netzwerkB 27.04.2012

„Geschwisterliebe“ oder schwerer sexueller Missbrauch?

von Doro

Susann K. und Patrick S. kennt mittlerweile jeder. Sie sind das Geschwisterpaar, das von einigen Anwälten, Politikern sowie Vertretern der Medien dazu auserkoren wurde, in Deutschland als Präzedenzfall einer breiten medialen und juristischen Debatte über das so genannte Inzestverbot (§ 173 StGB) missbraucht zu werden. Aber eignet sich das Geschwisterpaar tatsächlich als Pfand für die Forderung nach Abschaffung des so genannten „Inzest-Paragraphen“?

Am 12. April 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGFM) in Straßburg das deutsche Inzestverbot, das 2008 bereits vom Bundesverfassungsgericht für verfassungsgemäß erklärt worden war, bestätigt. Wie in der Mehrheit der Mitgliedsländer des Europarats ist damit Beischlaf zwischen Verwandten auch in Deutschland weiterhin verboten.

Beide höchstrichterlichen Entscheidungen finden aber bei manchem Vertreter der Anwaltschaft, der Medien sowie der Politik keine Anerkennung. Sie inszenieren stattdessen die rührselige Geschichte einer tragischen Liebe.

„Das Europäische Menschenrechtsgericht hätte einem Menschen helfen können, dessen schwieriges Leben deutsche Gerichte durch brachiale Gefängnisstrafen zerstört haben, dessen Beziehung zu seiner Schwester und den Kindern unter dem Druck des staatlichen Strafapparats zerbrochen ist.“ So herzergreifend schreibt etwa Helmut Kerscher, Kommentator der Süddeutschen Zeitung (13.04.2012), über Patrick S. und die Entscheidung des EGFM.

„Zwei sehr einsame Menschen, die gar nicht miteinander aufgewachsen sind, hatten sich gefunden. Doch sie haben dem rechtlichen und gesellschaftlichen Druck nicht standgehalten. Drei der vier Kinder wurden der Mutter weggenommen. Die Beziehung ist auseinandergebrochen“, schmalzt Parvin Sadigh auf ZEIT Online (12.04.2012).

FOCUS Online (22.05.2011) macht aus Patrick S. den tragischen Helden: „Durch alle Instanzen hat der Inzest-Vater für die Legalisierung der Geschwisterliebe gekämpft – und verloren.“

Ob das Geschwisterpaar tatsächlich als „Präzendenzfall“ für die Forderung nach Abschaffung des Inzestverbots in Deutschland missbraucht werden kann, ist äußerst fraglich. Möglicherweise stecken ganz andere Interessen und Interessierte hinter dem anhaltenden Hype um das deutsche Inzestverbot.

Der von einigen so heftig kritisierte so genannte „Inzest-Paragraph“ (§ 173 StGB) verbietet den Beischlaf zwischen erwachsenen Verwandten. Also nicht nur den zwischen erwachsenen Geschwistern, sondern auch den zwischen Eltern (Großeltern) mit ihren erwachsenen Kindern (Enkelkindern). Die beispielsweise von der Piratenpartei oder dem Grünen-Bundestagsabgeordneten und Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele geforderte „Abschaffung des Inzest-Paragraphen“ hätte also nicht nur die Straffreiheit für Geschwisterpaare zur Folge, sondern würde auch Väter und Großväter, die mit ihren erwachsenen leiblichen Abkömmlingen Geschlechtsverkehr betreiben, von der Strafverfolgung ausnehmen.

Adolf B. und sein „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“

Ein passendes Beispiel hierfür ist der Fall des Adolf B.: Der zum Zeitpunkt seiner Gerichtsverhandlung (November 2011) 69-Jährige hat seine damals 46-jährige Tochter seit ihrem 12. Lebensjahr über mindestens 34 Jahre hinweg mindestens 500 mal vergewaltigt. Schläge, Haareziehen, Einsatz von Messer und Analverkehr haben für Adolf B., der die sexuellen Kontakte mit seiner Tochter als „einvernehmlich“ darstellte, dazu gehört. Gesichert ist, dass die Tochter drei Söhne vom ihrem Vater bekam – zwei starben kurz nach der Geburt, der lebende Sohn ist behindert. Die mangelnde Intelligenz der Tochter soll ein wesentlicher Grund gewesen sein, weshalb sie in all den Jahren keine Möglichkeit fand, sich von ihrem autoritären Vater zu lösen.

Dieser Mann wurde weder für den jahrelangen schweren sexuellen Kindesmissbrauch an seiner minderjährigen leiblichen Tochter (Verjährung), noch wegen der offensichtlichen Gewalt, die er gegen sie eingesetzt hat, und auch nicht wegen des Analverkehrs verurteilt. Einzig und allein die Gesetzeslage in Deutschland hinsichtlich des § 173 StGB (so genannter „Inzest-Paragraph“) hat überhaupt zu einer Verurteilung des Mannes geführt. Adolf B. wurde 2011 wegen „Beischlaf mit Verwandten“ in zehn Fällen zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Hätte das Bundesverfassungsgericht 2008 anders entschieden, wäre es vermutlich zu keiner Verurteilung gekommen und dieser Gewalttäter wäre heute ein freier Mann.

Die PIRATEN-Partei begründet ihre Forderung nach Streichung des so genannten „Inzest-Paragraphen“ mit dem „grundlegenden Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Heißt konkret im Fall des Adolf B.: Seine jahrelangen und hundertfachen schweren Vergewaltigungen seiner Tochter fallen für die Piraten unter das „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“.

Der GRÜNE Ströbele hält § 173 StGB für „ein einsames Relikt aus anderen Zeiten“, der „nicht mehr in diese Zeit der geläuterten Auffassung über Ehe und Familie hinein“ passe und daher „weg müsse“. Die „geläuterte Auffassung von Ehe und Familie“, von der Ströbele spricht, hat sich in den letzten zwei Jahren deutlich gezeigt: Knapp 60 Prozent derer, die sich an die Unabhängige Missbrauchsbeauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland, Dr. Christine Bergmann, gewandt haben, wurden in ihrer eigenen Familie sexuell missbraucht. Auch andere Statistiken sprechen hier eine deutliche Sprache: Der gefährlichste Ort für Kinder in Deutschland ist das Wohnzimmer, bzw. die eigene Familie. Natürlich geht es beim § 173 StGB nicht um den sexuellen Missbrauch von Kindern, aber diese Fakten machen deutlich, wie sehr das Familienbild, das der Grünen-Politiker da zeichnet, von der Realität abweicht. Insofern taugt es auch nicht als Begründung, den so genannten „Inzest-Paragraphen“ abzuschaffen.

Der Justiziar der LINKE-Fraktion im Bundestag und ehemalige BGH-Richter Wolfgang Neskovic spricht sich ebenfalls gegen den § 173 StGB aus: Das Strafrecht solle „nicht dazu dienen, Moralverstöße zu sanktionieren, sondern die Verletzung von Rechtsgütern und sozialschädliches Verhalten”.

Frage: Hat Adolf B. nicht „Rechtsgüter verletzt“ und sich nicht „sozialschädlich verhalten“ oder gründet seine Verurteilung auf (scheinbar unangebrachten) Moralvorstellungen? Außer § 173 StGB jedenfalls sah das Landgericht Nürnberg-Fürth keinerlei rechtlich begründbare Sanktionsmöglichkeiten für sein „sozialschädliches Verhalten“ und seine „Verletzung eines Rechtsguts“. Und die gesellschaftlichen Moralvorstellungen, die Adolf B. durch seine Taten sicherlich weit strapaziert hat, hatten in diesem Fall auch keinerlei strafrechtliche Relevanz.

„Geschwisterliebe“?

Doch zurück zu Susann K. und Patrick S., dem Geschwisterpaar, das – vordergründig – diesen ganzen Wirbel um den § 173 StGB ausgelöst hat. „Bei einvernehmlichen Beziehungen zwischen Geschwistern werde niemand geschädigt“, lautet der breite Tenor der Inzestverbots-Gegner.

Grund genug, einmal genauer hinter die Geschichte dieser „Geschwisterliebe“ und ihrer „Einvernehmlichkeit“ zu schauen.

Patrick S. kommt 1976 in Leipzig zur Welt, als zweites von fünf Kindern, Susann K. acht Jahre später. Obwohl sie leibliche Geschwister sind, wachsen die beiden getrennt voneinander auf, heißt es. Allerdings gibt es auch Meldungen, wonach die beiden trotz der belasteten Familienumstände auch als Kinder Kontakt gehabt haben sollen.

Der Vater ist Alkoholiker und gewalttätig. Unter anderem erinnert sich Patrick daran, dass ihm sein Vater bereits als Dreijähriger ein scharfes Messer an die Kehle gehalten hat. Das Kleinkind wird von seinem Vater auch sexuell missbraucht, woraufhin er erst in ein Pflegeheim und später in eine Pflegefamilie kommt.

Susann K. kommt 1984 zur Welt. 1992 wird sie altersgerecht in eine Lernförderschule eingeschult, die sie mit der 8. Klasse abschließt. Ein anschließendes Berufsvorbereitungsjahr bricht sie wegen der Geburt ihres ersten Kindes (2001) ab. Laut ihrem Anwalt hat Susann K. „erhebliche Probleme mit Lesen und Schreiben, weshalb ihre Fähigkeit zur Selbstvertretung erheblich beschränkt“ sei. Zu ihrem Bruder schaue sie auf, weil er im Vergleich zu ihr so kompetent und so erfahren sei, berichtet SPIEGEL Online.

Von Patrick S.s Anwalt sowie den Medien wird verbreitet, Patrick S. habe sich mit 18 Jahren (oder 23 Jahren – es kursieren unterschiedliche Versionen teilweise in ein und demselben Medium) auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern gemacht, und im Mai 2000 seine Mutter und seine Schwester Susann K. kennengelernt. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, ebenso die restlichen drei leiblichen Geschwister.

Patrick S. gibt seine Wohnung und seine damalige Freundin in Berlin auf und zieht in die Vierzimmerwohnung zu Mutter, Stiefvater, Schwester und Stiefbruder in Leipzig. Dort haben sowohl der Stiefbruder wie die leibliche Schwester Susann K. ein eigenes Zimmer. Patrick S. teilt sich fortan das Zimmer mit seiner Schwester. Ein halbes Jahr später stirbt die gemeinsame Mutter mit 50 Jahren. Patrick S. rückt danach laut SPIEGEL Online an die Stelle des Familienoberhauptes, jedenfalls sei die Bindung zur leiblichen Schwester „stärker geworden, weil wir doch die einzigen Kinder waren, die von unseren Eltern übrig geblieben sind“, soll Patrick S. gesagt haben.

Zum (öffentlich verbreiteten) Zeitpunkt des Kennenlernens der Geschwister im Jahr 2000 ist Patrick S. 24 Jahre, Susann K. 16 Jahre alt. Die Minderjährige wird schwanger. Eine Mitarbeiterin des Jugendamts schöpft Verdacht und erstattet Anzeige gegen Patrick S.. Im Beisein ihres Amtsvormunds und einer weiteren Jugendamtsmitarbeiterin wird Susann K. daraufhin von der Kriminalpolizei vernommen. Als sie über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wird, soll Susann in Tränen ausgebrochen sein. Ihre Betreuerin habe um eine kurze Pause gebeten; unter vier Augen habe ihr Susann gestanden, dass das Kind von Patrick sei, sie aber nicht gegen ihren Bruder aussagen wolle. Zurück im Vernehmungsraum wird protokolliert, dass Susan keine Aussage macht, berichtet SPIEGEL Online.

Die Betreuerin habe im Anschluss jedoch in einem Schreiben an die Polizei bezeugt, dass Susann K. ihr bestätigt habe, dass Patrick S. tatsächlich „der Vater des von ihr zu erwartenden Kindes“ sei. SPIEGEL Online nennt dieses Vorgehen des Amtsvormunds von Susann K. einen „Vertrauensbruch in Stasi-Manier“ und macht ihn für das nun folgende „Unheil“ verantwortlich. Nun sei auch Patrick vernommen worden, einen Anwalt hätte er nicht gehabt. Er habe zugegeben, mit seiner Schwester Sex gehabt zu haben, aber beteuert, sie hätten „es doch beide gewollt“.

2001 wird das erste gemeinsame Kind von Patrick S. und Susann K. geboren. 2002, 2004 und 2005 folgen weitere gemeinsame Kinder. Zwei von ihnen sind behindert.

Ein halbes Jahr nach der Geburt des ersten Kindes kommt es vor dem Amtsgericht Borna zum Prozess gegen Patrick S.. „Seine Schwester war zur Tatzeit noch minderjährig, deshalb wird nur er angeklagt“, hält SPIEGEL Online fest.

Patrick S. habe zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden, was er falsch gemacht haben soll, schreibt SPIEGEL Online weiter. „Vielleicht hätte Patrick es verstanden, wenn ihm jemand erläutert hätte, was dazu in juristischen Fachbüchern steht: Knutschen ist okay, Fummeln geht auch, selbst Oral- und Analverkehr sind erlaubt. Nur normaler Blümchensex ist verboten – und wenn die Frau schwanger wird, kann man den Inzest leicht beweisen.“ So also erklärt SPIEGEL Online am 10.03.2008 das „eigentliche“ Problem: Geschlechtsverkehr ist demnach „normaler Blümchensex“ und der ist zwar zwischen Geschwistern verboten, aber erst dann ein Problem, wenn er zu beweisen ist.

Opfer oder Täter?

In sämtlichen Medien wird die Geschichte des Geschwisterpaars mehr oder weniger ähnlich romantisiert: Sie würden sich lieben, sie hätten keine Ahnung gehabt, ihnen hätten anfangs keine Anwälte zur Seite gestanden, usw. Besonders Patrick S. wird in dieser Geschichte als Opfer dargestellt: des deutschen Rechtsstaats, einer überkommenen Moral, der schwierigen Familienverhältnisse, usw.

Weil es in diese Inszenierung vom Opfer Patrick S. nicht passt, wird auch in den allermeisten Fällen verschwiegen, dass Patrick S. nicht nur wegen Beischlafs zwischen Verwandten in 16 Fällen verurteilt worden ist, sondern auch mit anderen Gesetzesverstößen und Verhaltensauffälligkeiten wie Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung (2003) in Erscheinung getreten ist. Das Amtsgericht Borna hat Patrick S. zudem wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten verurteilt, weil er seine Schwester Susann K. mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat.

Der als „zurückhaltender, schüchterner Mensch“ beschriebene Patrick S., der „immer wieder die Augen niederschlägt, wenn er redet“ und „seine Geschichte mit sparsamen Worten und sanfter Stimme“ erzählt, hat also auch eine wesentlich gewalttätigere und aggressivere Seite.

Angesichts seiner eigenen frühkindlichen Erfahrungen mit schwerer Gewalt und sexuellem Missbrauch kein unüblicher Fakt. Männliche Opfer von früher familiärer Gewalt, insbesondere sexuellem Missbrauch, neigen offenbar eher als weibliche Opfer dazu, das (sexuelle) Kindheitstrauma und den damit verbundenen Opferstatus dadurch abzuwehren, dass sie nach außen besonders „männlich“ und (sexuell) aggressiv auftreten. Silke-Birgitta Gahleitner (2000) nennt dies „einen wichtigen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen erwachsenen Missbrauchsopfern“: Bei Männern steige die Wahrscheinlichkeit der Aggressivität bzw. das Auftauchen eines sexuellen Interesses an Kindern und damit eine Entwicklung zum Täter.

Diese gewalttätige und täteraffine Seite von Patrick S. wird aber – weil sie die Geschichte von dem sich liebenden Geschwisterpaar und dem „einvernehmlichen Beischlaf“ massiv stören würde – in den Medien und von den Anwälten zumeist verschwiegen.

Die Grundzüge dieser vermeintlichen „Love-Story“ lassen sich also wie folgt zusammenfassen:

Weiblicher Part: Susann K. ist aufgewachsen in äußerst schwierigen Familienverhältnissen, insgesamt geistig eher zurückgeblieben und in ihrer Fähigkeit zur Selbstvertretung laut ihrem Anwalt „erheblich beschränkt“. Selbstverständlich kann ihr intellektuelles Mindervermögen angeboren sein; es kann aber auch ein Hinweis auf Traumatisierung (einschließlich sexuellem Missbrauch) in der Familie sein. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass dem Mädchen Susann in ihrer Familie ein eher hierarchisches Männerbild, in dem Männer dominieren und Männergewalt als „normal“ und „berechtigt“ gilt, vermittelt wurde. Ziemlich sicher kann auch von einem äußerst labilen seelischen Zustand zum Zeitpunkt des Beginns der „Beziehung“ zu ihrem Bruder ausgegangen werden: die 16-Jährige hatte gerade ihre Mutter auf ungeklärte Weise verloren. Auf jeden Fall können die äußerst schwierigen Familienverhältnisse die große emotionale Verlorenheit und Bedürftigkeit von Susann K. erklären. Als die sexuellen Kontakte zu ihrem Bruder beginnen, ist Susann K. minderjährig und steht unter Amtsvormundschaft. Als Susann K. ihr erstes Kind gebiert, ist sie immer noch minderjährig.

Männlicher Part: Patrick S. ist ebenfalls in äußerst schwierige Familienverhältnisse hineingeboren; von seinem leiblichen Vater wird Patrick S. im Kleinkindalter sexuell missbraucht und damit schwer traumatisiert. Von seinen Pflegeeltern erfährt man, dass sie ihn adoptierten, und für ihn „Mutter und Vater werden, auch wenn sie ihm später erklären, dass sie nicht seine leiblichen Eltern sind“ (SPIEGEL Online). Patrick S. geht ebenfalls auf eine Förderschule, schließt aber eine Schlosserlehre praktisch ab (scheitert an der theoretischen Prüfung). Auch für Patrick S. ist der Tod der leiblichen Mutter sicher ein einschneidendes Erlebnis, zumal er sie ja gerade erst kennengelernt hat. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass er aufgrund seiner Adoption keine so starke emotionale Bindung zu seiner Mutter hatte wie die Schwester, die 16 Jahre mit ihr lebte. Als Patrick S. 24-jährig bei der Familie seiner Mutter einzieht, bezieht er nicht mit dem männlichen, sondern mit dem weiblichen (Stief-)Geschwisterteil ein Zimmer (was ein Hinweis auf die Familienrangfolge sein kann, in der die Schwester die schwächste Position hat, und/oder ein Schutzschild gegen einen evtl. ebenfalls sexuell übergriffigen Stiefvater). Der Altersunterschied zwischen Patrick S. und der zum Zeitpunkt des Beginns der sexuellen Kontakte minderjährigen Susann K. beträgt acht Jahre. Patrick tritt gegenüber seiner Schwester nach dem Tod der gemeinsamen Mutter als „Familienoberhaupt“ auf und wird mindestens einmal gegen die jüngere Susann K. schwer gewalttätig.

Schwerer sexueller Missbrauch nach § 182 StGB

Fakt eins daraus lautet: Zumindest für den Beginn bzw. den Zeitraum bis zur Volljährigkeit von Susann K. handelt es sich bei den sexuellen Kontakten (und konkret dem Geschlechtsverkehr) zwischen dem Geschwisterpaar mitnichten um einen Fall des so genannten „Inzestparagraphen“, da nur Beischlaf zwischen erwachsenen Verwandten unter § 173 StGB fällt. Dieser Geschwisterinzest muss im Gegenteil nach seriöser Reflektion seiner Ursprungsumstände als ein Fall des § 182 StGB angesehen werden, nämlich des schweren sexuellen Missbrauchs einer Jugendlichen.

§ 182 StGB Satz 1 lautet: „Wer eine Person unter achtzehn Jahren dadurch missbraucht, dass er unter Ausnutzung einer Zwangslage sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 182 StGB Satz 3 lautet: „Eine Person über einundzwanzig Jahre, die eine Person unter sechzehn Jahren dadurch missbraucht, dass sie sexuelle Handlungen an ihr vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt (…) und dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Bei der rechtlichen Einordnung des Falls muss unbedingt berücksichtigt werden, dass Susann K. zu Beginn der sexuellen Kontakte zwar bereits 16 Jahre alt war, es aber fraglich ist, ob sie auch über die geistige Reife einer 16-Jährigen und damit über die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung verfügt hat. Jedenfalls kann nach allem, was man über den geistigen Reifegrad von Susann K. zum Zeitpunkt der ersten sexuellen Kontakte weiß, nicht zwangsläufig eine Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung vorausgesetzt werden. Noch 2005 hält ihr eigener Verteidiger – also jemand, dem zumindest mehrere persönliche Kontakte und somit eine gewisse Kenntnis der Befindlichkeit von Susann K. unterstellt werden kann – die zu diesem Zeitpunkt bereits 19-Jährige für „vermindert“ und bezeugt, dass ihre „Fähigkeit zur Selbstvertretung erheblich eingeschränkt“ sei. Wie sieht es zu diesem Zeitpunkt dann wohl mit Susann K.s „Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung“ aus? Die Beurteilung der Konstellation als „einvernehmlich“ ist also deutlich zu hinterfragen.

Der acht Jahre ältere Patrick S. kann unter Ausnutzung der fehlenden Fähigkeit seiner Schwester zur sexuellen Selbstbestimmung und unter Einsatz von Gewalt die sexuellen Kontakte einseitig forciert haben. Wie bereits erwähnt, ist (sexuelle) Aggressivität eine Form der Abwehr eigener Missbrauchserfahrungen. Ein Altersunterschied von mindestens 5 Jahren zwischen Opfer und Täter gilt zudem als ein Definitionskriterium für sexuellen Missbrauch. Auch die – erwiesene – mindesten einmalige massive Gewalttätigkeit des Bruders gegen die Schwester kann als Hinweis gewertet werden, dass sich Susann K. gegenüber ihrem Bruder in einer Zwangslage empfunden haben könnte. Sie kann zusammen mit einem traditionellen Geschlechtsrollenverständnis zumindest als Indiz für ein Machtgefälle und damit als Indiz für sexuellen Missbrauch gelten.

Somit stellt sich der Fall des „Geschwisterinzests“, wegen dem mittlerweile das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt wurden, und der als „Präzedenzfall“ für nicht strafbaren einvernehmlichen Beischlaf zwischen erwachsenen Geschwistern gelten soll, in seinem Ursprung als Fall von sexuellem Missbrauch zwischen einem acht Jahre älteren, gewalttätigen Bruder und seiner geistig eingeschränkten, minderjährigen Schwester dar. Auch wenn die sexuellen Kontakte (Beischlaf) nach der Volljährigkeit von Susann K. nach deutschem Recht vermutlich tatsächlich nach § 173 StGB behandelt würden.

Keineswegs jedenfalls haben wir es hier mit zwei erwachsenen Menschen zu tun, die vom § 173 StGB in ihrem „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“ behindert werden. Vielmehr muss von zwei in der Kindheit schwer Traumatisierten ausgegangen werden. Diese „Geschwisterliebe“ einschließlich ihrer vermeintlichen „Einvernehmlichkeit“ ist nach allem, was bekannt ist, eher vor dem Hintergrund einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu interpretieren.

„Geschwisterinzest“-Debatte: Cui bono?

Der von einigen Anwälten, Politikern sowie Vertretern der Medien zur Abschaffung des so genannten „Inzestparagraphen“ in Deutschland auserkorene „Präzedenzfall“ stellt sich bei genauerer Betrachtung also in Wahrheit als Präzedenzfall für den Missbrauch von Menschen (durch Anwälte, Journalisten, Politiker usw.) und die Manipulation der Öffentlichkeit zu sehr eigenen Interessen heraus.

Beide Fälle – der des Geschwisterpaares Patrick S. und Susann K. wie der des Adolf B. – machen überaus deutlich: Vor einer Abschaffung des so genannten „Inzestparagraphen“ muss erst einmal sichergestellt sein, dass echte Inzestfälle nach § 173 StGB (also Beischlaf zwischen erwachsenen Verwandten) von Fällen des fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Abhängigen, die über die Gewalttaten erwachsen geworden sind, unterschieden werden. Inzest unter erwachsenen Verwandten muss endlich von seinem Anfang und nicht von seinem Ende her gedacht werden!

Wenn man bedenkt, auf welch magerer Datenlage (wie viele erwachsene Geschwister tatsächlich unter § 173 StGB leiden) diese Debatte seit mehr als vier Jahren heftigst geführt und sogar bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezerrt wurde, muss die Frage erlaubt sein, wer hat wirklich ein gesteigertes Interesse an der Abschaffung der Strafbarkeit des Beischlafs unter Verwandten? Wer hat ein gesteigertes Interesse daran, Inzest zu bagatellisieren oder sein Verbot als „grundlegenden Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“ zu diskreditieren? Wer hat ein gesteigertes Interesse daran, die Opfer zu Mittäter/innen zu machen und die Täter als „Liebende“ zu inszenieren? Wer scheut dazu auch nicht vor Anwendung seiner Macht (als Anwalt, Richter, Journalist, Politiker usw.) und vor Manipulation (der Öffentlichkeit, der Justiz, der Politik usw.) zurück?

Genau.

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