netzwerkB 24.04.2012

Zur aktuellen Debatte um das „Inzestverbot“

von Doro

Bei der aktuellen Inzest-Debatte wird ja – von denen, die den Inzest-Paragraphen abschaffen wollen – öffentlich hauptsächlich auf den so genannten „Geschwister-Inzest“ fokussiert. Dazu werden zwei, drei rührselig aufgemachte „Schicksale“ von angeblich einvernehmlich sexuell verkehrenden Geschwistern (die sich im Übrigen zumeist als Kinder nicht gekannt haben sollen) durch die Medien gejagt.

Tatsächlich untersagt § 173 StGB in Absatz 1 ganz zentral den Vollzug des Beischlafs mit leiblichen Abkömmlingen. Hier geht es also zuallererst um den „Beischlaf“ (also GV) zwischen Eltern mit ihren leiblichen (!) Kindern bzw. Enkelkindern („Abkömmlinge“). Und im Falle des § 173 StGB ist es zunächst unerheblich, ob der sexuelle Kontakt einvernehmlich stattfindet oder es sich um Vergewaltigung handelt. Zentraler Punkt der Strafbarkeit ist die Verwandtschaft und der „Beischlaf“. Wer mit erwachsenen (!) „leiblichen Abkömmlingen“ „Beischlaf“ (also GV, und nur dieser!) praktiziert, macht sich nach § 173 StGB strafbar.

Auch in Absatz 2 des § 173 StGB geht es zunächst um den „Beischlaf“ zwischen Verwandten „aufsteigender Linie“, also wieder Menschen aus unterschiedlichen Generationen, NICHT um Geschwister (= gleiche Generation). Erst in einer Erweiterung zu Absatz 2 und dann in Absatz 3 fokussiert der § 173 StGB den so genannten „Geschwister-Inzest“: „Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen“, heißt es in Absatz 2 Satz 2. Einschränkend allerdings heißt es in Absatz 3 § 173 StGB: „Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.“ Absatz 3 verweist also – so wie ich das verstehe – den „Beischlaf“ mit jemandem, der verwandt und unter 18 Jahre alt ist, aus dem § 173 StGB.

Das heißt (so verstehe ich das): Wenn es um „Beischlaf“ (also GV) zwischen Verwandten geht, bei denen einer oder beide Beteiligte UNTER 18 Jahre alt sind, kommt § 173 StGB sowieso nicht zur Anwendung. Sondern – theoretisch – § 176 StGB („Sexueller Missbrauch mit Kindern“, http://dejure.org/gesetze/StGB/176.html) oder § 182 StGB („Sexueller Missbrauch von Jugendlichen“, http://dejure.org/gesetze/StGB/182.html).

Absatz 2 (Satz 1) und Absatz 3 des so genannten Inzestparagraphen (§ 173 StGB) sind aber insofern äußerst entlarvend (für das deutsche Rechtsverständnis), als dass in Absatz 2 Satz 1 derjenige bestraft wird, der „Beischlaf“ mit leiblichen Verwandten in „aufsteigender Linie“ vollzieht, bzw. in Absatz 3 die „Abkömmlinge“ nicht bestraft werden.

Beide Absätze fokussieren damit kurioserweise (oder mit System?) auf die jeweils „Unteren“ als die/den Aktive/n („vollzieht“) und damit zu Bestrafenden (!):

Der Terminus „Beischlaf mit leiblichen Verwandten in aufsteigender Linie“ (§ 173 StGB Absatz 2 Satz 1) zielt ja im Kern NICHT auf den Vater/Großvater, denn das Verhältnis Vater/Großvater zu Tochter oder Sohn ist absteigend. „Aufsteigend“ dagegen ist das Verwandtschaftsverhältnis von Tochter oder Sohn zu Eltern/Großeltern. Der Satz „Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, ist (…) zu bestrafen“ zielt damit eindeutig auf Tochter oder Sohn (und jeweils andere „Untere“) als zu Bestrafende. Dagegen verschwindet der tatsächlich Mächtigere (Macht funktioniert nicht „aufsteigend“, sondern absteigend!) völlig aus der Wahrnehmung. So lässt dieser Passus sprachlich die tatsächlich mit der Macht zum Vollzug des „Beischlafs“ ausgestatteten (und damit sich strafbar machenden) verschwinden und rückt stattdessen die Unterlegenen ins Zentrum der Strafbarkeit. Wenn das nicht paradox ist!

„Abkömmlinge“ unter 18 Jahren nach Absatz (3) § 173 StGB von der Bestrafung auszunehmen, zielt ebenfalls auf die völlig falsche Personengruppe. Denn das große Problem in Deutschland sind doch nicht die vielen Töchter und Söhne, Enkelinnen und Enkel („Abkömmlinge“), die ihre Mütter und Väter, Großmütter und Großväter zum „Beischlaf“ bewegen wollen (um es mal neutral auszudrücken), sondern genau umgekehrt: die Millionen (siehe Häuser-Studie*) – vorwiegend – Väter und Großväter (und weitere Verwandte), die Töchter und Söhne, Enkelinnen und Enkel vergewaltigen! Auch hier wird also sprachlich eine völlig unangemessene Perspektive vermittelt.

(* Natürlich sind es laut der Häuser-Studie zunächst über 10 Millionen OPFER von sexualisierter Gewalt in der Kindheit und das über mehrere Jahrzehnte hinweg; aber zu diesen Opfern gibt es ja Täter. Und es werden nicht zehn Täter 10 Millionen Opfer „erzeugt“ haben, schon gar nicht über mehrere Jahrzehnte hinweg. Auch nicht tausend Täter. Selbst wenn sicherlich auf einen Täter mehrere Opfer kommen können, erlaube ich mir, von ein bis mehreren Millionen Kindervergewaltigern in Deutschland zu sprechen)

Festzuhalten ist also erst einmal: § 173 StGB bezieht sich zuallererst und hauptsächlich auf den „Beischlaf“ (und nur den „Beischlaf“!) zwischen ERWACHSENEN Verwandten gleicher oder „aufsteigender“/absteigender Linie. Dieses Gesetz wird nun mit einiger Aufregung und medialer Aufmerksamkeit öffentlich breit diskutiert und infrage gestellt wegen des sehr speziellen Falls des „Beischlafs“ zwischen ERWACHSENEN GESCHWISTERN.

Frage: Wie viele solcher Fälle gibt es? Wie groß ist dieses Problem in Deutschland tatsächlich? Wie häufig kommt es vor, dass ZWEI (!) ERWACHSENE (!) Menschen, die MITEINANDER VERWANDT SIND, EINVERNEHMLICH (!) sexuellen Kontakt MITEINANDER wollen? Wie groß also ist die Zahl der ERWACHSENEN, die unter Absatz 2 Satz 2 § 173 StGB wirklich zu leiden haben? Hierzu belastbare Zahlen zu bekommen, ist nahezu unmöglich. Dazu wird allein mit dem Begriff „Inzest“ viel zu fahrlässig und undifferenziert umgegangen.

In der Süddeutschen Zeitung beispielsweise wurde vor kurzem (13. April 2012) der Leiter des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (!), Peer Briken, zum „gesetzlichen Verbot einer sexuellen Beziehung zwischen Geschwistern“ befragt. Merke: Nicht zum „gesetzlichen Verbot einer sexuellen Beziehung zwischen ERWACHSENEN Geschwistern“, obwohl der Hintergrund des Interviews die aktuelle Diskussion über die Rechtmäßigkeit des Inzest-Verbots bei ERWACHSENEN Geschwistern war.

Auf die Frage, wie oft es zu inzestuösen Beziehungen zwischen Geschwistern komme, antwortete Briken: „Es gibt Daten darüber, dass sexuelle Erfahrungen in einem weiteren Sinne zwischen Geschwistern gar nicht so selten sind. Eine Studie nannte in den 1980erJahren die Zahl von zehn Prozent aller Kinder. Da geht es aber in der Regel um Fummeleien oder Berühren. Tatsächliche sexuelle Grenzverletzungen sind – nach allem was wir darüber wissen – sehr viel seltener.“

Frage: Wovon GENAU spricht dieser „Experte“??? Antwort: Von sexuellen Kontakten zwischen Geschwistern im Kindesalter („zehn Prozent aller Kinder“)! Er spricht also über sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen (§ 176 StGB, § 182 StGB) und nicht von „Inzest zwischen erwachsenen Geschwistern“ (§ 173 StGB), um den es aber in dem Artikel eigentlich gehen soll. Hier werden also munter Begriffe, Zahlen und Informationen gemischt und so eher verwirrt und verunsichert als aufgeklärt.

Zudem stellt dieser „Experte“ diese sexuellen Kontakte zwischen KINDLICHEN Geschwistern bagatellisierend als „sexuelle Erfahrungen“, „Fummeleien“ oder (harmloses) „Berühren“ dar, obwohl er einen Satz später selbst betont, dass „bei Inzest zwischen Geschwistern, also Kindern, nur sehr selten ein Gleichgewicht [herrscht]. Es gibt Altersunterschiede und damit unter Umständen auch ein Machtgefälle. In solchen Fällen kann auch Zwang eine Rolle spielen, der manchmal auch subtil ausgeübt wird. Erfahrungen aus der Praxis zeigen: Die psychischen Folgen einer solchen Grenzüberschreitung unterscheiden sich manchmal nicht von denen sexuellen Missbrauchs durch den Vater oder Stiefvater.“ (Zitatende) Ich wiederhole: „sehr selten ein Gleichgewicht“, „Machtgefälle“, „Zwang“. Hier wird also tatsächlich von sexuellem Kindesmissbrauch im strafrechtlichen Sinn gesprochen!

Zur Frage, ob sich „Bruder und Schwester verlieben können“, führt Briken u.a. aus: „Schwärmereien für die Geschwister sind an der Tagesordnung und gehören zur kindlichen Entwicklung. Eine Liebe über längere Zeit mit sexueller Beziehung ist eher die Ausnahme“ und „zahlenmäßig ist Geschwisterinzest doch eher eine Randerscheinung“. (http://www.sueddeutsche.de/leben/psychiater-ueber-inzest-unter-geschwistern-aehnliche-psychische-folgen-wie-durch-missbrauch-1.1332160)

Abgesehen davon, dass auch dieser „Experte“ hier weitere Falschinformationen verbreitet und Bagatellisierung von sexuellem Missbrauch durch Brüder betreibt – indem er sexuellen Missbrauch durch Brüder, dem er noch wenige Sätze zuvor „Machtgefälle“, „Zwang“ bescheinigte, als „Liebe“ bezeichnet, und ihn als „Randerscheinung“ abtut, obwohl er ebenfalls kurz zuvor von 10 Prozent sprach! –, spricht er wieder eindeutig von sexuellen Kontakten im Kindesalter und NICHT von dem, um was es in der derzeitigen „Inzestverbot“-Debatte (anscheinend) geht.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht stellt zur Datenlage des Geschwisterinzests fest: „Die Sekundäranalyse empirischer Forschung zu Inzidenz (Häufigkeit von inzestuösen Handlungen, Dauer und Intensität von inzestuösen Beziehungen) und Prävalenz des Geschwisterinzests (Anteil einer bestimmten Population, der jedenfalls einmal inzestuöse Handlungen begangen hat oder inzestuösen Handlungen ausgesetzt war) verweist aber auf eine NUR BESCHRÄNKTE DATENLAGE, die KEINE SICHEREEN RÜCKSCHLÜSSE auf die Frage erlaubt, mit welcher Häufigkeit inzestuöse Handlungen zwischen Geschwistern auftreten und wie sich die Dauer sowie die Intensität der Beziehungen entwickeln“ (Hervorhebungen durch mich). In Forschungslinien werde der Inzest weitgehend mit sexuellem Missbrauch gleichgesetzt. Insoweit ergäben sich Beschränkungen, die sich auf das Alter (das Forschungsinteresse konzentriert sich auf sexuelle Handlungen im Kindheits- und Jugendalter) sowie die Opferstellung (des kindlichen oder jugendlichen Sexualpartners) bezögen. Einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen (oder gleichaltrigen) Familienmitgliedern würden lediglich am Rande, miterfasst oder von vornherein ausgeschlossen.

Deshalb also noch einmal die Frage: Auf welcher Datenlage wird eigentlich die aktuelle „Inzestverbots“-Debatte geführt bzw. ihre Notwendigkeit begründet?

Ach ja, stimmt, da gibt es ja noch den einen oder anderen plakativen Einzelfall, wie derzeit beispielsweise den von Susann K. und ihrem Bruder Patrick S., der rührselig durch die Medien gezogen wird. Sie werden herzergreifend zu Opfern eines „unnötigen Gesetzes“ stilisiert, einer überkommenen Moralvorstellung, die zwei Erwachsenen, die sich „lieben“ und die „einvernehmlichen Beischlaf“ haben, scheinbar zu „Verbrechern“ macht.

Nun, die tatsächliche Geschichte dürfte sich etwas anders gestalten. Jedenfalls geht aus einer Stellungnahme von „M.E.L.I.N.A. Inzestkinder/Menschen aus VerGEWALTigung“ (Verein von so genannten Inzestkindern) hervor, dass Susann K. (geb. 1984) eine Förderschule bis zur 8. Klasse besucht hat. Laut ihrem Anwalt (!) hat Susann K. „erhebliche Probleme mit Lesen und Schreiben, weshalb ihre Fähigkeit zur Selbstvertretung erheblich beschränkt sei“!

Zweitens wird daraus ersichtlich, dass Patrick S. (geb. 1976), der Bruder von Susann K. und Vater der gemeinsamen Kinder, acht Jahre älter ist als seine Schwester (!). Beide sollen im Übrigen in den frühen Kinderzeiten auch zusammen gelebt haben (also von wegen „erst als Erwachsene begegnet“). Laut Urteilsbegründung des Amtsgerichts Leipzig (Hauptverhandlung 2005 wegen „Beischlafs“ zwischen Verwandten) trat Patrick S. auch mit anderen Gesetzesverstößen und Verhaltensauffälligkeiten hervor wie beispielsweise Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Laut Urteil des Amtsgerichts Borna wurde er wegen VORSÄTZLICHER KÖRPERVERLETZUNG (Hervorhebung durch mich) verurteilt: Er hatte seiner Schwester Susann K. (!) mit der Faust ins Gesicht geschlagen.

Wer hier noch von „Geschwisterliebe“ faselt, gehört meiner Ansicht nach wegen unterlassener Hilfeleistung (für Susann K.) und Verschleierung eines Straftatbestands (Schwerer sexueller Missbrauch) angezeigt. Sowohl der Altersunterschied (ein Altersunterschied von mindestens 5 Jahren zwischen Opfer und Täter gilt als ein Definitionskriterium für sexuellen Missbrauch), wie der Reifegrad (Förderschule) des Missbrauchsopfers (was auf ein Machtgefälle schließen lässt), wie die – nachgewiesene – Gewalt des Missbrauchstäters gegen sein Opfer, lassen überhaupt keinen anderen Schluss zu. Mögliche abschwächende Aussagen des Opfers Susann K. lassen sich klar mit aktuellen Erkenntnissen der Traumaforschung in Einklang bringen.

Hier bestätigt sich also wieder einmal, dass sexueller Missbrauch GERADE UNTER GESCHWISTERN häufig verleugnet oder – siehe Interview Briken/Süddeutsche Zeitung – als „Fummeleien“ oder „sexuelle Erfahrungen“ bagatellisiert wird. Als besonders dreist allerdings kann der Missbrauch (!) dieses Einzelfalles (Geschwister Susann K. und Patrick S.) zum Zwecke der öffentlichen INZESTdebatte (DENN DARUM GEHT ES TATSÄCHLICH!) bezeichnet werden. Tatsächlich geht es nämlich nicht um eine „Inzestverbot“- oder „Geschwisterinzest“-Debatte (wie zu beweisen ist, s.o. Ausführungen zu § 173 StGB) sondern es geht um die Thematisierung von Inzest. Es geht darum, das Thema den Opfern (wieder) zu entreißen und es wieder im Sinne der Täter zu füllen/definieren.

Die Täter und ihre Lobby verfolgen mit dieser Debatte auf einem (was die Missbrauchsdebatte betrifft) eigentlich eher als „Nebenschauplatz“ (EINVERNEHMLICHER „Beischlaf“ zwischen ERWACHSENEN Geschwistern) zu bezeichnenden Feld das Ziel, wieder die Definitionsmacht über sexuelle Kontakte von Erwachsenen zu Verwandten (bevorzugt hauptsächlich Kindern) zu erlangen. Dazu nutzen sie die auch in „Fachkreisen“ sowie in der Öffentlichkeit und in den Medien weit verbreitete undifferenzierte und damit fahrlässige Umgangsweise mit dem Begriff „Inzest“.

„Inzest“ als allgemeiner Begriff für sexuelle Kontakte zwischen Verwandten macht die tatsächlichen Machtverhältnisse, die „Selbstbedienungsmentalität“ der erwachsenen und überwiegend männlichen Täter gegenüber ihren eigenen Kindern (oder Stiefkindern), die Einseitigkeit der Interessen, die Schwere der Straftaten sowie die Gefühle der unterworfenen und vergewaltigten Opfer unsichtbar. Die aktuelle Debatte führt die Aufmerksamkeit und die Emotionen sehr geschickt auf die „harmlose“ einvernehmliche sexuelle Verbindung zwischen erwachsenen Geschwistern, ihr „Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Piraten-Partei), und beklagt die „konservativen Werte- und Normenvorstellungen“ unserer Gesellschaft, die im Inzestverbot deutlich würden und überkommen seien (Ströbele, GRÜNE).

Nochmals: Man muss fragen, wieso ausgerechnet so ein marginales Thema wie einvernehmlicher sexueller Kontakt zwischen erwachsenen Geschwistern so in den Mittelpunkt gerückt wird?

Mit der Diskussion über einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen erwachsenen Geschwistern, deren Notwendigkeit durch keinerlei Zahlen oder ein pandemisches Ausmaß an Leid bei dieser speziellen „Inzestgruppe“ belegt ist, wird von der TATSÄCHLICH NACHGEWIESENEN vielfachen, häufig jahrelangen schweren sexualisierten Gewalt PANDEMISCHEN AUSMASSES an Kindern und Jugendlichen in diesem Land durch ihre Väter, Großväter, Brüder, Cousins, Onkel, Stiefväter usw., wie sie durch die Ereignisse seit 2010 aufgedeckt wurden, abgelenkt.

Damit schlagen die Täter und ihre Lobby mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe: Da Aufmerksamkeit (und Platz in den Medien!) begrenzt ist, verdrängen sie die TATSÄCHLICHEN vielfachen Fälle von sexualisierter Kindervergewaltigung und ihre weitere intensive und differenzierte Aufklärung von der Bildfläche. Zweitens reißen sie damit die „Informations“- und Definitionsmacht wieder an sich. Zwar wird nach wie vor über „Inzest“ gesprochen. Nur nicht über den, der TATSÄCHLICH tagtäglich und in pandemischem Ausmaß stattfindet.

Gerade dadurch, dass die Diskussionsanführer/innen eigentlich einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen erwachsenen Geschwistern meinen, ihre Statements aber allgemein zu „Inzest“ abgeben, transportieren sie implizit auch eine ganze Menge täterentlastende und opferbelastende „Informationen“. Beispielsweise die Frage, ob jeder sexuelle Kontakt zwischen Verwandten überhaupt Opfer produziert. Oder die, dass manche Opfer gar nichts gegen die Annäherung von Verwandten haben. Oder auch die, dass nicht die Täter und die Taten das Problem sind, sondern die Gesetze, bzw. die „zu enge/veraltete Moral” und die MoralistInnen in unserer Gesellschaft.

Ziel (und leider Ergebnis) ist es, die breite Gesellschaft zu verwirren und zu verunsichern hinsichtlich des Umgangs mit Opfern und der adäquaten Beurteilung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Verwirrte, verunsicherte Menschen werden sich erst einmal nicht eindeutig auf die Seite der Opfer/Betroffenen stellen – schließlich weiß man ja nicht… Verwirrte, verunsicherte Menschen werden sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen immer als etwas empfinden, zu dem man keine eindeutige Haltung haben kann und bei dem die Rolle des Opfers nicht eindeutig ist. Insofern werden verwirrte, verunsicherte Menschen – in der Gesellschaft, in der Politik, der Justiz, den Facheinrichtungen – dann immer eher dazu neigen, „im Zweifel für die Angeklagten“ (Täter) zu stimmen. Und voilá: Sieg auf ganzer Linie für die Täterlobby.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 26. Februar 2008 jedenfalls vorerst DEN ABSATZ 2 SATZ 2 StGB – also speziell den Passus des so genannten „Geschwisterinzests“ – für verfassungsgemäß erklärt (http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg08-029.html). Die „Bewahrung der familiären Ordnung vor schädigenden Wirkungen des Inzests, der Schutz der in einer Inzestbeziehung „unterlegenen“ Partner sowie ergänzend die Vermeidung schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankungen bei Abkömmlingen aus Inzestbeziehungen“ reicht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus, „das in der Gesellschaft verankerte Inzesttabu strafrechtlich zu sanktionieren“. Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: „Die Entscheidung des Gesetzgebers, den Geschwisterinzest mit Strafe zu bewehren, ist nach dem in erster Linie anzulegenden Maßstab von Art. 2 Abs. 1 („Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“; Recht auf sexuelle Selbstbestimmung) verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“

Richter Wilfried Hassemer, Mitglied des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes, hat der Entscheidung eine abweichende Meinung (sog. „Sondervotum“) angefügt. Nach seiner Auffassung steht die Norm mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang. Er kritisiert beispielsweise die „Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte“, die seiner Meinung nach „von vornherein kein verfassungsrechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm“ sei. Er kritisiert außerdem die verfassungsrechtliche Rechtfertigung im Schutz von Ehe und Familie, der seiner Ansicht nach beim so genannten „Geschwisterinzest“ keine Rolle spiele/spielen könne (ausführlich siehe http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg08-029.html).

Inwieweit dieses so genannte „Sondervotum“ des Richters Hassemer in der anhaltenden Diskussion um den so genannten „Geschwisterinzest“ noch eine (gewichtige) Rolle spielt, ist schwer vorherzusagen. Laut Wikipedia spielen Sondervoten, gemessen an den Entscheidungen, eine relativ geringe Rolle. Von den 1.714 abgedruckten Entscheidungen in den Bänden BVerfGE 30–101 enthielten lediglich 108 Entscheidungen Sondervoten. Zitiert werde in der Literatur vor allem die Mehrheitsmeinung, während die Argumentation der Sondervoten im späteren wissenschaftlichen Diskurs häufig nur eine untergeordnete Rolle spiele. Dennoch könnten Sondervoten zu einer RECHTSSPRECHUNGSLENKUNG führen. So könne ein Sondervotum z. B. einen späteren Rechtsprechungswandel andeuten, wenn sich die MEINUNGEN AUFGRUND VON GESELLSCHAFTLICHEM WANDEL ändern. Auch bei der konkreten Entscheidung könne die Ankündigung eines Sondervotums zu einer intensiveren Debatte innerhalb des Kollegiums führen und so ein ausgeglicheneres Ergebnis ermöglichen. (Quelle: Wikipedia, Hervorhebungen durch mich)

Insofern ist die aktuelle Debatte, die – wie ich bereits dargestellt habe – durchaus die Züge der Täterlobby trägt, sicher nicht zu unterschätzen. Die Meinungen über sexualisierte Gewalt gegen Kinder, aber insbesondere gegen Jugendliche, sind in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr stark von Falschinformationen, Stereotypen, Vorurteilen usw. geprägt. Auch die Medien fallen in der Mehrzahl nicht durch differenzierte Darstellung der Problematik auf, sondern bedienen im Gegenteil genau die gesellschaftlich weit verbreiteten Falschannahmen und Stereotype. Diese gesellschaftlich weit verbreiteten Fehl- und Falschannahmen über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen und die unfassbare Bereitwilligkeit der Medien, sich ausschließlich auf diese zu stützen, sind der nach wie vor „gute Humus“ für die Täterlobby.

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