Pressemitteilung netzwerkB (als PDF herunter laden)

Offener Brief: „Vom Gedächtnis schwer getäuscht“

von Lilly Maier

An

stern.de GmbH
Chefredakteur Frank Thomsen
20444 Hamburg

Bezug: Sylvie-Sophie Schindler: „Vom Gedächtnis schwer getäuscht“, 01.08.11

Sehr geehrte Damen und Herren,

Kennen Sie die Kampagne „Sprechen hilft“ der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs? Sie soll Betroffenen Mut machen, über das, was sie erlebt haben, zu reden. Denn Reden kann befreien. Darüber sprechen hilft. Und kann die Handlungsspielräume der Täter und Täterinnen verringern und deren Macht brechen.

Viele Betroffene schweigen oft Jahrzehnte lang über das Schreckliche, das sie in ihrer Kindheit erfahren mussten. Manche können tatsächlich lange nicht auf die Erinnerungen an die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit zurückgreifen. Expertinnen und Experten bestätigen, dass dies u.a. mit neurologischen Stressreaktionen des Gehirns zusammenhängt: Weil das Erlebte die normalen Verarbeitungs- und Reaktionsmöglichkeiten des Kindes überfordert, wird es abgespalten und kann so lange „vergessen“ werden.

Viele andere mittlerweile sehr gut erforschte Gründe dafür, dass Menschen, die als Kind (womöglich noch von Vertrauenspersonen) über viele Jahre lang sexuelle Gewalt erfahren haben, lange nicht über ihre Erlebnisse sprechen, sind Abwehr, Verleugnung, Verwirrung, Scham, gesellschaftliche Tabuisierung, Angst vor Stigmatisierung, uvm.

Die jahrelange gesellschaftliche Verdrängung der Problematik hat das Ihrige dazu beigetragen, dass sehr viel Betroffene über viele Jahre versuchten und immer noch versuchen, alleine mit ihrer Last fertig zu werden und sich möglichst nach außen nichts anmerken zu lassen. Ebenso bestehen durch die jahrelange gesellschaftliche Verdrängung der Problematik außerhalb der Fachwelt falsche Vorstellungen darüber, wie sich Betroffenheit äußert.

Wenn Menschen scheinbar „plötzlich“ nach vielen Jahrzehnten erstmals von erlebter sexueller Gewalt in der Kindheit berichten, ist das für Außenstehende häufig schwer mit ihren Vorstellungen von „normalen Reaktionen“ vereinbar. Außenstehende neigen dazu, sich Traumareaktionen sehr dramatisch vorzustellen und entsprechend ausbleibende oder (sehr) verzögert auftretende Folgen erst einmal als „unmöglich“ abzuwehren. Die Abwehr dient Außenstehenden als Selbstschutz. Die Vorstellung von sexueller Gewalt gegen Kinder überfordert und so reagieren sie darauf mit Abwehr der Betroffenen und ihrer Erinnerungen. Selbstverständlich gilt dies umso mehr für Täterinnen und Täter und ihre Mitwisser/innen.

Vor kurzem veröffentlichte der stern einen Beitrag der Autorin Sylvie-Sophie Schindler, (Vom Gedächtnis schwer getäuscht, 01.08.11), in dem es wieder einmal um das ominöse Thema „False-Memory-Syndrome“ ging. Wieder einmal wird von der Autorin behauptet, es würde sich bei dem so genannten „False-Memory-Syndrome“ um eine wissenschaftlich belegte „Diagnose“ handeln.

Fakt ist dagegen, sie ist die Erfindung eines US-amerikanischen Elternpaars, das sich Beschuldigungen über sexuellen Missbrauch seitens ihrer erwachsenen Tochter gegenüber sahen. Dieses Elternpaar gründete eine Stiftung („False-Memory-Syndrome-Foundation“, FMSF), um das von ihnen selbst zu ihrer eigenen Verteidigung erfundene „Syndrom“ zukünftig als Instrument in einer Diffamierungskampagne gegen Betroffene, Therapeuten, Wissenschaftler und vor allem vor Gericht einzusetzen. Ihre Ziele sind: die Probleme der Verteidigung von Verdächtigen vor Gericht zu lösen und die Opfer zum Schweigen zu bringen.

„Das „False-Memory-Syndrome“ ist keineswegs ein wissenschaftlicher Begriff, wie der Terminus suggerieren könnte, sondern eine PR-Erfindung. Dabei handelt es sich um eine verzerrte, höchstgradig tendenziöse und polemische Darstellung gedächtnispsychologischer Befunde“, stellte etwa der Dipl.-Psych. Dr. Hans Ulrich Gresch 2002 klar (www.psy-knowhow.de/psychiatrie/teil2.htm). Seiner Ansicht nach ist es „relativ einfach, falsche Erinnerungen an Details eines realen Ereignisse einzupflanzen, besonders dann, wenn dieses Ereignis subjektiv nicht besonders bedeutsam war. Sehr schwierig aber ist es, falsche Erinnerungen an subjektiv bedeutsame Erinnerungen zu suggerieren, die gar nicht stattgefunden haben.“

Elizabeth Loftus, die in dem Artikel angeführte angebliche „Expertin“, zählt zu den prominentesten und aktivsten Vertreterinnen der „False-Memory-Syndrome“-Bewegung. Dies gilt ebenso für den im Artikel zitierten „Arbeitskreis Induzierte Erinnerungen“. Sieht so objektive Berichterstattung aus?

Offensichtlich ist dies nicht das erste Mal, dass Ihre Autorin Sylvie-Sophie Schindler durch Verquickung von Berichterstattung und PR unangenehm auffällt. Die Internet-Bloggerin Kathrin Zirkant entlarvte schon 2007 den unseriösen Journalismus von Sylvie-Sophie Schindler (http://www.wissenswerkstatt.net/2007/08/21/naivitaet-oder-gefaelligkeitsjournalismus-wie-eine-stern-journalistin-fuer-fragwuerdige-genchecks-die-werbetrommel-wirbt-werkstattnotiz-v/).

Journalistische Qualifikation, Objektivität, Unabhängigkeit dürfen also bei Frau Schindler zumindest in Frage gestellt werden. Wenn sie nun also erneut wissenschaftlich unhaltbare Aussagen, diesmal zum so genannten „False-Memory-Syndrome“, verbreitet, muss dem klar und eindeutig widersprochen werden! Mehr noch: Es muss auf die Gefahren hingewiesen werden, die solch unqualifizierter und interessengeleiteter „Journalismus“ auslöst.

Viele Betroffene, die sich bislang noch nicht getraut haben, ihr Schweigen zu brechen, aus Angst, man könnte ihnen nicht glauben oder ihnen „falsche Erinnerungen“ vorwerfen, werden nach so einer Veröffentlichung auch weiter schweigen. Damit wäre zwar das Ziel der FMSF erreicht (und der stern hätte dazu nicht unwesentlich beigetragen). Aber die Betroffenen selbst würden der Möglichkeit der Befreiung aus ihrer Isolation beraubt (siehe Kampagne der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten „Sprechen hilft“) und damit an der Aufarbeitung ihres Schicksals und evtl. Heilung gehindert.

Viel dramatischer allerdings sind die Auswirkungen solch tendenziöser Artikel aber für weniger stabile Betroffene: bei ihnen kann dadurch die Neigung zum Suizid verschärft werden. Denn was ist das unwissenschaftliche Gerede vom so genannten „False-Memory-Syndrome“ anderes als die Neuauflage des alten, allen Missbrauchsopfern sehr gut bekannten „Das bildest du dir doch nur ein!“? Solche Artikel können die Verzweiflung Betroffener über die gesellschaftliche Abwehr und Verleugnung des von ihnen Durchlittenen so steigern, dass der Suizid als einziger Ausweg erscheint.

Dazu noch einmal der Dipl.-Psych. Dr. Hans Ulrich Gresch: „Darum halte ich das Gerede von falschen Erinnerungen für überaus heimtückisch, vor allem gegenüber psychisch instabilen Menschen. So kann man Menschen fundamental verunsichern. Und wenn man erst einmal die Öffentlichkeit davon überzeugt hat, dass falsche Erinnerungen allgegenwärtig und alltäglich seien, dann kann man damit jeden erdenklichen Missbrauch betreiben und in Gerichtsverhandlungen Täter schützen.“

Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass sehr viel mehr Menschen als bislang offiziell zu Kenntnis genommen, sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt haben (laut Deutschem Ärzteblatt zirka 10 Millionen Menschen in Deutschland! Siehe: www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=87643).  Insofern stehen der Erfindung vom so genannten „False-Memory-Syndrome“ millionenfache tatsächliche Erinnerungen entgegen! Die bisherige gesellschaftliche Verdrängung der Thematik und der großen Zahl an Betroffenen hat einer Selbstverteidigungsgruppe wie der FMS-Bewegung überhaupt erst den Rahmen geboten, ein so genanntes „False-Memory-Syndrome“ zu kreieren.

Ihre Aufgabe als Journalist/innen ist es, das Thema sexueller Missbrauch wesentlich ernster zu nehmen und mit ordentlich recherchierten, wissenschaftlich belegten und fundierten Informationen der gesellschaftlichen Verdrängung und Uninformiertheit entgegenzutreten. Solange die Medien noch immer die Tatsachen unterschlagen und stattdessen PR für Lobbygruppen betreiben, werden Täter/innen weiter leichtes Spiel haben und betroffene Kinder sich weiterhin nicht trauen, über erlebte sexuelle Gewalt zu berichten.

Wir erwachsene Überlebende von sexueller Gewalt während unserer Kindheit fordern Sie auf, Ihrem journalistischen Auftrag endlich ernsthaft nachzukommen. Wir fordern eine entsprechende Richtigstellung in Ihrem Blatt sowie die Prüfung der journalistischen Qualifikation der Autorin, bzw. Ihrer Autor/innen.

Lilly Maier
maier.lilly@web.de


netzwerkB.org (Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt) ist eine unabhängige Interessenvertretung. Wir setzen uns für die Rechte Betroffener ein, indem wir das gesellschaftliche Schweigen brechen, über Ursachen und Auswirkungen sexualisierter Misshandlung informieren, beraten und uns für konkrete Veränderungen stark machen.

netzwerkB bittet darum an Betroffene die netzwerkB-Kontaktdaten weiterzugeben sowie die Kontakt-Email (info@netzwerkb.org) und Website (www.netzwerkB.org) zu veröffentlichen.

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