würden.

Wieso „wichtige Hemmungstatbestände“ bis zum Alter von 18, bzw. 21 Jahren einfach, im Alter von 25 Jahren aber „kompliziert“ zu berechnen sein sollen, erschließt sich nicht. Ebensowenig, warum durch eine erweiterte Hemmungsregelung „neue unnötige Beweisprobleme“ geschaffen würden.

Deutlich wird allerdings, dass es Weiner in seinem Plädoyer für Verjährungsfristen bei sexuellem Kindesmissbrauch neben dem „Schlussstrich“ für Täter und Gesellschaft vorrangig um die Justiz geht, für die ansonsten die Verfahren zu „aufwendig“ würden. Diese klar nicht am Interesse der Opfer orientierte „kohärentere Ausgestaltung“ der Verfolgungsverjährung nennt Weiner dann „der Opfergerechtigkeit dienende Rechtsinstitute“.

Ebenfalls unklar bleibt, welche „kohärentere Ausgestaltung“ der Verfolgungsverjährung Weiner meint: Er selbst befürwortet (s.o.) bei sexuellem Kindesmissbrauch im Strafrecht eine Verjährungsfrist von 20 Jahren, im Zivilrecht dagegen empfiehlt er eine 30-jährige Verjährungsfrist.

Die Hemmung der Verjährung aus familiären und ähnlichen Gründen (§ 207 BGB) soll bei Schadensersatzansprüchen (Zivilrecht) wie bisher beibehalten werden, das heißt, die Verjährung von zivilrechtlichen Ansprüchen ist bis zum 21. Lebensjahr des Opfers gehemmt.

Gleichzeitig sieht die BT-Drs. 17/6261 (Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)) allerdings vor, § 208 BGB aufzuheben. Darin ist bislang festgelegt, dass die zivilrechtliche Verjährung über das 21. Lebensjahr hinaus gehemmt ist, solange das Opfer mit dem Täter noch in häuslicher Gemeinschaft lebt. Das heißt, das (geplante) „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“ (der Bundesregierung!) schafft eine Regelung, die faktisch eine Stärkung der Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs IST, ab. Weiner plädiert hier daher für die Beibehaltung des § 208 BGB (nennt es aber fälschlicherweise § 208 StGB; dort geht es allerdings nicht um eine Hemmungsregelung und Weiner bezieht sich auf eine solche).

Weiner schließt seine Stellungnahme mit folgenden Worten:

„Dass die Verlängerung der Verjährung zu einer verstärkten Geltendmachung von berechtigten und unberechtigten Schadensersatzansprüchen führen wird, ist für mich nicht erkennbar. Die Opfer tragen nicht nur die Darlegungs-, sondern auch die Beweislast und damit auch das Kostenrisiko. In der überwiegenden Anzahl der relevanten Fälle geht es den verletzten Opfern nicht um die Erlangung von Geldzahlen, sondern im Regelfall um die staatliche Anerkennung, dass ihnen Unrecht geschehen ist.“

Weiner führt in diesen aufschlussreichen Worten nochmals vor, welcher Blick auf die Opfer bzw. ihre Situation aktuell vorherrschend ist: Die größte Sorge ist nicht, wie den Opfern gerecht zu werden ist. Die größte Sorge ist eine Welle von geltend gemachten Ansprüchen. Diese gilt es zu verhindern – indem man den Opfern u.a. die Beweislast und das Kostenrisiko aufbürdet. Wohlgemerkt: für immense neurologische, biologische, genetische, körperliche, psychische, soziale Schädigungsfolgen aus strafrechtlich (überwiegend) nie geahndeten Straftaten.

Opfer werden in diesem Diskurs nur als Kostenverursacher und Verfahrensverkomplizierer wahrgenommen, die das Ziel „Ermöglichung eines Schlussstrichs“ und Kostenvermeidung stören. Die tatsächlichen Kostenverursacher von volkswirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe, nämlich die Täter, werden dagegen mit einer kurzen Verjährungsfrist vor drohenden Rechtsfolgen geschützt.

Zuletzt widerspricht sich Weiner bezüglich seines Verweises der Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch auf das Opferentschädigungsgesetz als „dritte tragende Säule des Opferschutzes“ sogar selbst, wenn er (richtigerweise) festhält, dass es „in der überwiegenden Anzahl der relevanten Fälle den verletzten Opfern nicht um die Erlangung von Geldzahlen [geht], sondern im Regelfall um die staatliche Anerkennung, dass ihnen Unrecht geschehen ist.“

Das heißt: Im Falle der Verjährungsfristen im Strafrecht argumentiert Weiner also mit dem Verweis der Opfer auf die materielle Entschädigung (Opferentschädigungsgesetz), während er umgekehrt im Zivilrecht auf die „staatliche Anerkennung, dass ihnen Unrecht geschehen ist“ abhebt. Wenn das nicht erhebliche Flexibilität genannt werden kann!

Schlusswort:

Es ist an der Zeit, dass sich Deutschland der Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch ernsthaft annimmt und ihnen hilft, zu ihrem Recht zu kommen. Dies sollte dieser Rechtsstaat nicht nur aus menschenrechtlichen, humanistischen und moralischen Gründen tun, sondern in seinem eigenen Interesse. Sie als Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs sollten sich ausdrücklich für die Verbesserung der Situation der Betroffenen einsetzen. Dazu gehört auch eine klare Positionierung gegen jegliche Verfolgungsverjährung bei sexuellem Kindesmissbrauch.

Unterstützt werden Sie dabei vom internationalen Menschenrechtsanwalt Geoffrey Robertson, der dringend mahnt: „Deutschland muss Kindesmissbrauch ernst nehmen, ob er von Priestern verübt wird oder von anderen Personengruppen. Da wir heute wissen, dass es sich hier um Verbrechen handelt, das die Opfer häufig erst lange nach dem Missbrauch zur Anzeige bringen, sollte der deutsche Gesetzgeber dringend handeln, um sämtliche Verjährungsfristen für die Verfolgung dieses Verbrechens abzuschaffen – Verjährungsfristen, die so vielen Missbrauchstätern ein Entkommen ermöglicht haben.“

Wir bitten Sie um Ihre Stellungnahme.

Mit freundlichen Grüßen

Norbert Denef

 

Anhang

1. Lebenslängliche Folgen von sexuellem Kindesmissbrauch

„Die Merkmale der traumatischen Situationen bestimmen das Erkrankungsrisiko erheblich. Besonders die Faktoren Lebensalter bei Beginn der Traumatisierung, Dauer der Exposition, interpersonelle Gewalterfahrungen im Gegensatz zu Katastrophen und Schicksalsschlägen, die Art der Beziehung zum Täter sowie die resultierenden körperlichen Schäden sind von entscheidender Bedeutung.“ (Quelle: Michelskliniken Münster, Magazin der Michelskliniken, Ausgabe 03, November 2008)

„Viele Opfer sexueller Gewalt durchleben einen Stress, den Fachleute mit den Belastungen der Opfer von Geiselnahmen oder der Überlebenden von Konzentrationslagern vergleichen. Der traumatische Stress schlägt eine seelische Wunde, die oftmals über Jahre offen bleibt. Schlafstörungen, Albträume, Depressionen, Ängste, Panikattacken und aggressives Verhalten bis hin zu Selbstverletzungen, zermürbenden Erinnerungen, immer wiederkehrenden Suizidgedanken und Essstörungen (…). Viele der Betroffenen haben Schwierigkeiten, sich überhaupt auf Beziehungen einzulassen. Studien weisen zudem darauf hin, dass frühkindliche Traumatisierungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, sozial zu scheitern, nicht in der Lage zu sein zu arbeiten. Auch das Risiko von Alkohol- oder Drogensucht steigt beträchtlich.“ (Quelle: Dr. Andreas Krüger, Kinder- und Jugendpsychiater am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Interview in Stern.de, 9. November 2008)

„Gewalt gegen Kinder belastet die Opfer nicht nur psychisch, sondern erhöht auch das Risiko, später körperlich zu erkranken: Wer im frühen Leben misshandelt oder sexuell missbraucht wird, ist Studien zufolge im Erwachsenenalter anfälliger für eine chronische Schmerzstörung, koronare Herzkrankheit (KHK) oder einen Diabetes Typ 2. (Quelle: Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vom 23. bis 26.03.2011 in Essen)

„Wissenschaftler vom interdisziplinären Otto-Creutzfeldt-Zentrum für kognitive und Verhaltensneurowissenschaften der Universität Münster haben erstmals gezielt die Langzeitfolgen von Misshandlungserlebnissen mittels Magnetresonanz-Tomografie (MRT) untersucht. Die Daten zeigen, dass die Folgen von Gewalterfahrungen im Kindesalter noch Jahrzehnte später in den Gehirnen der Betroffenen nachweisbar sind.“ (Quelle: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 09.12.2011)

„Menschen, die als Kind misshandelt oder missbraucht wurden haben als Erwachsene ein höheres Risiko, an chronischen Erkrankungen und Tumoren zu leiden. Denn das Erbgut wird durch die Gewalt massiv geschädigt, wie Forscher berichten. Das Erbgut misshandelter Kinder weist Schäden auf, die sich Jahre später auswirken können.“ (Quelle: n-tv.de, dpa, 29.04.2012)

„Traumatische Erfahrungen in der Kindheit gehen buchstäblich unter die Haut: Die Enden der Chromosomen in Körperzellen verkürzen sich sehr viel rascher, wenn Kinder Mobbing, Misshandlungen oder häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Der Effekt ist schon im Alter zwischen fünf und zehn Jahren nachweisbar, haben britische und US-amerikanische Forscher jetzt entdeckt. Die Chromosomen-Enden, auch Telomere genannt, zeigen das biologische Alter an. Kurze Telomere werden mit einer erhöhten Anfälligkeit für verschiedene Krankheiten, einem frühen Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit und einer geringeren Lebenserwartung in Verbindung gebracht.“ (Quelle: dapd/SPIEGEL Online, 24.04.2012)

„Bei PTSD-Patienten mit unterschiedlicher Traumatisierung (Kriegserfahrung, sexueller Missbrauch in der Kindheit etc.) wurde im Vergleich zu Gesunden und anderen psychiatrischen Patienten ein erhöhter CRF-Spiegel in der Zerebrospinalflüssigkeit, eine verringerte ACTH-Freisetzung, eine erhöhte Anzahl von Glucocorticoid-Rezeptoren auf Lymphozyten und eine reduzierte Cortisol-Freisetzung nach Stimulation durch CRF nachgewiesen (Yehuda et al.,1993, Bremmer et al., 2000, Sapolsky, 2000). Yohimbin, ein alpha-2-Rezeptorantagonist, der eine verstärkte Freisetzung von Katecholaminen hervorruft, löst bei PTSD-Patienten Panikattacken und Flashbacks aus, jedoch nicht bei Gesunden. (…) Am schwersten verarbeitbar sind Erfahrungen der eigenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins immer dann, wenn das Trauma durch andere Menschen ausgelöst wird und wenn das Opfer sich zudem emotional mit diesen Menschen verbunden fühlt (z.B. Missbrauch oder Vergewaltigung durch Angehörige), wenn psychosoziale Unterstützung fehlt (Isolation), wenn die bisherige Sinngebung der eigenen Lebensgestaltung zerstört wird (Glaube, Liebe, Hoffnung) und wenn mehrere traumatische Erfahrungen aufeinander folgen (multiple Traumatisierung).“ (Quelle: Dr. Gerald Hüther, Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen, 2002)

„Insbesondere frühe Gewalt in der Kindheit und kumulierte Gewalterfahrungen im Lebensverlauf können den psychischen und physischen Gesundheitszustand nachhaltig prägen. Unmittelbare Auswirkungen resultieren zunächst aus den akuten Verletzungsfolgen sowie aus den direkten psychischen und psychosozialen Folgeproblemen von Gewalt, die z.B. Angst- und Bedrohungsgefühle, psychischen Stress, Leistungs- und Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhten Alkohol- und Medikamentenkonsum umfassen. Darüber hinaus sind in der Forschung somatische, psychosomatische und psychische Symptomatiken als mittel- und langfristige Gesundheitsfolgen körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt beschrieben. (…) Internationale Forschungsergebnisse verweisen auf Verbindungen zwischen Gewalterfahrungen in der Kindheit und im Erwachsenenleben mit verschiedenen Schmerzsyndromen, gastrointestinalen Symptomen, Herz-Kreislaufbeschwerden, gynäkologischen und zerebralen Beschwerden sowie Hauterkrankungen.“ (Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Robert-Koch-Institut/Statistisches Bundesamt, Heft 42, 2008)

„Psychischer Stress wirkt sich negativ auf unsere Gesundheit aus und verstärkt oder induziert zahlreiche Erkrankungen. Dass dies auch auf die Alzheimer-Krankheit zutrifft, zeigen Untersuchungen des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Im Tiermodell der Ratte konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass chronischer Stress die molekularen Prozesse in Gang setzt, die sowohl zur Bildung des neurotoxisch wirkenden Beta-Amyloid-Proteins als auch zur Phosphorylierung des Tau-Proteins führen. Beide Prozesse stehen am Anfang der Alzheimer-Erkrankung und sind Ausgangspunkt für die pathologischen Prozesse, die die Zerstörung von Nervenverbindungen und schließlich das Absterben der Nervenzellen verursachen. Die Folgen sind kognitive Einbußen und Gedächtnisverlust für die Betroffenen.“ (Max-Planck-Institut für Psychiatrie, 25.05.2011)

2. „Verzögertes Erinnern“:

„Trauma [ist] als eine plötzlich auftretende Störung der inneren Struktur und Organisation des Gehirns [zu] beschreiben, die so massiv ist, dass es in Folge dieser Störung zu nachhaltigen Veränderungen der von einer Person bis zu diesem Zeitpunkt entwickelten neuronalen Verschaltungen und der von diesen Verschaltungen gesteuerten Leistungen des Gehirns kommt. Eine solche Traumatisierung kann durch physische oder psychische (psychosoziale) Einwirkungen ausgelöst werden. Im Fall einer psychischen Traumatisierung wird die Störung durch eine überstarke Aktivierung stress-sensitiver, kortiko-limbischer Netzwerke und hypothalamischer neuroendokriner Regelkreise ausgelöst, (…). Damit fehlen die Voraussetzungen für eine zielgerichtete und bewusste Steuerung von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und Entscheidungsprozessen in der Auseinandersetzung mit der äußeren (und vielfach auch inneren, körperlichen und seelischen) Welt. Die weitere Hirnentwicklung kann unter diesen Umständen nur noch entsprechend (nutzungsbedingt) desorganisiert verlaufen. (Quelle: Dr. Gerald Hüther, Psychiatrische Klinik der Universität Göttingen, 2002)

„Neurobiologische Trauma-Reaktion: Ein Ereignis, das die normale Stresstoleranz eines Menschen übersteigt, löst in seinem Gehirn einen automatischen Fragmentierungsprozess der Wahrnehmung aus. Das Geschehen wird nicht mehr ganz wahrgenommen. In diesem Moment werden die normalen und gewohnten Selbststeuerungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen reduziert. Dieser Prozess ist nicht beeinflussbar. (…) Das Cortisol kappt sozusagen die Leitung zum Hippocampus und damit auch zum Sprachzentrum, weshalb der Betroffene ein Ereignis nicht mehr beschreiben kann. Es fehlen ihm die Worte, es fehlt ihm die Sprache, und einem Ereignis kann keine Bedeutung mehr zugeordnet werden.“
(Quelle: Kraemer, Horst: „Trauma-Bewältigung“, Verlag Orell Füssli 2005)

„Während der traumatischen Situation ist eine geordnete Verarbeitung der Erlebnisse aufgrund der emotionalen Überflutung psychisch nicht möglich. Die Psyche regrediert auf ein basales Funktionsniveau, um das Überleben zu sichern. Die bewusste Wahrnehmung wird selektiv teilweise abgeschaltet, wodurch sich das Belastungsempfinden (z. B. extreme Schmerzen oder massive Todesangst) verringert. Die Wahrnehmung erfolgt bruchstückhaft: Zeit, Orte, Räume und Bewegungen werden verzerrt, das Selbst wird entfremdet erlebt. Eine Extremform dieser Wahrnehmungsveränderung stellt eine völlige peritraumatische Amnesie (Verlust der Erinnerung an die Geschehnisse) dar.“ (Quelle: Michelskliniken Münster, Magazin der Michelskliniken, Ausgabe 03, November 2008)

„Die eingeschränkte Fähigkeit zur aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt, die auch nach einem einmaligen Trauma häufig auftritt, ist bei chronisch Traumatisierten besonders auffallend. Sie werden oft als passiv oder hilflos beschrieben. (…) Für einen chronisch Traumatisierten ist jede Handlung potentiell gefährlich.“ (Judith Herman, 2003, S. 122)

3. Sequenzielle Traumatisierung

Eine traumatische Erfahrung muss immer als lebensgeschichtlicher Prozess verstanden werden. Ein psychisches Trauma ist nicht etwas, das mit dem traumatischen Ereignis beendet ist, sondern ein prozesshafter Vorgang, der sich über das traumatische Ereignis hinaus erstreckt.

Hans Keilson prägte 1979 die Sichtweise, „Trauma“ nicht länger als ein einzelnes Ereignis, sondern als Abfolge traumatischer Sequenzen unterschiedlichen Charakters und unterschiedlicher Bedeutung zu interpretieren. Dabei ist für die individuellen Folgen nicht nur entscheidend, was initial erlebt wurde, sondern was auf das traumatische Ereignis selbst folgte. Das Trauma wird darüber zum Produkt eines über Jahre hinweg andauernden politischen, sozialen und individuellen Prozesses, der auch die kommenden Generationen noch erfassen kann.

„Im Verständnis traumatischer Sequenzen sind nicht nur die sexualisierten Gewaltübergriffe traumatogen, sondern die Reaktionen, die danach nicht eintreten, die unterlassene Hilfestellung oder Anerkennung durch nahestehende Menschen, ablehnende und ungläubige gesellschaftliche Reaktionen, die Atmosphäre des Verleugnens traumatisiert das Opfer zusätzlich und verstärkt die Folgen der sexualisierten Übergriffe.“ (Angelika Birk, Doktorarbeit im Studienfach Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln, 2001, S. 41)

4. Gesellschaft, Justiz, Wissenschaft

„Nationale und internationale Studien weisen darauf hin, dass Gewalt neben den individuellen und sozialen Folgen erhebliche gesamtgesellschaftliche Kosten verursacht. Diese Folgekosten betreffen u.a. den sozialen Bereich (z.B. Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützungseinrichtungen für Gewaltbetroffene), die Justiz (z.B. Strafverfolgung), den gesamten Bereich der Erwerbsarbeit (z.B. Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung) sowie schwerpunktmäßig das System der Gesundheitsversorgung. Im medizinischen Sektor (z.B. Notfallambulanzen, allgemeinmedizinische und fachärztliche Praxen, Krankenhäuser) fallen vorwiegend Kosten für die medizinische Erstversorgung bei akuten Verletzungen, für die Behandlung psychosomatischer Beschwerden, sexuell übertragbarer Krankheiten sowie für die psychologische Beratung und therapeutische Behandlung (Psychotherapie/ Psychiatrie) an. Darüber hinaus sind Ausgaben für Medikamente, wiederholte ambulante und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie für langfristige Versorgungserfordernisse (z.B. aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen und Geburtsschäden) zu berücksichtigen (Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Robert-Koch-Institut/Statistisches Bundesamt, Heft 42, 2008)

„Die Wissenschaftler, die Psychologen, die Pädagogen, die Mediziner und die Juristen standen selten auf der Seite der Opfer. Meist waren sie damit beschäftigt zu beweisen, dass die Opfer lügen, phantasieren, es selbst wollten, usw. Sie waren teil des gesellschaftlichen Verleugnungssystems und bekamen auch dafür ihr Geld.“ (Dirk Bange, 1992, S. 27)

„Nur in sexuellen Angelegenheiten wird ein Kind wie ein erwachsener Mensch verantwortlich gemacht und einem Mann gestattet, verantwortungslos wie ein Kind zu sein.“ (Florence Rush, 1991, S. 126)

„Wenn vor Gericht im Stil eines Kreuzverhörs gefragt wird, warum das Kind sich denn nicht gewehrt habe, nicht davongelaufen sei oder um Hilfe geschrien habe, dann sind im Wirken der Justiz die gesellschaftlich wirksamen Vorurteile über die Mitschuld von Opfern bei Sexualdelikten zu erkennen.“ (Ursula Wirtz, 1992, S. 116)

„Es entsteht der Eindruck, dass im juristischen Verfahren die Schäden für Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs kaum Relevanz haben. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts des auffälligen Missverhältnisses im gutachterlichen Umgang mit Opfern und Tätern sexuellen Missbrauchs. Die Begutachtung des Opfers dient in erster Linie oder ausschließlich der Prüfung seiner Glaubhaftigkeit, die des Täters der Eruierung eventueller schuldmindernder Faktoren, zu der (…) in hohem Maße die oft detaillierte Erhebung seines gesundheitlichen Zustandes gehört. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Folgen des Missbrauchs findet nicht statt.“ (Quelle: Heiliger/Engelfried, 1995, S. 193)

„Zum gerichtlichen Umgang mit Sexualstraftätern ist (…) zu kritisieren, dass die in Gerichtsverfahren zum Vorschein kommende Einstellung zum Delikt des sexuellen Missbrauchs oft noch deutliche Züge von Empathie gegenüber dem männlichen Täter aufweist. Die Sachkenntnis bei vielen Gutachtern und Richtern über Charakter, Hintergründe und Auswirkungen sexuellen Missbrauchs lassen erheblich zu wünschen übrig und führen daher häufig zu den falschen Einschätzungen des Delikts und seiner zukünftigen Entwicklung.“ (Quelle: ebda, S. 223)

„Dass die Schädigung dem Täter als kriminelles Delikt zugerechnet wird, entlastet das Opfer, macht es frei, und verbürgt ihm, dass es nicht Opfer der Natur oder eines Zufalls, sondern des zurechenbaren Verhaltens eines Menschen ist.“ Dr. phil. Jan Philipp Reemtsma (Quelle: „Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, Beck 2002, S. 161)

 

PS: Die ausführliche Stellungnahme von netzwerkB zur schriftlichen Stellungnahme von Prof. Dr. Bernhard Weiner, Polizeiakademie Niedersachsen, vom 19.10.2011 zu den Gesetzesentwürfen zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften bei sexuellem Kindesmissbrauch, entnehmen Sie bitte unserem Positionspapier unter:

netzwerkB Positionspapier „Eingeständnis“


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