netzwerkB 04.06.2012

Kommentar zu der Veranstalung „Kollektiv auf Ritalin – Streigespräch zwischen der Intelligenz-Aktivistin Kathrin Passig und der früheren Leistungssportlerin Ines Geipel“ am 02. Juni in Köln

von Norman Schultz

Der Titel klang nach Konfrontation und auch die Auswahl der Streitenden deutete dies an. In einem Streitgespräch würden sich die Intelligenz-Aktivistin (so dem Programmheft entnommen) Kathrin Passig und die frühere Leistungssportlerin Ines Geipel mit der Droge Ritalin auseinandersetzen. Kathrin Passig, an Narkolepsie erkrankt, könne ohne die Leistungsdroge Ritalin kaum mehr arbeiten und würde vor allem auf Ritalin ungeliebte Arbeiten ohne Prokrastination schnell durchführen. Vordergründig benutze sie die Droge jedoch als Medikament, um im Straßenverkehr nicht einzuschlafen. Ihr gegenüber stellten die Veranstalter die ehemalige DDR-Leistungssportlerin Ines Geipel. Ines Geipel ist betroffen von den massiven Doping-Eingriffe durch die DDR-Sport-Funktionäre in ihren Körper. Sie kritisiert heute vor allem die sorglose Reduzierung des menschlichen Körpers auf chemische Vorgänge und dessen Gebrauch als Mittel.

Nüchterne Unbetroffenheit

Das Gespräch hätte durchaus produktiv sein können, doch schon früh offenbarte sich, dass gerade auf Seiten von Kathrin Passig wenig Interesse an Gründen und Austausch lag. Bereits der Beginn des Gesprächs machte dies deutlich. Auf eine Frage der Moderatorin hin, was der klingende Titel „Intelligenzaktivistin“ eigentlich bedeute, antwortet Passig aggressiv, dass sie über ihre Arbeit bei der zentralen Intelligenzargentur schon genügend Auskunft an einem anderem Ort und einer anderen Stelle gegeben hätte. Ihre nüchterne, unterkühlte Antwort ist für den Abend programmatisch. Ohne viel Emotionen geht sie auf in der Folge sehr emotionale Themen ein. Passig verpasst dabei, dass die massiven Eingriffe, die auch an Sportlern der DDR in Kindesjahren stattfanden, schlichtweg betroffen machen und lässt es für das Thema deutlich an Sensibilität mangeln.

Die Rede von Kathrin Passig verbleibt nüchtern, abgeklärt und teilweise arrogant. Ihre Argumente wirken stumpf. Über das gesamte Gespräch kritisiert Passig eine ohnehin von Drogen (Kaffee und Alkohol) durchsetzte Gesellschaft, wobei dann eben auch einmöglicherweise nebenwirkungsfreies Medikament wie Ritalin toleriert werden könne. Schließlich würden wir alle auch den morgendlichen Kaffee verkonsumieren, um uns auf Leistung zu bringen (das abendlichen Bier zum Runterkommen sei nicht der Rede wert). Zeitweise erscheint es, als würde Passig den pauschalen Gebrauch von Ritalin gutheißen. Aber wie begründet sie dies? Meint sie etwa, dass wir ohnehin in einer unaufhaltsame Dynamik von wandelnden Gesellschaften befangen sind und der Ritalinmissbrauch daher keine moralische Frage darstellen kann, weil Moral sich ohnehin nicht unabhängig von gesellschaftlichen Umständen begründen ließe? Passigs Standpunkt bleibt über weite Strecken unklar.

An anderer Stelle macht Passig deutlich, dass selbst wenn es sich um moralische Fragen beim Ritalingebrauch handeln würde, ein Eingriff des Staates ohnehin nicht geboten wäre. Passig lehne Eingriffe des Staates in die Selbstbestimmung des Körpers aufgrund eines gewissen Freiheitspathos‘ ab. Ihr Beispiel von zwei Sadomasochisten, die sich in Großbritannien gegenseitig verstümmelt hätten, ist dann in ihrer Darstellung konsistent ohne Gefühl, obwohl sie äußerst brutale Szenen schildert. Das drastische Beispiel verschlägt die Sprache. Passig unbeeindruckt von den Schilderungen pocht schließlich auf den Wert der Autonomie und Selbstbestimmung auch im Hinblick auf zumindest fragwürdiges Verhalten.

Ines Geipel hat mit diesen Argumenten ihre Schwierigkeit, auch aber weil die „Gegnerin“ so nüchtern und unberührt spricht. Während Ines Geipel ihre Erfahrungen des Prozesses gegen die Doping-Funktionäre schildert, bleibt dieses Thema in seinem emotionalen Anspruch bei Passig ungehört. Gerade der Tatsache, dass Geipel im Alter von 16 Jahren oder andere DDR-Athleten/innen im Alter von 8 Jahren bereits wesentliche Eingriffe in ihren Körper erdulden mussten, folgt der Gesprächsverlauf auch aufgrund von Passigs fehlender Sensibilität nicht. Dabei handelt es sich bei diesen Eingriffen in den Körper um klare Strukturen von Gewalt. Diese Strukturen lassen auf die Täterstrukturen zurückschließen, die netzwerkB so vehement kritisiert und durch eine konsequente Gesetzeslage (Aufhebung der Verjährungsfristen) zu verhindern sucht. Letztlich aber geht es dabei um die Reduzierung des Betroffenen auf einen Gegenstand, der als Mittel gebraucht wird, aber nicht in seiner Freiheit bestehen darf. Hier lässt sich für die Ritalindiskussion erst die richtige Tiefe erschließen.

Auch bei Ines Geipel ist davon auszugehen, dass sie die Medikamente in einer Pseudo-Freiwilligkeit einnahm, dies aber vor allem, da sie systematisch getäuscht und manipuliert worden ist. Schließlich ging die Manipulation durch die Dopingärzte so weit, dass den Sportlern die Substanzen wie Vitamine zugeführt worden sind von Menschen, denen sie innerhalb des Systems (ein fragwürdiges Machtgefälle) vertrauen mussten.

Mit den psychischen Konsequenzen von Manipulation und Gewalt setzt sich Passig nicht auseinander. Die Fragen nach den Gründen von Gesellschaften, die ihre Körper immer stärker als Instrumente gebrauchen, bleiben daher in der Diskussion über Ritalin verborgen. Passig verpasst die Anknüpfungspunkte zu tieferen Reflexionen, die Geipel anmahnt, wenn sie Begriffe wie „auf das innere Orchester hören“ ins Spiel bringt. Sie verbleibt auf der nüchternen Position einer Soziologin, die Menschen wie bewegliche Bildpunkte auf einer Fläche betrachtet. Fatal ist dabei aber nicht ihre Nüchternheit, sondern dass sie aus der soziologischen Sicht zynisch die Normen für Gesellschaften abzuleiten erscheint: Eingriffe in den Körper sind schließlich (wie Passig durchweg argumentierte) normal. So schlimm ist das alles nicht.

Auch als die Frage nach der grundlegenden Angst eines jeden im Gespräch aufkommt, bleibt alles angedeutet und oberflächlich, stattdessen ernüchtert Passig im wieder das Gespräch. Eine Gesellschaft, die sich mit Mitteln über das Selbst der Menschen hinwegsetze sei der zu erwartende Normalfall und damit auch bald Norm, zumindest aber in der Freiheit jedes Einzelnen als wählbares Gut legitim.

netzwerkB Postion

Bei netzwerkB sehen wir diese Tendenz zur Verharmlosung von gewaltsamer Einwirkung auf Körper negativ. Wir lehnen nicht pauschal die Behandlung von Krankheiten mit Medikamenten ab, glauben aber, dass einher die Ursachenforschung, warum wir unseren Körper als Mittel gebrauchen wollen, an dieser Stelle beginnen muss. Wir wollen dieses Problem daher an dieser Stelle in einer weiteren Dimension diskutieren, die die gesellschaftlichen Umstände der Gewalt gegen unsere Körper aufhellt.

Gerade die Selbstverletzungen bei Jugendlichen werden oftmals unter Modetrends abgestempelt. Das Ritzen der Arme kennt jedoch viele Formen. In früheren Generationen ging die Selbstverletzung häufig mit Verbrühungen oder Verbrennungen einher. Der Trend zum Ritzen kann daher durchaus als Modephänomen betrachtet werden, nicht aber die Tatsache, dass Menschen ihre Körper verletzen. Diese Tatsache hat einen tieferen Grund. Die Ursachen sind in der Wissenschaft deutlich umrissen: In bedeutend vielen Fällen haben die Betroffenen Gewalt im Elternhaus erlitten. Magersucht, Extrem-Peircings, Extrem-Bräunung oder Ganzkörpertätowierungen (Sucht nach Tätowierung) bis hin zu den neueren Trends, dem Branding, können ebenfalls in diesen Zusammenhang gebracht werden. Gerade gesellschaftlich zunehmend anerkannte Ideale (wie Tätowierung) können demzufolge auch als Methoden der Verstümmlung gebraucht werden, um Gewalterfahrungen zu kompensieren und Kontrolle über einen bloß physisch gedachten Körper zu erlangen. So beschrieb eine Betroffene von Magersucht gegenüber netzwerkB beispiespielsweise, dass sie sich mit dem Hunger auch täglich bestrafe und dabei Wohlsein durch die Bestrafung empfinde. Aufgrund der Vielzahl uns bekannter, ähnlicher Fälle gehen wir daher bei vielen modischen Erscheinungen nicht davon aus, dass diese schlicht exzentrische Formen des gegenwärtigen Modebewusstseins sind und einfach nur als Teil einer künstlerischen Selbstbestimmung zu werten sind. Bei netzwerkB raten wir an, dass diese Formen der Körperbestimmung auch als Signale für die dramatische Lage der Kinder in unserer Gesellschaft betrachtet werden sollten. Die Modi der Selbstverletzung, Selbstabspaltung mögen wechseln, die Ursachen können in vielen Fällen eine sehr ähnliche sein, nämlich Gewalt in Bezug auf das, was den Menschen zum Menschen macht, seine Freiheit (wobei wir eine andere Freiheit als die bloße Wahlfreiheit Passigs meinen).

Auch die Tendenz sich nicht durch Selbstreflexion zu einem eventuell besseren Menschen oder besser glücklichen Menschen zu verändern, sondern durch Mittel wie Ritalin eben ein anderer zu sein, gehört für netzwerkB in diese Dimension. Wir lehnen den Einsatz von Medikamenten bei beispielsweise akuter Depression nicht durchweg ab, empfehlen aber eine gesellschaftliche Untersuchung der Ursachen. Bereits Kierkegaard hatte diese Formen des Anderssein-Wollens schließlich als Formen der Angst beschrieben und damit das eigentliche psychologische Grundmodell für das 20. Jahrhundert geliefert, womit wir einen Schlüssel zur Selbsterforschung erhalten. Für ihn gab es drei Formen der Verzweiflung, worin sich schließlich Angst entäußere: Unbewusste Verzweiflung, verzweifelt ein anderer sein wollen und verzweifelt nicht man selbst sein können.

Die angeführten Phänomene bis hin zum Ritalinkonsum sollten wir daher als Verweis auf die dramatische Lage des Menschen deuten, der sich nicht mehr in die Abgründe der Selbstreflexion begeben kann. Bei dem von Passig umrissenen Ritalingebrauch erscheint es uns als würden Konsumenten ihre Arbeit abspalten, indem ein manipulierter Körper zur chemischen Waffe gegen die Langeweile umgeformt wird. netzwerkB ist an dieser Stelle der Auffassung, dass wir mit dem Ritalinkonsum nicht allein ein gesellschaftlich-modern induziertes Problem vorliegen haben, sondern ein Problem mit dem Rückgang auf den Grund unserer Persönlichkeit. Die Jahrtausende währende falsche Erziehung durch Unterdrückung und Gewalt hat uns durchweg den Weg zum geordneten Selbstbild verstellt und Selbstreflexion für weit mehr als nur die 10 Millionen Betroffenen von sexualisierter Gewalt verunmöglicht. Gerade bei Betroffenen kann diese Verstellung des Zugangs zum Selbst aber umso deutlicher werden: Neurotisches oder agitiertes Verhalten zum Beispiel sind dann Strategien um den eigentlichen, mit Schmerzen behafteten Selbstkern zu umgehen.

Es geht daher um die Verknüpfung unseres alltäglichen Selbst (dieses Selbst als Körper erfahren) mit dem vergangenen Ich, das nicht mehr nur Körper ist, sondern eine Reflexionsbewegung auf Vergangenheit hin vollzieht. Wir sind mehr als nur Körper, sondern auch die Weisung unserer Vergangenheit. Dort liegen Gründe für das, was wir sind. Chemische Substanzen können diese Weisungen verbergen und Gemütszustände herbei führen, behandeln aber letztlich nur Symptome. Wir sehen daher eine Berhinderung der Selbsteinsichten, wenn wir gesellschaftlich zu sorglos mit den Eingriffen in den Körper wie zum Beispiel durch pauschalen Ritalingebrauch umgehen.

Wir sind mehr als nur Körper – Wie wir mit unserer Vergangenheit zusammenhängen

Auch Geipel brachte bezüglich des Rückgangs in unser Selbst das passende Beispiel, was Passig allerdings kaum verstand. Geipel beschrieb eindrücklich, wie reihenweise großgewachsene Sportler bei den Doping-Prozessen in Ohnmacht fielen, weil sie nach der zweitägigen Verlesung über die Nebenwirkungen der Dopingmittel zum ersten Mal Kausalbeziehungen zu Krebs oder der Geburt von Kindern mit Behinderung ziehen konnten. Zum ersten Mal sahen sie den Grund ihrer lebensbedrohlichen Kämpfe, doch dieser Grund reicht in die Vergangenheit zurück und hat mit den fortwährenden Eingriffen in das Selbst dieser Sportler zu tun. Diese Sportler wurden damals durch Gewalt eben nur als Körper behandelt und als Mittel für die Erfolge der DDR benutzt. Sie erkannten die Gründe für ihre Jahre währenden Probleme nicht. Diese fehlende Kraft zur Reflexion ist aber kein Verschulden der Sportler, sondern einem System geschuldet, dass Reflexionsbewegungen in die Vergangenheit nicht zu lassen will. Ein ähnliches Phänomen ist durchaus die Verjährungsfrist bei sexualisierter Gewalt, was einer gesamtgesellschaftlichen Leugnung der Kausalzusammenhänge zwischen Angst vor der eigenen Vergangenheit und Selbstwerdung gleichkommt. Mit Verjährungsfristen verhindern wir die Auseinandersetzung mit uns selbst. Ein ähnliches Phänomen ist darüberhinaus auch der unreflektierte Gebrauch von Medikamenten, um Symptome in den Griff zu bekommen, wobei der Rückgang in den Grund, das heißt den Rückgang zum Selbst aber verhindert oder hinausgezögert wird.

Schwierigkeiten bei der Deutung von Kausalzusammenhängen

Auch ein anderes, grundsätzliches Erkenntnisproblem verstand Passig hierbei nicht. Passigs Argument lautete, dass wenn Ritalin Grund zur Sorge bereiten würde, wir nach dem weltweiten Massenversuch nun schon Bescheid wissen würden. Es sei aber daran erinnert, dass wir nicht ohne Weiteres einen kausalen Grund für unsere Krankheiten in der Art unserer Alltagserfahrung ausmachen können. Wir wissen nicht direkt, warum wir beispielsweise Krebs bekommen. Lag es an der letzten Zigarette oder doch am Elektrosmog?  Stattdessen sind wir ein physisches und psychisches Endsammelbecken.
Am Beispiel der fortwährenden physischen Vergiftung durch Chemikalien kann deutlich werden, was zugleich auch mit unseren Psychen passiert. Der Soziologe Beck verwies in seiner Analyse „Risikogesellschaft“ schon auf die gesonderten Schwierigkeiten, die wir in einer komplexen Welt haben, Kausalverhältnisse genau zu benennen. Das Aufkommen von Krebs und die chemische Ursache ist mit statistischen Mitteln kaum zu beobachten, da wir nie die gesamte Konzentration an chemischen Einflüssen messen, sondern immer nur einzelne Einflüsse wie beispielsweise Handystrahlung in Grenzwerten erfassen. Er beschreibt die einhergehende schleichende Vergiftung durch die Industriekonzerne mit einer Giftmörderbande, die alle ihr Opfer in kleinen Dosen vergiften. Der letztlich Schuldige bleibt schwer zu bestimmen, da im Nebel einer organsierten Verantwortungslosigkeit kein einzelner Grund mehr bestimmbar ist. Die Vergiftung speist sich aus zu vielen kaum beobachtbaren Kausalereignissen.

Dieses Modell der fortwährenden Vergiftung kann auch auf Psychen übertragen werden. Es muss so beispielsweise nicht die einzelne brutale, sexualisierte Gewalt sein, die zur Vergiftung führen muss, sondern es kann auch durch die vielen, „kleineren“ Annäherungen und Überschreitungen von Grenzen zur fortwährenden Vergiftung der seelischen Organe kommen. Fehlen dann noch die entsprechenden Entgiftungsstationen, helfen wir also Betroffenen nicht, ihre Freiheit durch zum Beispiel Gerechtigkeit zurück zu erlangen, dann vergiften wir langfristig auch die Gesellschaft. Betroffene agieren dann nach unseren Maßstäben zumeist irrational (Ritzen etc.).

Bei der Diskussion ging es also um weitaus mehr als die Tasse Kaffe oder der medikamentöse Ritalingebrauch. Wir müssen uns mit der Gesellschaft auseinandersetzen, die einerseits immer mehr Chemie in sich ansammelt, um psychische Belastungen zu kompensieren und andererseits müssen wir nach einer Gesellschaft fragen, die ihre psychischen Grundlagen nicht aufarbeiten will, die keine konsequente Entgiftung durchführen will (Aufhebung der Verjährungsfristen) und sich darüberhinaus in Minimaldosen bis hin zu noch nicht anerkannten Maximaldosen fortwährend vergiftet. Bei all diesen fortwährenden Minimalvergiftungen und vernachlässigten Überdosierungen, kommt es letztlich zu systematischen Zusammenbrüchen. So bezeichnete Missbrauchsskandale (wie an der Odenwaldschule) setzen Zeichen für die Vergiftung, aber die Gründe deutet bis jetzt kaum jemand. Die Verursacher verstecken sich hinter organisierter Unverantwortlichkeit. Und so ist auch der millionenfache Gebrauch von Chemikalien  um das Selbst erträglicher zu machen ein Zeichen, das wir in diesen Zusammenhängen deuten müssen.

Der Abend war aus diesen Gründen ernüchternd. Auch weil gerade die digitale Bohème, zu der Passig wohl gehört, immer wieder von einer oberflächlichen Freiheit des Einzelnen redet, aber über die Freiheit in der Selbstgewinnung kaum reflektiert. Dabei bleibt das Verständnis für die Verhinderung der Selbstentwicklung, die wir in unserer Gesellschaft beobachten, außen vor. Es geht immer nur darum angebliche Freiheiten durch Handlungsalternativen im Konsum zu ermöglichen (Bereiche: Sexualität, Drogen, Schönheit, Shopping, Internet), aber nicht darum die ursprüngliche Freiheit zu gewährleisten. Ohne Emotionalität ging Passig über Geipels Aufforderungen, zurück zum Selbst einzukehren, hinweg. Eine Gesellschaft aber, die Arbeit nur noch funktional mit Medikamenten abspaltet, den Körper dabei als Arbeitsinstrument reduziert und diese Körper zu anderen Zeitpunkten in anderer Weise dann zum Vergnügen oder zur Prokrastination gebraucht, hat nicht viel verstanden von den inneren seelischen Bewegungen, die wir alle durchmachen müssen und sollen. Wir sind mehr als einfach nur Körper.

Anmerkung: In diesem Zusammenhang sei auch nochmals daran erinnert, dass wir bei netzwerkB auf den Begriff „sexueller Kindesmissbrauch“ verzichten, weil wir der Überzeugung sind, dass die damit einhergehende Unterstellung, Menschen wären korrekt zu gebrauchen, unserer Vorstellung von menschlicher Freiheit zuwiderläuft. Diese menschliche Freiheit entspricht einer anderen Kategorie als das angebliche freiheitliche Recht auf Selbstverstümmlung gegenwärtiger und vergangener Generationen in irgendwelchen Modetrends oder Kriegen. Das Bewusstsein für diese Freiheit, die wir meinen, die aber selbst unausgesprochen bleibt, weil sie Voraussetzung für all unser Denken und Handeln ist, verliert sich gerade in Gesellschaften, die beginnen, ihre Körper sorglos wie eben nur einen physischen Körper zu gebrauchen. Dieses fassen wir als Gewalt und sehen darin eine Vernachlässigung des Lebens als Körper und als Nicht-Körper.

Zum Autor: Norman Schultz ist Philosoph und beginnt im August seine Doktorarbeit an der renommierten Duquesne University in Pittsburgh. Bei netzwerkB hat er die Funktion des Beirats.