netzwerkB 12.09.2011

von K. M. (Eine Betroffene)

Unsere Gesellschaft ist blind für das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern. Ich bin der Meinung, dass sich das so lange nichts ändern kann, bis eine kollektive Aufarbeitung auch der körperlichen und psychischen Gewalt, die an Kindern aller Zeiten verübt wurde begonnen hat.

Denn:
Wer selbst als Kind körperliche Gewalt erlebt hat (und das sind fast alle heute Erwachsenen) und diese Gewalt verdrängt und nicht aufgearbeitet hat (das verdeutlicht sich z.B. in einer Haltung wie „die paar Ohrfeigen/Klapse haben mir nicht geschadet“) ist nicht fähig das durch Gewalt verursachte Leid von Kindern mitzuempfinden. Das betrifft auch das Leid, das durch sexualisierte Gewalt verursacht wurde.

Gut fände ich, wenn die Betroffenen von sexualisierter Gewalt sich mit den Betroffenen von körperlicher Gewalt solidarisieren würden und gemeinsam gegen das Vergessen und Bagatellisieren kämpfen würden. Dass nicht Fronten entstehen wie hier die Betroffenen – da die – blinde – Gesellschaft.

Die ganze Gesellschaft ist betroffen!

Denn fast alle heute Erwachsenen haben als Kinder körperliche (und damit auch gleichzeitig psychische) Gewalt erlebt, auch wenn sie sie verdrängen oder/und bagatellisieren. Viele haben auch gleichzeitig sexualisierte Gewalt erlebt. Oft ist ja sexualisierte Gewalt mit körperlicher verknüpft, da mittels körperlicher Gewalt das Schweigen über die sexualisierte Gewalt erzwungen wird.

Es ist zwar wichtig, dass das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern endlich enttabuisiert wird. Gleichzeitig sollte die körperliche Gewalt nicht vergessen werden, denn alle Formen von Kindesmisshandlung traumatisieren Menschen ihr Leben lang.

So seltsam es klingen mag, ich denke, das Thema körperliche Gewalt an Kindern muss erneut enttabuisiert werden. Denn noch sind die Missstände erschreckend, die Gewalt findet täglich statt, vielleicht nicht mehr so öffentlich wie noch vor 20 Jahren, doch die Schädigungen, die Kindern zugefügt werden sind die gleichen.

Die UN-Kinderrechtskonvention war ein erster Schritt, um endlich mehr Bewusstsein in die Thematik zu bringen, doch die Umsetzung in Politik, Gesetzgebung und Praxis liegt noch sehr im Argen.

Dies schreibt im Übrigen eine Betroffene, die sowohl psychische als auch körperliche und sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit erfahren hat. Es geht nicht darum, die Betroffenen gegeneinander auszuspielen.

Was erschwerend bei der Auflösung der Blindheit der Gesellschaft hinzukommt ist die Tatsache, dass viele als Kinder Betroffene später als Eltern oder Erzieher_innen/Betreuer_innen/Lehrer_innen selbst zu Gewalttäter_innen werden.

Dass sie zu Täter_innen werden hat seine Ursache unter anderem darin, dass sie die selbst erlittene Gewalt aufgrund der Blindheit der Gesellschaft niemals aufarbeiten konnten. Religiöse Normen wie das vierte Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ erschweren die Aufarbeitung zusätzlich.

Die Täter_innen wenden wiederum sehr viel Kraft auf, um die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Gewalt an Kindern unschädlich sei, und sie somit unschuldig. So tragen sie maßgeblich zur Aufrechterhaltung der Blindheit der Gesellschaft bei. Besonders verheerend ist dies im juristischen und gesetzgebenden Bereich, wo „fleißig“ Täter_innen, also Gleichgesinnte geschützt werden und das auf dem Rücken der Betroffenen.

Ich halte es für wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass die Täter_innen MITTEN UNTER UNS sind.

Denn nur die Ächtung von Täter_innen und deren die Gewalt bagatellisierende Haltung kann die gesamte Haltung der Gesellschaft ändern. Dazu kann jede/r einzelne in jedem Moment beitragen:

  • Man kann Eltern, die in der Öffentlichkeit ihre Kinder anschreien oder gar schlagen die Meinung sagen (dazu gehört Mut!).
  • Man kann im Freundeskreis bei Diskussionen über Gewalt in der Erziehung deutlich für Kinder einstehen.
  • Man kann Politiker_innen oder Parteien wählen, die sich für Kinder und gegen Kindesmisshandlung einsetzen.
  • Man kann in einer Situation, in der Kinder ausgelacht werden ob ihrer „Unbeholfenheit“ (was leider sehr häufig vorkommt) einfach nicht mitlachen.
  • Man kann sich gegen Veröffentlichungen, die Kindesmisshandlung bagatellisieren oder schwarze Pädagogik in neuem Gewand propagieren mit Kommentaren und Leserbriefen zur Wehr setzen.
  • Man kann betroffenen Kindern, die offensichtlich durch Gewalt im Elternhaus geschädigt sind vermitteln, dass Gewalt nicht normal ist.