netzwerkB 09.03.2012

Offener Brief an Justizministerin Dr. Beate Merk – Zur Notwendigkeit der Verjährungsfristen

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Sehr geehrte Frau Dr. Merk

Es freut uns, dass Sie unser Schreiben vom 02.01.2012 (http://netzwerkb.org/wp-content/uploads/2012/03/Merk_02.01.2012.pdf)
 zu einer Aufhebung der Verjährungsfristen so positiv aufgenommen haben. Dennoch machen Sie uns in ihrem Antwortschreiben vor allem auf die politischen Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten aufmerksam, die unser Vorhaben, die Verjährungsfristen aufzuheben, hat. Sie versuchen, aus einer ihrer Auffassung realistischen Perspektive zu argumentieren und setzen demnach vor allem auf Verlängerung der Verjährungsfristen. Damit setzen Sie sich zwar politisch für das ihrer Einschätzung nach Mögliche ein, dennoch aber schreiben Sie:

„Für ihre [netzwerkB] darüber hinausgehende Forderung, die Verjährung bei Fällen sexualisierter Gewalt gänzlich abzuschaffen, habe ich viel Verständnis. Ich sehe diese Forderung jedoch anders als diejenige einer deutlichen Verlängerung der Fristen als politisch leider nicht durchsetzbar.“ (zitiert aus dem Schreiben von Frau Dr. Merk an netzwerkB vom 10.02.2012).

Da Sie bedauern, dass unsere Forderungen nicht durchsetzbar seien, werten wir Ihren Brief als indirekte Zustimmung und Unterstützung unseres Vorhabens. Bei netzwerkB geht es uns prinzipiell nicht um die politischen Möglichkeiten, sondern um die Notwendigkeiten, die sich aus den Einsichten in den Kindesschutz und aus den Konsequenzen von sexualisierter Gewalt überhaupt ergeben. Es ist unserer Ansicht eine Frage der allgemeinen Gerechtigkeit das Klagerecht für Betroffene einzufordern, die sich so viele Jahre nicht äußern konnten, Angst und Scham hatten, sich so gehemmt sahen oder gar über viele Jahre überhaupt nicht erinnern konnten.

Die Aufhebung der Verjährungsfristen bei sexualisierter Gewalt ist nach Ansicht netzwerkB‘s ein tiefes Bekenntnis zum Schutz der Menschenwürde des Einzelnen, der aufgrund der Schwere der Verbrechen an seiner Seele nicht mehr unter dem Druck einer Klageerhebung stehen würde. Die Aufhebung wäre darüber hinaus ein Signal, dass wir unsere Kinder gerade in ihrer Entwicklung unmissverständlich schützen wollen. Wir würden damit anerkennen, dass Eingriffe in die Psyche in so jungen Jahren, Konsequenzen für ein ganzes Leben haben. Es liegt hierin eine Chance begründet, Ketten der Gewalt in unserer Gesellschaft zu durchbrechen und eine nachhaltige Veränderung im Miteinander der Menschen zu bewirken. Diese Chance rückt näher und wir hoffen, dass sie sich bald von politisch programmierten Sachzwängen lösen und nicht nur eine quantitative Verbesserung, sondern den Qualitätssprung einer Aufhebung in den Blick nehmen.

Uns von netzwerkB geht es aus diesen Gründen weniger um die unmittelbaren Konsequenzen für mögliche Gerichtsverfahren, sondern es geht uns um die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die wir gegenüber Kindern herstellen müssen und die wir so lange Zeit in unseren Gesetzen vernachlässigt haben. Allein die Tatsache, dass wir nach unserem gegenwärtigen Gesetz sexualisierte Gewalt gegen Kinder immer noch als Vergehen und nicht als Verbrechen werten, zeigt diesen Missstand an.

Sie haben an dieser Stelle nun gänzlich Recht, wenn Sie uns in ihrem Brief darauf hinweisen, dass unsere Forderung einer Aufhebung der Verjährungsfristen einen Systembruch bedeutet. Unserer Sicht aber hat das Gerechte gegenüber den Kinder als gegenüber dem Betroffenen, dem die Verjährungsfristen zusetzen, Vorrang vor einem formalen System, das allein irgendwie funktionieren mag. Um dieses immer wieder zu verdeutlichen, zeigt netzwerkB die tatsächlichen Leidensgeschichten Betroffener auf, die an den jetzigen Verjährungsfristen leiden. Da sich hier die Ungerechtigkeit anhand der lebensweltlichen Perspektive offenbart, so glauben wir, dass der Systembruch (gleich ob als möglich oder unmöglich diskutiert) als notwendig eingesehen werden kann. So geschah es auch auf dem Parteitag der SPD, wo ein eingebrachter Antrag auf Aufhebung der Verjährungsfristen ohne Gegenstimme angenommen wurde (Das Video hierzu ist unter folgendem Link zu finden: http://netzwerkb.org/2011/12/06/antrag-zur-aufhebung-der-verjahrungsfristen-einstimmig-angenommen/).

Mit der Forderung nach rückwirkender Aufhebung der Verjährungsfristen beschränkt sich netzwerkB nicht auf das, was durch eine geltende Verfassung pauschal als gerecht ausgegeben wird, sondern hinterfragt die Gründe der Gültigkeit dieses Rechts. Wir glauben an eine Demokratie, die sich selbst am Maßstab der Gerechtigkeit, an den Weisungen der Lebenswelt immer wieder neu bestimmt und keine einmalig universalisierten Denkgesetze diktiert, sondern im Diskurs ihre Gültigkeit immer wieder neu bestimmt. Dieses Ideal der Gerechtigkeit verlangt es, dass wir zunächst angebliche Sachzwänge überwinden und uns für das Ideal des Gerechten auch einsetzen. Wir dürfen uns nicht schon im Vorfeld programmatisch auf Lösungen eines angeblich festgefügten Systems eingrenzen lassen.

Daher verstehen Sie: Ihre vorgeschlagene Verlängerung der Verjährungsfristen ist zwar durchaus eine relative Verbesserung. Dies sehen wir ein, aber die Aufhebung der Verjährungsfristen unterscheidet sich nochmal erheblich in ihrer Qualität im Hinblick auf das, was nur gerecht sein kann.

Gleichwohl jedoch die Lebensperspektive Betroffener bei uns im Mittelpunkt steht (denn die Gerechtigkeit für die Menschen und nicht das formale Gesetz ist das höchste Maß für eine Demokratie), möchten wir zu ihrem Schreiben vom 10.02.2012 dennoch folgende, rechtliche Anmerkungen hinzufügen:

netzwerkB ist die Problematik des Rückwirkungsverbotes, das einer vollständigen Aufhebung von Verjährungsfristen grundsätzlich entgegensteht, durchaus bekannt und ebenso bewusst wie die Tatsache, dass sich eine bloße Verlängerung der Verjährungsfristen sowohl im Zivilrecht als auch im Strafrecht politisch wesentlich leichter durchsetzen ließe. Eine verfassungsrechtliche Überprüfung der bestehenden Regelungen würde daher ausdrücklich begrüßt werden.

netzwerkB hat allerdings schon häufig darauf verwiesen, dass das strafrechtliche Rückwirkungsverbot sich ausschließlich auf das materielle Straftat bezieht, folglich auf die Straftatbestände als solche, und formelle Vorschriften dem Rückwirkungsverbot gerade nicht unterliegen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits (in seiner in der Entscheidungssammlung als BVerfGE 25, 269 ff. veröffentlichten Entscheidung) festgestellt, dass die Verjährungsfristen formeller Natur sind und eine rückwirkende Verlängerung oder Aufhebung der Verjährungsfristen – selbstredend in engen Grenzen – durchaus für zulässig erachtet.

Die pauschale Behauptung einer vollständigen und rückwirkenden Aufhebung der Verjährungsfristen stehe das sich unter anderem aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Verbot der „echten  Rückwirkung“ entgegen, ist daher als unzutreffend anzusehen.

„Gern übersehen“ wird hier meist der Fakt, dass die betroffenen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bereits zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbar waren und durch eine vollständige Aufhebung der strafrechtlichen Verjährungsfristen gerade kein neuer Straftatbestand oder eine rückwirkende Änderung eines Straftatbestandes geschaffen wird.

Die Argumentation, die Aufhebung der zivilrechtlichen Verjährungsfristen erfordere einen Systembruch, ist grundsätzlich zutreffend, kann in Anbetracht des durch die Betroffenen sexualisierter Gewalt häufig über deren ganzes Leben hinweg erlebten Leides nicht zu einem Abrücken von der entsprechenden Forderung führen. Systembrüche sind darüber hinaus weder unter verfassungsrechtlichen, noch unter sonstigen Gesichtspunkten grundsätzlich verboten.

Im Vordergrund jedes politischen Vorhabens, insbesondere jedes Gesetzgebungsvorhabens, kann nach dieser Auffassung nur das Gemeinwohl und damit in Bezug auf die Debatte über die Verjährungsfristen auch das Wohl sowie die Gerechtigkeit gegenüber Betroffenen stehen. Keine Überlegung hinsichtlich der etwaigen politischen Durchsetzbarkeit oder etwaiger Schwierigkeiten bei der Umsetzung aufgrund der Einführung systematischer Änderungen in einem Gesetzbuch kann dies ohne Weiteres in Abweis bringen. Auch dieser Ansatz entspringt Art. 20 des Grundgesetzes, in diesem Fall dessen Absatz 1 – dem Gebot der Sozialstaatlichkeit.

Ich hoffe, Sie erkennen, dass das von netzwerkB als Notwendig erachtete (nämlich die Aufhebung der Verjährungsfristen) zugleich auch im Rahmen des Möglichen liegt. Neben ihrer politischen Eingebundenheit sprechen Sie sich schließlich selbst für die notwendige Aufhebung der Verjährungsfristen aus. In diesem Sinne lassen Sie schließlich in der Südwestpresse verlauten:

„Während bei Vermögensdelikten drakonische Strafen verhängt werden, seien die Strafen bei sexuellem Missbrauch häufig zu gering. „Da muss sich im Gesetzbuch noch einiges ändern“, sagte Merk. Ein entscheidender Aspekt sei auch die Verjährung. Denn viele Opfer seien auch mit 18 Jahren noch nicht in der Lage, sich über das ihnen zugefügte Leid zu äußern. Die Kraft, darüber zu sprechen, könnten sie, wenn überhaupt, oftmals erst nach Jahrzehnten aufbringen. „Daher sollte die Verjährung wenigstens auf 30 Jahre angehoben oder abgeschafft werden“, sagte Merk.“ (http://www.swp.de/ulm/lokales/ulm_neu_ulm/Verjaehrung-gehoert-auf-den-Pruefstand;art4329,1365118)

Wir sehen durchaus, dass Sie hier in einem Konflikt zwischen dem politisch Möglichen und dem gesellschaftlich Notwendigen stehen; wir von netzwerkB aber wollen Sie darin bestärken, den Absprung von politischen Sachzwängen zu schaffen und ihre Angst zu überwinden, das Gerechte noch stärker einzufordern. Die Entscheidung für die Unverjährbarkeit (http://netzwerkb.org/2012/03/06/unverjahrbarkeit-altersgrenze-bei-zwolf-jahren/) in der Schweiz gibt uns und ihnen Rückenwind. Auch die SPD (http://netzwerkb.org/2011/12/06/antrag-zur-aufhebung-der-verjahrungsfristen-einstimmig-angenommen/) und die GRÜNEN (http://netzwerkb.org/2011/11/27/keine-verjahrung-fur-vergewaltigung-und-sexuellen-missbrauch/) mögen sich langsam zu einer geänderten Auffassung durchringen. Vertrauen Sie auf unsere Unterstützung, insofern Sie sich für eine Aufhebung der Verjährungsfristen einsetzen. Deutschland könnte so endlich eine weltweite Vorreiterrolle in Fragen zum Kinderschutz einnehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Norbert Denef


netzwerkB.org (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt) ist eine unabhängige Interessenvertretung. Wir setzen uns für die Rechte Betroffener ein, indem wir das gesellschaftliche Schweigen brechen, über Ursachen und Auswirkungen sexualisierter Misshandlung informieren, beraten und uns für konkrete Veränderungen stark machen.

netzwerkB bittet darum an Betroffene die netzwerkB-Kontaktdaten weiterzugeben sowie die Kontakt-Email (info@netzwerkb.org) und Website (www.netzwerkB.org) zu veröffentlichen.

Für Journalisten-Rückfragen:
netzwerkB – Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt e.V.
Norbert Denef, Vorsitzender
Telefon: +49 (0)4503 892782
Mobil: +49 (0)163 1625091

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