WELT ONLINE 2.10.2011
Zwei Opfer sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche erzählen von ihrem Treffen mit Benedikt XVI.in Erfurt
Sonja F. fällt es schwer, zu Hochzeiten oder Taufen von Freunden und Verwandten zu gehen. Die 35-Jährige erträgt die katholischen Gottesdienste nicht, die Rituale, die Gebete, die Gewänder. Besonders bei der Wandlung und den Worten „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird“ -, da wird ihr „übel, mulmig“. Sie war neun Jahre alt, als sie in einer kleinen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen Messdienerin wurde, das erste Mädchen in diesem Amt in jenem Ort, den sie nicht nennen möchte. Was ihr dort in den Kirchenräumen seit ihrem siebten Lebensjahr von einem Priester immer wieder angetan wurde, kann sie nur schwer erzählen. Immer wieder unterbricht sie sich, starrt ins Leere. Bis vor wenigen Jahren hat sie geschwiegen, niemandem von dem sexuellen Missbrauch erzählt. Ihre Stimme ist leise: „Er hat gesagt, das passiert alles in Gottes Sinne, und wenn ich darüber rede mit irgendjemandem, dann sieht Gott das, weil Gott alles sieht, und wird mich dann strafen.“
Jahrelanges Schweigen im Sinne Gottes. Und nun sollte sie alles erzählen – dem „Stellvertreter“, dem Papst. Als sie ihre Einladung bekam, wurde ihr mitgeteilt, sie solle vorab mit niemandem über dieses Treffen in Erfurt sprechen – zum Schutz der Privatsphäre der Opfer. Schweigen, nicht reden dürfen, das weckt in ihr Erinnerungen: die vielen gewalttätigen Momente, die Ohnmacht, der Verlust ihrer Kindheit. Diesen Verlust teilt Alfred B. mit ihr. Er war ebenfalls zum geheimen Treffen mit dem Papst eingeladen. Auch Alfred B. hatte, wie Sonja F., nicht Kind sein dürfen. Der 63-Jährige lebt heute in Stuttgart. Er wurde 1948 von seiner Mutter nur einen Tag nach seiner Geburt in ein ländliches, abgelegenes Kreiskinderheim nach Baersdonk nahe Geldern gegeben. Die Mutter wollte ihn nicht, und zwei Ordensschwestern im Heim behandelten ihn eher wie ein Tier als wie einen Menschen. Als er neun war, kam sexueller Missbrauch durch eine der beiden Schwestern hinzu. Unter der Obhut der Kirche. Und nun ein Treffen mit dem Oberhaupt der Institution. Alfred B. hatte sich zuvor bereits an die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) sowie an Ordensschwestern gewandt. So kam er nach Erfurt. Sonja wurde auch über die DBK, bei der sie zuvor einen Entschädigungsantrag gestellt hatte, eingeladen.
Es war Freitagabend, der zweite Tag des Papstbesuchs, draußen dämmerte es. Drinnen im Erfurter Priesterseminar saßen Sonja und Alfred mit den drei anderen Missbrauchsopfern um einen Holztisch herum. Irgendwo im nüchternen Raum hing ein Kreuz. Die fünf warteten auf den Papst. Die Verbrechen unter kirchlichen Dächern waren auf einmal wieder zum Greifen nah. Am Nachmittag hatten sich die fünf kennengelernt. Und Bischof Ackermann, der DBK-Beauftragte für das Missbrauchsthema, war die ganze Zeit über dabei. Die exklusive Zusammenkunft war von der DBK auf Wunsch des Papstes organisiert worden. Die Geheimhaltung und die Art des Treffens wurden von vielen Seiten kritisiert, vor allem von den Opferverbänden. „Ein neues Treffen nach dem Muster Verleugnen, Verschweigen und Vertuschen“ sei dies gewesen, so das Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt.
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